Wir leben in Europa

21.04.2015
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Wir alle, in Ost und West, hofften, dass nach den Zeiten des Kalten Krieges eine Friedensdividende eingebracht werden kann. Diese Friedensdividende steht immer noch aus und an ihrer statt hat sich wieder Kalter Krieg ausgebreitet. Damals war die Politik der friedlichen Koexistenz die neue Bewegungsform von einander gegenüberstehenden militärisch und weltpolitische ungefähr gleich starken Blöcken, der NATO und dem Warschauer Pakt. Der Warschauer Pakt ist verschwunden, die NATO ist heute stärker denn je. Es drängt sich die Frage auf: Wann verschwindet endlich die NATO?

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(Beitrag zur Eröffnung der Konferenz "In welchem Europa wollen wir leben? - 40 Jahre nach Helsinki" am 21. und 22. April 2015 in Moskau)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen,

die Schlussakte der Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki gehört zu den besten Ergebnissen europäischer und ganz sicher der deutsch-russischen Diplomatie. Helsinki war der Kontrapunkt zu 25 Jahren des Kalten Krieges, in denen die Welt mehrfach an den Rand der atomaren Vernichtung gebracht wurde. Diese schreckliche Gefahr und die Sorge um das Überleben der Menschheit hat zu Helsinki geführt. Und natürlich bedurfte es entsprechender Persönlichkeiten, die gewillt waren, aufeinander zuzugehen. Diese Politik wurde im Westen als Entspannungspolitik, im Osten als Politik der friedlichen Koexistenz bezeichnet. Friedliche Koexistenz meinte, die politischen und ideologischen Widersprüche zwischen Kapitalismus und Sozialismus bleiben bestehen, sie werden aber im friedlichen Wettstreit ausgetragen. Die Inhalte beider Begriffe waren nicht nur im jeweils anderen Lager, sondern auch im „eigenen“ tief umstritten. Zug um Zug wurde mit den Verträgen von Moskau und Warschau, mit der deutsch-tschechoslowakischen Aussöhnung, mit dem Grundlagenvertrag BRD-DDR die Strategie der Abschreckung, Blockspaltung und Androhung von Gewalt durch die Androhung von Frieden ersetzt.

Die Schlussakte von Helsinki trägt auch die Unterschriften von Helmut Schmidt und Erich Honecker, das möchte ich ausdrücklich noch einmal erwähnen und würdigen. Und zu den Mitbegründern dieser neuen Sicherheitsstruktur gehören unbedingt Egon Bahr und Valentin Falin. Ich will aber auch an den damaligen polnischen Außenminister Adam Rapacki erinnern; mit ihm verbindet sich das Konzept einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, für das in vielen europäischen Ländern viele hunderttausend Menschen auf die Straße gegangen sind. Dazu ermuntert haben sie Persönlichkeiten wie Romesh Chandra, Präsident des Weltfriedensrates, und in Deutschland Petra Kelly und General a.D. Gerd Bastian.

Wir alle, in Ost und West, hofften, dass nach den Zeiten des Kalten Krieges eine Friedensdividende eingebracht werden kann. Diese Friedensdividende steht immer noch aus und an ihrer statt hat sich wieder Kalter Krieg ausgebreitet. Damals war die Politik der friedlichen Koexistenz die neue Bewegungsform von einander gegenüberstehenden militärisch und weltpolitische ungefähr gleich starken Blöcken, der NATO und dem Warschauer Pakt. Der Warschauer Pakt ist verschwunden, die NATO ist heute stärker denn je. Es drängt sich die Frage auf: Wann verschwindet endlich die NATO?

Europa ist erneut tief gespalten, politisch, sozial, kulturell und militärisch. Europa ist erneut gespalten in Ost und West und weiter gespalten in oben und unten. Immer mehr ist, wenn von Europa gesprochen wird, allein die Europäische Union gemeint, in der Deutschland zu einer sehr starken Macht geworden ist. Von einem Land, das Europa und die Welt mit zwei großen Kriegen überzogen hat, das die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden und 27 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion verursacht hat, könnte man Einsicht und Zurückhaltung erwarten. Stattdessen dominiert der deutsche Zeigefinger, vor allem gegenüber Russland und aktuell auch gegenüber Griechenland.

Aus meiner Sicht sind die EU-Sanktionen gegen Russland, die auch von Deutschland vorangetrieben worden sind, eine Form von Ausübung, zumindest von Androhung von Gewalt – erinnert sei an die Auffassung vom weltweiten „Terror der Ökonomie“. Derartige Ge-waltverhältnisse sind mit dem Geist von Helsinki nicht vereinbar. Wer sich, wie die Bundesregierung, im Zusammenhang mit der Entwicklung auf der Krim auf Helsinki beruft, muss seinerseits den Bruch von Helsinki beenden.

Die Schlussakte von Helsinki ist noch nicht eingelöst; sie einzulösen bleibt Auftrag und Forderung auch an alle unterzeichnenden Mächte. Ich nenne hier die USA und Russland, aber ebenso Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Gewaltverzicht und Abrüstung, Staatssouveränität und Nichteinmischung, Unverletzlichkeit der Grenzen, Gebietsveränderungen nur durch Verhandlungen müssen die Beziehungen in Europa bestimmen. Das ist auch das Fundament der Pariser Charta der OSZE und der Charta der Vereinten Nationen. Deutschland wird 2016 den Vorsitz der OSZE übernehmen, deswegen ist von Deutschland zu verlangen für die Stärkung der OSZE und der Pariser Charta einzutreten und sie nicht weiter zu unterlaufen.

