Abwesend und doch dabei – Liebknecht, Luxemburg, Gramsci

Konferenz "Die Linke und die Friedensfrage - 100 Jahre Zimmerwald"
21.10.2015
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Sabine Kebir

100 Jahre Zimmerwald - Sabine Kebir: Abwesend und doch dabei - Liebknecht, Luxemburg, Gramsci (RegenbogenTV)

 

Da der unbeirrbare Kriegsgegner Karl Liebknecht am Krieg teilnehmen musste, konnte er nicht an der Konferenz in Zimmerwald teilnehmen. Seine Briefbotschaft zeigt, dass er die Leninsche Position unterstützte: der Krieg zwischen Nationen sollte in einen Krieg gegen die kapitalistische Ordnung umgewandelt werden. Daher rührt auch die bei revolutionären Sozialisten damals nicht unübliche martialisch-militärische Ausdrucksweise:  

„Abrechnung, unerbittliche Abrechnung mit den Fahnenflüchtigen und Überläufern der Internationale in Deutschland, England, Frankreich und anderwärts.“ 

Gegenseitige Verständigung, Ermutigung, Anfeuerung der Fahnentreuen, die entschlossen sind, keinen Fussbreit vor dem internationalen Imperialismus zu weichen, mögen sie auch als Opfer fallen. Und Ordnung in den Reihen dieser zu schaffen, die auszuharren entschlossen sind; auszuharren und zu kämpfen, den Fuss fest am Male des internationalen Sozialismus.

Burgkrieg, nicht Burgfrieden!

Internationale Solidarität des Proletariats über, gegen pseudonationale, pseudopatriotische Klassenharmonie. Internationaler Klassenkampf über Staatenkrieg, gegen Staatenkrieg. Internationaler Klassenkampf für den Frieden, für die sozialistische Revolution.

…..

Die Freunde jedes Landes haben die Hoffnungen und Aussichten der Freunde jedes Landes mit in der Hand. Ihr französischen und ihr deutschen Sozialisten vor allem seid einander Schicksal. Ihr französischen Freunde, ich beschwöre Euch, lasst Euch nicht von der Phrase der nationalen Einmütigkeit, – dagegen seid Ihr gefeit! – aber auch nicht von der ebenso gefährlichen der Partei-Einmütigkeit fangen. Jeder Protest dagegen, jede Kundgebung Eurer Ablehnung der regierungsoffiziösen Politik, jedes kühne Bekenntnis zum Klassenkampf, zur Solidarität mit uns, zum proletarischen Friedenswillen, stärkt unsern Kampfgeist, verzehnfacht unsere Kraft, im gleichen Sinne in Deutschland zu wirken für das Proletariat der Welt, für seine ökonomische und politische Befreiung, für seine Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus, […] gegen die Macht und Ländergier der deutschen Imperialisten, für einen baldigen Frieden ohne Eroberung und Vergewaltigung, für einen Frieden, der auch das unglückselige Belgien, die Nische der Länder, frei und unabhängig wieder herstellt und Frankreich dem französischen Volke zurückgibt.“

An Liebknechts Brief beeindruckt nicht nur dessen perspektivische Unbeirrbarkeit. Gerade aus heutiger Sicht fällt auch der internationalistische Geist ins Auge, den die Restbestände der II. Internationale aufbrachten und sich – wenigstens um das Kriegsende zu beschleunigen – trafen und Beschlüsse fassten. Mir fällt auf, dass wir auf unserer heutigen Konferenz keinen einzigen ausländischen Gast begrüßen können, obwohl die Konferenz legal und das Reisen viel einfacher geworden ist. Ein Manifest, das mehrere europäische sozialistische Gruppierungen unterschreiben könnten, wäre womöglich wesentlich schwerer zu verabschieden, da die Militäraktionen z. B. Frankreichs in afrikanischen Ländern von Sozialisten mit derselben Selbstverständlichkeit durchgeführt werden wie von den Rechten. Und selbst französische Linke halten sich mit Aktionen gegen diese Einsätze sehr zurück. Erinnert sei daran, dass der KPF erst im fünften Jahr nach Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskampfes begann, französische Deserteure zu unterstützen.   

