Die EU stiftet Unfrieden – politisch, militärisch, wirtschaftlich: Ist das reformierbar?

15.10.2015
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Andreas Wehr

Beitrag von Andreas Wehr in der AG 5 zum Thema Die EU stiftet Unfrieden – politisch, militärisch, wirtschaftlich: Ist das reformierbar?  mit Tobias Pflüger, Peter Wahl, Andreas Wehr;Moderation: Christiane Reymann

Ich möchte mit einem Zitat beginnen. Es handelt sich um einen Auszug aus der Rede des ehem. Französischen Ministerpräsidenten Pierre Mendés-France in der französischen Nationalversammlung aus Anlass der Ratifizierung der Römischen Verträge vom 18. Januar 1957. Er sagte damals:

„Um schließlich zum Kern zu kommen, das Projekt des Gemeinsamen Marktes, so wie es uns vorgestellt wird, oder wenigstens, so wie man es uns wissen lässt, ist auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gegründet, nachdem die Konkurrenz ohne Wenn und Aber alle Probleme löst.“

Damit ist eigentlich schon alles über die Europäische Union gesagt.

Pierre Mendés-France war keineswegs Marxist. Er gehörte den Radikalsozialisten an. Dies war eine französische Partei, die – trotz ihres entschlossenen Namens – als sozialliberal eingeschätzt wird. Sie ist in den 70er Jahren zerfallen. Pierre Mendés-France galt als einer der ersten französischen Keynesianisten. Er leitete die französische Delegation bei den Verhandlungen in Bretton Woods 1944.

Er wusste daher sehr genau, gegen wen sich die Römischen Verträge richteten. Sie zielten auf die Arbeiterklassen der Mitgliedsstaaten. Genauer gesagt: Gegen ihre Siege und gegen ihre Geländegewinne, die sie am Ausgang des 2. Weltkriegs in den antifaschistischen Kämpfen gegen das Europaprojekt des deutschen Kapitals errungen hatten.

Bevor ich auf die mir gestellte Frage „Ist das reformierbar?“ eine Antwort gebe, möchte ich kurz über das „das“ reden. Also: Was ist die EU?

Ich kann mich hier nur auf wenige Dinge beschränken, denn über die EU kann man natürlich unendlich lange reden.

Die EU, das ist ein Vertragswerk von Staaten, gegenwärtig beseht sie 28. Sie können in sie eintreten, und sie können auch wieder aus ihr austreten. Das Vertragswerk besteht aus zwei Texten: Dem „Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag)“ und dem „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV).

Der EU-Vertrag wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht geschaffen. Er ist ein relativ kurzer Text, in dem die Institutionen der EU und die wichtigsten Inhalte ihrer Politik beschrieben sind.

Wichtiger, umfangreicher und detaillierter ist der AEUV. Er bestimmt die Politik der EU. Es handelt sich hier um den ursprünglichen Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, beschlossen in Rom 1957. Dieser Vertrag wurde mehrfach geändert und dabei auch mehr als einmal umbenannt. Aber es handelt sich beim AEUV eben in seinem Kern weiterhin um jenen Vertrag über den Mendés-France bereits 1957 sprach als er ihn „auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gegründet“ bezeichnete.

Und im Sinne des „klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts“ beruht das Vertragswerk auf dem „Binnenmarkt“ (erst Gemeinsamer Markt genannt), der als „Raum ohne Binnengrenzen“ definiert ist. In diesem „Raum ohne Binnengrenzen“ wird „der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital“ gewährleistet. Es gilt also: „No Border – No Nation“, der Schlachtruf des Liberalismus bzw. des heutigen Neoliberalismus.

Hier als Beispiel, welche und wessen Freiheit damit gemeint ist, die Bestimmungen des freien Kapitalverkehrs. Artikel 63 AEUV lautet: „Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten“. Auf dieser Grundlage kann natürlich kein EU-Mitgliedsland eine nachhaltige soziale Politik etwa mit Hilfe der Steuerpolitik oder Konjunkturprogrammen betreiben oder gar eine Entwicklung in Richtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung einschlagen. Das auch nur ein wenig stärker belastete Kapital würde sofort über die Landesgrenzen fliehen.

Der von der Union garantierte „freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital“ wird auch als die „vier Grundfreiheiten“ der EU bezeichnet. Diese „vier Grundfreiheiten“ gelten als die eigentliche Verfassung der EU (daher auch Kritik am Verfassungsprozess nach 2001). Um diese „Grundfreiheiten“ ist die ganze EU herum aufgebaut. Jede ihrer Politikbereiche gehorcht ihren Prinzipien. Ohne diese „Grundfreiheiten“ ist sie nichts.

Es ist daher eine merkwürdige Vorstellung, die EU zu einer „sozialen, demokratischen, ökologischen“ (und gelegentlichen auch feministischen) Union weiterentwickeln bzw. reformieren zu wollen, ohne sie zugleich aufzuheben. Überhaupt ist es nicht vorstellbar, auf der Basis von 28 kapitalistischen und darunter sogar einigen imperialistischen Ländern eine soziale und demokratische Union quasi als Überbau über unsozialen und undemokratischen kapitalistischen Nationalstaaten errichten zu können.   

Übrigens benötigt man für jede Vertragsänderung die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedslandes. Allein aufgrund dieser Tatsache kann die Frage nach der „Reformierbarkeit der EU“ in einem fortschrittlichen Sinne bereits als beantwortet angesehen werden. Man kann sie nicht reformieren. Man kann sie nur als Ergebnis grundlegender sozialistischer Veränderungen in den wichtigsten Mitgliedsländern obsolet werden lassen. Anschließend können dann diese Staaten eine neue europäische Zusammenarbeit aufbauen (einige Bruchstücke, etwa Agenturen, könnten dabei Wiederverwendung finden).

Doch das liegt in der Zukunft, wahrscheinlich sogar in einer fernen Zukunft. Bis dahin kann man immerhin aus der EU austreten. Dieses Recht besteht nach Art. 50 EUV.