Lenins Imperialismus-Schrift neu gelesen

12.10.2015
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Dr. Volker Külow

100 Jahre Zimmerwald - Volker Külow: Lenins Imperialismusschrift neu gelesen (RegenbogenTV)

 

Sein 1986 in deutscher Sprache erschienenes und bis heute anregendes Buch „Der Marxismus-Leninismus. Elemente einer Kritik“ beginnt der französische Philosoph Georges Labica im ersten Kapitel mit folgender Feststellung: „Der Marxismus-Leninismus ist zunächst der Korpus einer Lehre.“ In den folgenden 12 Kapiteln analysiert er dann die Entstehung, besser gesagt die gezielte Konstruktion dieser zum staatlichen Doktringebäude erstarrten Ideologie.


Die Grundsteinlegung für die Schaffung des Leninismus beginnt schon im Frühjahr 1923 auf dem 12. Parteitag der KP; der wegen Krankheit abwesende, aber noch lebende Lenin, wird bereits wie ein Heiliger verehrt. Der Begriff selbst ist wenige Monate danach schon allseits gebräuchlich. Im Kampf der Diadochen setzt sich nach Lenins Tod am 21. Januar 1924 bekanntlich Stalin durch, der frühzeitig mit seinen Vorlesungen an der Swerdlow-Universität über die Grundlagen des Leninismus, abgedruckt in der Prawda im April/Mai 1924, zum wichtigsten Verkünder der neuen Lehre avanciert. Stalin wird in kurzer Zeit zu ihrem Garanten und einzigen autorisierten Sprecher – sowohl in der Sowjetunion als in der kommunistischen Weltbewegung. Die beiden Schlüsselsätze Stalins lauten: „Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer: Der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, der Theorie und Praxis der Diktatur des Proletariats im besonderen.“
Labica stellt fest, dass sich der marxistisch-leninistische Korpus auf einer durchgehenden Achse, den Werken von Marx, Engels, Lenin und Stalin als „ein geschlossenes Ganzes“ konstituierte, wobei sich Stalin hinter Lenin bezüglich der Namensgebung unsichtbar machte. Labica sagt mit Dumas: der wichtigste von den Drei Musketieren ist der vierte.
Schaut man sich Stalins Argumentation genauer an, wird klar, dass Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ im neuen Höherentwicklungsdogma eine Schlüsselstellung einnimmt. Gleich einem Katechismus werden von ihm zahlreiche Thesen Lenins aneinander gereiht und kanonisiert. Das Werk wird quasi in den neu geschaffenen ML „eingesperrt“. Weiterentwicklungen oder die Kritik einzelner Thesen werden ab Mitte der 20er Jahre immer schwieriger, alsbald nahezu unmöglich. Neue

Theorieansätze wie beispielsweise von Kondratieff mit seinen langen Wellen im Jahr 1926 sind per se verdächtig. Der „Imperialismus“ erscheint zunehmend als ein unerreichter Monolith, als einzig mögliche Fortsetzung von Marx „Kapital“, völlig abgekoppelt vom zeitgenössischen marxistischen Imperialismusdiskurs in der II. Internationale. Nicht nur eine gezielte theoriegeschichtliche Spurenverwischung im großen Stil ist für diese Darstellung zwingend erforderlich. Auch die Ende der 20er Jahre erfolgte Titeländerung - ursprünglich hieß das Werk bekanntlich „Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus“ - gehört dazu. Im Jahr 1932 wird der vorläufige Höhepunkt der schon fast kultischen Vergötzung der Schrift - die gleichsam wie ihr Erzeuger einbalsamiert wird - durch Anatoli Lunatscharski erreicht. Der „Kurze Lehrgang“ von 1938 wirft seinen Schatten unheilvoll voraus, wenn er schreibt: „Die Leninsche Theorie des Imperialismus gestattet es, sich unfehlbar in allen wichtigen Erscheinungen des politischen Lebens im kapitalistischen Westen zu orientieren. Die fünfzehn Jahre, die seit der Niederschrift […] verflossen sind, haben die Richtigkeit seiner Prognose mit aller Kraft bestätigt und das Bild der Fäulnis der imperialistischen Wirtschaft umfassend entwickelt.“


Angesichts dieses Ballasts hat es Lenins Werk 100 Jahre nach seiner Entstehung wie kaum ein zweiter seiner Texte verdient, von langjähriger Kanonisierung und Dogmatisierung „befreit“ und neu gelesen zu werden. Der letzteren Herausforderung muss sich naturgemäß jeder Leser und jede Leserin zunächst persönlich stellen. Eine unverzichtbare Hilfestellung für eine zeitgemäße Rezeption der Schrift sind aber neue editionswissenschaftliche Rahmenbedingungen. Wladislaw Hedeler und ich möchten gemeinsam mit dem Verlag 8. Mai in einer modernen Neuausgabe des Textes im nächsten Frühjahr dafür einen entsprechenden Beitrag leisten. Die folgenden Bemerkungen verstehen sich als ein Kurzbericht aus unserer Editionswerkstatt und erzeugen bei Euch hoffentlich auch etwas Neugier auf das geplante Buch.