Doch zurück zu Zimmerwald. Aus Rosa Luxemburgs bereits publizierter Junius-Broschüre geht hervor, dass sie die Ansichten Liebknechts und Lenins zum Krieg teilte. Auch sie konnte nicht teilnehmen, weil sie im Gefängnis war, wo sie keine Möglichkeit hatte, sich über Verlauf und Ergebnis der Konferenz zu informieren. In einem Brief an Clara Zetkin bezeichnete sie sie als „zerquetschte Fehlgeburt“, weil sie „unter der Ägide des großen Ledebour“ gestanden hätte, der in ihren Augen ein gefährlicher Revisionist war. An Leo Jogiches schrieb sie, sie halte die Konferenz „für einen katastrophalen Fehler, der die weitere Entwicklung der Opposition und der Internationale von vornherein auf eine falsches Geleise geschoben hat“. Ganz offensichtlich wusste sie nichts über die Dynamik, die sich in Zimmerwald entfaltet hatte. Auch Lenin hatte befürchtet, dass die Rechten in der Sozialdemokratie (Kautsky, Bernstein) mit der Konferenz nur auf die Kriegsmüdigkeit der Massen reagieren wollten, um sie von der revolutionären Aktion abzuhalten. Rosa Luxemburg wusste nicht, dass es ihm gelungen war, die revolutionäre Perspektive in das Manifest einzuschreiben.

Von Seiten der italienischen Sozialisten hatten Oddino Morgari und Angelica Balabanoff im Juli 1915 Kontakt mit russischen Revolutionären in Bern und waren in die Vorbereitung der Konferenz eingebunden. Italien war erst seit Mai 1915 Kriegsteilnehmer auf der Seite der Entente. Die Bevölkerung war keineswegs kriegsbegeistert, weshalb die Sozialisten den Krieg auch baldmöglichst beendet sehen wollten. Auch Giacinto Serrati, der damals Direktor des Avanti war, – der Tageszeitschrift der Sozialisten – konnte trotz der herrschenden Zensur das Zimmerwalder Manifest drucken, das den Krieg als einen imperialistischen bezeichnete und die sozialistischen Parteien kritisierte, die wegen des Krieges den Klassenkampf suspendiert hatten. Es rief zu Massenaktionen gegen den Krieg auf, der ohne Annexionen und Reparationen beendet werden sollte.

Antonio Gramsci war 1915 politisch noch zu unbedeutend, um an der Zimmerwalder Konferenz teilzunehmen. Sie bekam jedoch eine große Bedeutung für die Entwicklung seiner Haltungen. Es lohnt sich zunächst ein Rückgriff auf seine Position von 1914, als Italien vor der Entscheidung stand, an der Seite der damals noch verbündeten Mittelmächte in den Krieg einzutreten. Der junge Journalist Gramsci wollte der von Filippo Turati für die Sozialisten ausgegebenen Richtschnur, „Den Krieg nicht unterstützen und nicht sabotieren“, etwas entgegensetzen. Gramsci teilte nicht die auch unter italienischen Sozialisten verbreitete Auffassung, dass die Volksmassen im kindlichen Status verblieben und noch nicht fähig seien, eine starke „organizzazione spirituale“ gegen den Krieg zustande zu bringen. „Spirituale“ steht bei ihm hier für „bewusst“, wobei der Schwerpunkt der Wortkombination auf „Organisation“ liegt.

Gegen Turatis Formel, die auf absolute Neutralität zielte, trat der damalige Direktor des Avanti, Benito Mussolini am 24. Oktober 1914 mit nebelhaften Formulierungen für „relative und operative Neutralität“ auf, womit er bei vielen Sozialisten harsche Kritik erntete. Der junge Journalist Gramsci stellte sich am 31. Oktober 1914 jedoch hinter Mussolini und gegen die Position der Reformisten, die wollten, dass das Proletariat unparteiischer Zuschauer der Ereignisse bliebe und den Krieg nicht zur „Plattform für den Klassenkampf“ umfunktioniere. Der Direktor des Avanti habe den Krieg nicht als Angelegenheit dargestellt, die gleichermaßen im Interesse aller Klassen läge, sondern deutlich als Sache des Bürgertums. Er habe nicht zur Klassenverbrüderung aufgerufen, sondern offen gelassen, ob das Proletariat, sobald es ein höheres Bewusstsein erlangt habe, nicht doch die „Maschinerie sabotieren würde“. Mussolini hätte die objektiv antagonistisch zum Kapitalismus stehende Position des Proletariats nicht preisgegeben, sondern die Perspektive eröffnet, dass es aus dem Handeln der Bourgeoisie lernen und selbst die Führung der öffentlichen Angelegenheiten übernehmen könne.