Über eine neue Friedensordnung in Europa sollte auf einer weiteren Helsinki-Konferenz, Helsinki II, gesprochen werden, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Ukraine-Krise. Für die Schussakte von Helsinki I hatten sich viele Staaten eingesetzt, nicht nur die sozialistischen. Heutige Friedenspolitik braucht das gemeinsame Handeln über soziale, über staatliche und nicht-staatliche Grenzen hinaus. Für Helsinki II ist zu berücksichtigen: Der politische und militärische Zusammenhang des Warschauer Pakts ist verschwunden. In seinem Rahmen hatten die einzelnen Staaten Mittel- und Osteuropas in Helsinki eine starke Position. Dieser Part fehlt für Helsinki II. Trotzdem macht es keinen Sinn, der Existenz des Warschauer Vertrages nachzutrauern. Nachdenken hingegen muss man heute nicht nur über Staatssouveränität, sondern über Volkssouveränität: Wie können Bevölkerungen in Ost und West zu Faktoren in der Großen Politik werden. Es bedarf also nicht nur einer staatlichen Konferenz Helsinki II, sondern ebenso dringend einem nicht-staatlichen zivilgesellschaftlichen Aufbruch in Richtung Helsinki II, vielleicht sogar einer Weltfriedenskonferenz.

Friedenspolitik heute baut auf vier Säulen: Die Stärke des internationalen Rechts, globale Gerechtigkeit, Abrüstung weltweit wie national, auch einseitiger Abrüstung, und auf Demokratisierung. Insofern macht diese Friedenspolitik heute nicht nur Staaten, sondern Menschen zu Subjekten der internationalen Politik.


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es stellt sich zurecht die Frage, ob der Vorschlag einer neuen Helsinki-Konferenz angesichts der Realität in Europa überhaupt eine Chance hat und sinnvoll ist. Mir geht es nicht um eine propagandistische Veranstaltung, sondern um einen humanitären Realismus. Erinnern Sie sich bitte: 1961, 14 Jahre vor Helsinki, gab es die Kuba-Krise und in Berlin den Bau der Mauern; 1968 den Einmarsch in die CSSR und fortdauernd schreckliche Stellvertreterkriege in vielen Teilen der Welt. Die realistische Antwort darauf war auch Dialog, Verhandlungen und das Nachdenken über Abrüstung - obwohl parallel dazu aufgerüstet wurde, neue Waffensysteme in Ost und West entwickelt, gebaut und stationiert wurden. Nach Alternativen dazu haben immer wieder mutige Männer und Frauen, auch in hohen staatlichen Funktionen, gesucht. Sie waren aggressivsten Angriffen von Teilen der politischen Klasse und von Medien ausgesetzt, die die alten Zustände behalten wollten. In deren Diktion wurde Russland zum „Reich des Bösen“ und Entspannungspolitiker wie Willy Brandt zu „Vaterlandsverrätern“. Diese aggressive Tonlage lebt jetzt wieder auf, sogar gleichförmiger als damals. In Deutschland gibt es nicht nur Russlandversteher, es gibt auch Russlandhasser.

Wir haben es heute mit einem kriegerischen Frieden zu tun, wie Egon Bahr den Zustand genannt hat. Andere sprechen davon – und auch sie haben Recht -, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Beides zwingt förmlich dazu, statt Dialogverbot Dialogvermehrung auf die Tagesordnung zu setzen. Ohne Russland ist der Massenmord in Syrien und der Zerfall des Nahen und Mittleren Ostens nicht zu beenden und nicht einmal die Bundeswehrsoldaten könnten ohne Russlands Hilfe aus Afghanistan abgezogen werden. Deutschland und Russland hätten genügend gemeinsame Aufgaben zu lösen. Stattdessen ist die NATO an die russische Westgrenze gerückt, die Ukraine, Georgien und Moldawien wollen Mitglied der NATO werden und sie werden dazu ermuntert. Zwischen der EU und diesen drei Ländern wird ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen, das auch eine militärische Zusammenarbeit beinhaltet. Die USA liefern in die Ukraine Waffen und unterlaufen in vielfacher Form das Abkommen Minsk II, damit verfolgen sie ihre eigenen Interessen. Ich will an dieser Stelle sagen, mir geht es nicht darum, die USA aus Europa zu verdrängen. Das Grundprinzip von Helsinki war, die USA einzubinden. Das setzt aber Souveränität der eu-ropäischen Staaten und der EU gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika voraus. An dieser Souveränität mangelt es. Die Bundesregierung beispielsweise ist nicht einmal bereit, Edward Snowden Asyl in Deutschland zu gewähren. Sobald die US-Administration mit Konsequenzen droht, knicken gemeinhin westeuropäische Regierungen ein.

Gerade im 70. Jahr der Befreiung Europas vom Faschismus fordere ich von der deutschen Regierung: Macht uns die Russen nicht zu Feinden! Und mir ist die Frage von Jewgenij Jewtuschenko nah: Glaubst Du, die Russen wollen Krieg? Nein, Russland, die Russinnen und Russen wollen keinen Krieg. Die Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht. Das ist die Grundlage für eine neue europäische Entspannungspolitik, für eine neue deutsche Ostpolitik und eine engagierte Westpolitik Russlands.