Aufgrund des knappen Zeitbudgets kann ich nur zu zwei ausgewählten Aspekten jeweils einige Bemerkungen machen. 1. zur marxistischen Imperialismusdebatte in der II. Internationale und 2. zu Lenins Materialstudium in Gestalt seiner 21 „Hefte zum Imperialismus“. Beide Themenkreise zielen darauf ab, die bisherige theoriegeschichtliche Einordnung von Lenins Schrift und deren Entstehungsbedingungen in nicht unerheblicher Weise zu differenzieren und zu vertiefen.

Zu 1.
Lenin ist mit seiner Arbeit von 1916 der letzte führende Revolutionär in der internationalen Arbeiterbewegung, der sich mit dem Imperialismus beschäftigt. Spätestens ab Ende der 1890er Jahre gab es in der II. Internationale eine lebhafte Theoriedebatte zu zentralen zeitgenössischen Phänomenen wie chronische Überproduktion, wachsende Rüstungspolitik, koloniale Expansion usw. Zu den Autorinnen und Autoren, die kritisch-analytische Beiträge zur „Weltpolitik“ und zum Weltmarkt - der Begriff Imperialismus war um 1900 noch nicht Allgemeingut - vorlegten, zählten u.a. Max Beer, Heinrich Cunow, Alexander Helphand (Parvus), Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski-Karski und Franz Mehring; später stießen Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Karl Radek u.a. andere dazu. Diese Wortmeldungen beschränkten sich keinesfalls nur auf deutsche Verfasser, wenngleich das Gros der Imperialismustheorien vor 1914 in der deutschen Sozialdemokratie entstand, weil die SPD die weitgehend unangefochtene theoretische Vormachtstellung innerhalb der II. Internationale inne hatte. Zu den internationalen Stimmen in der Imperialismusdebatte schon vor 1900 zählten beispielsweise in Großbritannien Ernest Belfort Bax, Keir Hardie und William Morris sowie in Frankreich Paul Louis. Diese Imperialismusdiskussion in der II. Internationale währte bis in die ersten Jahre des Ersten Weltkrieges und führten zur Herausbildung wesentlicher Elemente klassischer marxistischer Imperialismustheorien. Der Mainzer Parteitag der SPD 1900 war dabei ein erster Höhepunkt. Am weitesten in der Debatte ging seinerzeit Georg Ledebour, als er konstatierte, dass „wir es mit welthistorischen Erscheinungen im letzten Stadium des Kapitalismus zu thun haben“.
Im Jahr 1912 verabschiedete der Chemnitzer Parteitag der SPD explizit anknüpfend an Mainz unter der Überschrift „Der Imperialismus“ nahezu einstimmig eine Resolution. Der kurze Text benannte fast alle wesentlichen Merkmale des Imperialismus und forderte angesichts der „Gefahr eines verheerenden Weltkrieges“ die Mitgliedschaft unmissverständlich auf, „mit verstärkter Wucht den gewalttätigen Imperialismus zu bekämpfen, bis er niedergerungen ist“. Die Resolution endete mit der Feststellung: „Ist es doch die Aufgabe des Proletariats, den auf die höchste Stufenleiter gebrachten Kapitalismus in die sozialistische Gesellschaft zu überführen und so den Frieden, die Selbständigkeit und die Freiheit der Völker dauernd zu sichern.“


Als Lenin im Herbst 1914 unmittelbar mit seinen Imperialismusstudien begann und das erste seiner insgesamt 21 „Hefte zum Imperialismus“ anlegte, konnte er an diese rund 15jährige Debatte in der II. Internationale nahtlos anknüpfen, die im Basler Manifest vom Herbst 1912

einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte. Während viele Marxisten von ihren einstigen Erkenntnissen abschwörten, bewahrte Lenin den enormen Erkenntnisreichtum der bis dahin geführten Imperialismusdebatte; insofern ist seine Schrift von 1916 auch eine geniale Kompilation und damit im weiteren Sinne eine Kollektivleistung des zeitgenössischen Marxismus. Sie ist es auch im engeren Sinne, denn parallel und teilweise sogar schon vor Lenin begannen sich unter den verschärften Bedingungen des Ersten Weltkrieges u.a. Bucharin und Sinowjew mit dem Imperialismus intensiver zu beschäftigen. Beiden Revolutionären verdankte Lenin für seine Imperialismusstudien eine Vielzahl von inhaltlichen Anregungen, bibliografischen Hinweisen und konkreten Unterstützungsleistungen wie z.B. Buchbesorgungen. Weitere externe Anstöße erhielt Lenin beispielsweise vom niederländischen Rätekommunisten Herman Gorter.