Sowohl für Mussolini als auch für Gramsci hatte die Sache Folgen. Gramsci entging nur knapp dem Rauswurf aus der Sozialistischen Partei, Mussolini musste sie verlassen. Dass sich Gramsci in der Einschätzung seiner Position getäuscht hatte, offenbarte sich schon am 15. November, als die von Mussolini neu gegründete Zeitung Popolo d´Italia zum ersten Mal erschien und offen für einen kriegsinterventionistischen Kurs warb. Erst dann wurde Gramsci klar, dass er damit seiner schon früher manifestierten Haltung folgte, wonach Italien nach Kolonien streben müsse und sich als angeblich „proletarische Nation“ auch innerhalb Europas einen höheren Rang erkämpfen müsse. Der Popolo d`Italia versuchte den Proletariern nun weiszumachen, dass ihr Gegner nicht im eigenen Land, sondern im Ausland zu suchen sei und deshalb eben Krieg geführt werden müsse – in und au0ßerhalb Europas.

Konträr dazu sagte Gramsci  schon während des ersten Weltkriegs die künftige Selbstbefreiung aller Kolonien von europäischer Herrschaft voraus. Diese antimiperialistische Position wird die KPI später schon in den Gründungsprozess der III. Internationale einbringen, während andere kommunistische Parteien, speziell die englische und die französische, noch jahrzehntelang meinten, die Kolonien Kolonien bleiben zu lassen und irgendwann gemeinsam mit den Mutterländern in den Kommunismus überführen zu können.    

Durch die Informationen zur Zimmerwalder Konferenz lernte Gramsci zum ersten Mal Positionen Lenins kennen, dessen Wirken und Schriften er von nun an aufmerksam verfolgte. Oddino Morgaris Erfahrungen, der während der Revolution direkten Kontakt zu den Bolschewiki in Russland hatte, wertete er journalistisch aus. In der Hoffnung, eine ähnliche Revolution einleiten zu können, wurde er 1919 Führer der Turiner Rätebewegung. Allerdings erkannt er auch als einer der ersten europäischen Kommunisten, dass die im unterentwickelten Russland durchgeführte Revolution in den westeuropäischen Ländern nicht einfach nachgeahmt werden konnte. 

Dass der Kampf gegen den Krieg nicht als eindimensionaler Kampf gegen den Krieg erfolgversprechend ist, dass der Erhalt des Friedens vielmehr eine breiter angelegte Frage des kulturellen Bewusstseins ist, blieb auch weiterhin die Grundlage von Gramscis politischer Haltung. Wird der Kampf um Frieden und sozioökonomische Umwälzungen nur mit Friedensrhetorik und ökonomischen Argumenten geführt, entfaltet er auch heute nur begrenzte Wirkung. Das scheint mir auch der Grund zu sein, weshalb es den Kriegsgegnern in der Bundesrepublik, bzw. in ganz Europa nicht gelingt, eine effektive Friedensbewegung zu stiften. Obwohl größere Mehrheiten denn je gegen jede Art von offensiver Kriegsführung sind, herrscht auch in diesen Mehrheiten Unklarheit über die vermeintliche Notwendigkeit von Regime-Change in Diktaturen, von gewaltsamer Durchsetzung von Menschenrechten oder auch über die Frage, was heutzutage antisemitisch ist. Auch im Totalverlust eines Begriffs von struktureller Gewalt offenbart sich ein Defizit kultureller Vermittlung. Resultat ist gesellschaftliche Ohnmacht – auch in der Frage von Krieg und Frieden.