Zu Lenins zentralen Quellen für seine stark von den zaristischen Zensurbestimmungen und den Anforderungen des Verlages geprägten Schrift gehörte nicht nur der plurale marxistische Diskussionsstrang in der internationalen Arbeiterbewegung. Fast noch wichtiger waren für ihn bürgerliche Autoren. In seinem Anfang Juli 1920 verfassten Vorwort zur deutschen und französischen Ausgabe betonte Lenin deshalb ganz dezidiert nochmals die Hautaufgabe des Buches, nämlich „an Hand von zusammenfassenden Daten unbestrittener bürgerlicher Statistiken und von Zeugnissen bürgerlicher Gelehrter aller Länder zu zeigen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkriegs, das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen war.“
Lenins Schrift ist damit zunächst eine ökonomische Arbeit. Von seinen diesbezüglichen Quellen ist fast nur John Hobson mit seinem „Imperialismus“ von 1902 bis heute bekannt geblieben. Dieses Werk wurde übrigens nicht nur von Hilferding und Luxemburg konsequent ignoriert, obwohl es den parasitären Charakter des Imperialismus begründete. Der vertiefte Blick in Lenins umfangreiche Materialsammlung zum Imperialismus, seine zwischen Herbst 1914 bis Februar 1917 angelegten 21 „Hefte zum Imperialismus“, offenbaren eine Vielzahl erstaunlicher theoriegeschichtlicher Entdeckungen; vorausgesetzt, man zieht zugleich Hilferdings 1910 erschienenes, aber bereits 1906 weitgehend fertig gestelltes Buch „Das Finanzkapital“ und Bucharins 1915 veröffentlichten Aufsatz „Weltwirtschaft und Imperialismus“ hinzu, den Lenin für den Druck in der Zeitschrift „Kommunist“ vorher redaktionell stark bearbeitet hatte.

Das wichtigste Hilfsmittel zur Entdeckung derartiger, bislang zumeist verdeckter theoriegeschichtlicher Zusammenhänge sowie zur Bewältigung weiterer editionswissenschaftlicher Herausforderungen ist das von uns erstmals erarbeitete Gesamtverzeichnis der von Lenin im „Imperialismus“ und den „Heften zum Imperialismus“ zitierten, exzerpierten bzw. bibliografisch erfassten Quellen und Literatur. Nur auf diesem Wege lässt sich zumindest partiell die innere Logik von Lenins Forschungsprozess rekonstruieren, der zweifellos enzyklopädischen Charakter trug, auf die Totalität der ökonomischen, politischen und geistig-ideologischen Aspekte des Imperialismus und damit auf weit mehr als die Erarbeitung einiger Artikel bzw. einer einzelnen Broschüre ausgerichtet war, in der es erklärtermaßen um das ökonomische Wesen des Imperialismus ging.
Lenin exzerpierte viele Autoren, die bereits von Hilferding und Bucharin verarbeitet worden waren. Hilferding stützte sich beispielsweise auf mehr als ein halbes dutzend führender deutscher Nationalökonomen und Bankfachleute (u.a. Hans Gideon Heymann, Otto Jeidels, Hermann Levy, Robert Liefmann, Jacob Riesser, Gerhard von Schulze-Gaevernitz, August Sartorius von Waltershausen), die später auch Lenin ausführlich studierte und im „Imperialismus“ zitierte. Noch stärker profitierte Lenin von der Lektüre Bucharins. Während der redaktionellen Bearbeitung von dessen Artikel „Weltwirtschaft und Imperialismus“ übernahm Lenin immerhin 24 der 72 von Bucharin ausgewerteten Bücher in seine eigene Imperialismusstudie. Zu den von ihm später zitierten Quellen zählten neben berühmten Autoren wie Hilferding, Karl Kautsky und Werner Sombart viele heute kaum noch bekannte, seinerzeit aber ausgewiesene Verfasser wie beispielsweise Bernhard Harms, Fritz Kestner, Siegmund Schilder und Siegfried Tschierschky, die in der Theoriegeschichte ihres jeweiligen Fachgebietes bis in die Gegenwart einen anerkannten Platz innehaben.
Ich habe meinen Beitrag mit einem Philosophen aus Paris begonnen und möchte ihn mit einem Philosophen aus Klein-Paris - ich bitte um Nachsicht für diese Prise Leipziger Lokalpatriotismus – beenden. Siebe Jahre nach Labicas Buch erschien in der die ZEIT im Jahr 1993 die Serie „Denker des 20. Jahrhunderts“. In dieser Artikelreihe veröffentlichte Christoph Türcke eine bemerkenswerte Hommage auf Lenins Imperialismusanalyse. Sein Text, der heute noch aktueller wirkt als vor 22 Jahren, endete mit folgenden Gedanken: Lenins Imperialismusschrift ist aller Erinnerung wert. Sie redet Tacheles, wo inzwischen der Mantel weltweiter Sprachregelungen wallt. Sie gibt einen Grundbegriff dessen, was man heute „unsere Weltwirtschaftsordnung“ nennt, ein Gradmesser für alles, was sich seither am

Imperialismus verändert hat, einen Eindruck von der Härte und Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen der Sozialismus um die Jahrhundertwende den Kampf aufnahm – und eine Ahnung davon, dass die russische Revolution nicht, wie Marx meinte, die „Lokomotiven der Geschichte“ sein würden, sondern wie Walter Benjamin formulierte, ein „Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“.