Nach den Duma-Wahlen

Die Russen machen alles falsch
22.09.2016
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

Die russische Regierung lässt keinen Fettnapf aus. Nichts, aber auch gar nichts kann sie dem Westen recht machen! Schlägt Präsident Medwedjew einmal etwas Vernünftiges vor – sein Aufruf, in Zeiten der wirtschaftlichen Krise möglichst wenig Geld für den Wahlkampf und besser für andere Zwecke auszugeben, ist nicht ganz  unvernünftig – dann wird das zu einem Instrument der Entpolitisierung oder, wie es Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in der Zeit gastkommentiert: „Teilweise wurde der Eindruck erweckt, dass so wenig Menschen wie möglich überhaupt mitbekommen sollten, dass diese Wahlen stattfinden“. Hinzu kommt eine zweite Enttäuschung: Die als sicher prognostizierten massiven Wahlfälschungen fanden nicht statt. Unregelmäßigkeiten ja, aber die Duma-Wahlen seien im Großen und Ganzen „in einer ordnungsgemäßen Weise“ durchgeführt worden, so der finnische OSZE-Gesandte Ilkka Kanerva. Schwere Zeiten für Mainstreammedien und im Kaffeesatz lesende Politanalysten. Sie mussten andere Brüller zu den Duma-Wahlen (er-)finden. In schrillem Gleichklang wurden sie fündig:

„Erdrutschartig“ (Spiegel Online, 19.09.16) die Machtverschiebung zugunsten der Kreml-Partei „Einiges Russland“, sie erdrücke alles, die Opposition sei marginalisiert. Alles so ganz anders als bei uns? In Russland entfallen 76 % der Parlamentssitze auf „Einiges Russland“, 9,3 % Prozent auf Kommunisten (KPRF), 8,6 % auf Rechtspopulisten (Schirinowskis Liberaldemokraten LDPR), 5 % auf das sozialdemokratische „Gerechte Russland“ und 0,4 Prozent auf zwei einzelne Abgeordnete. Im Bundestag hat die GroKo die verfassungsändernde Mehrheit von 75 Prozent, die restlichen 25 Prozent teilen sich Linke und Grüne. Hier wie dort erschwert eine so große Regierungsmehrheit die Arbeit der parlamentarischen Opposition erheblich, aber nur in Russland zeugt sie von der generellen Abwesenheit von Opposition. Schon vor den Wahlen widmete die Süddeutsche (15.09.16) dieser Leerstelle ihre Seite 3 unter der Überschrift „Last Man Standing. Keine Opposition in Russland – fast“. Im Mittelpunkt Wladimir Kara-Mursa, in Russland Repräsentant der Michail Chodorkowski-Stiftung „Offenes Russland“, die für die Duma-Wahl 25 Einzelkandidaten ausgewählt und finanziert hat. Sie bilden die „echte“ Opposition, während die Minderheitsparteien in der Duma im besten Fall „Kremlparteien“ seien. Eine eigenwillige Interpretation von „Opposition“ und eines der vielen Muster, wie Russlandphobie zu einer gestörten Wahrnehmung führt. Ein Beispiel: Die KP Russlands ist mindestens so oppositionell wie die Grünen im Bundestag: Wie jene, teilt sie im Wesentlichen die Außenpolitik der Regierung, innen- und sozialpolitisch gibt es Differenzen; im Unterschied zu den Grünen hat die KP allerdings eine gänzlich andere Idee von Gesellschaft als die Regierung. Doch für die SZ (und die Mainstream-Medien) ist für Russland der Begriff „Opposition“ jenen vorbehalten, die einen brutal raubenden und plündernden Kapitalismus anstreben, wofür wiederum Michail Chodorkowski steht, der diese Art Opposition von Großbritannien aus finanziert. Er ist einer der ganz großen Profiteure der brutalst-möglichen Privatisierung unter Jelzin, dessen Tochter er jetzt zur russischen Präsidentin machen will. Na, Prost dann!

Ach ja, Michail Chodorkowski unterstützt auch Jabloko, die Lieblingspartei der westlichen Medien. Dieses Mal scheiterte sie mit 2 % an der Fünf-Prozent-Hürde. Sie hatte schon bessere Zeiten erlebt. Doch wie ihre Förderer, bleibt auch sie aus Sicht der Bevölkerung verbunden mit der mafiösen Verschleuderung des russischen Volkseigentums. Als die Duma und das russische Verfassungsgericht diesen Kurs stoppen wollten, ließ Jelzin im Oktober 1993 das Parlament beschießen und erstürmen und verkündete – verfassungswidrig – den Notstand. „Ein Sieg der Demokratie“, nicht nur für die Washington Post. Die Folgen sind bekannt: Raub, Enteignung in gigantischem Ausmaß, während nach Angaben der Weltbank Mitte der neunziger Jahre (von insgesamt 143) 74 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze lebten. Doch bis zu seiner Ablösung als Präsident 1999 blieb Boris Jelzin (schwer alkoholkrank, dennoch mit Zugriff auf Atomraketen) der Progressive mit „echter Hingabe an Freiheit und Demokratie, echter Hingabe an Reformen“, wie es Bill Clinton es seinerzeit ausdrückte, während sein Nachfolger Putin wieder zum russischen Bären mutierte: antidemokratisch, autoritär, kriegerisch. 

Die Duma-Wahlen zeigen zugleich tatsächliche Probleme der russischen Gesellschaft: die niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 (47,8) Prozent, in Moskau sogar unter 30 Prozent, offenbart eine Kluft zwischen Politik und Wählern. Die Übermacht der Regierungspartei kann zu einem eigenen Fallstrick werden, wenn sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament mit denen in der Bevölkerung verwechselt. Was die Stärke der rechten Nationalisten betrifft, ist Russland sozusagen in der europäischen Normalität angekommen. Schirinowski und seine LDPR sind durchaus vergleichbar mit Wilders in den Niederlanden, der AfD in Deutschland, Le Pen in Frankreich und ähnlichen Parteien in Osteuropa. Die Flüchtlingsfrage spielt auch in Russland eine erhebliche Rolle, allerdings nicht in Form von real geflüchteten Ukrainern, sondern in imaginärer Angst vor Flüchtlingen aus arabischen oder asiatischen Ländern. Tschetschenien, der Kaukasus-Konflikt ist noch immer eine offene Wunde und die Angst, dass bewaffnete Auseinandersetzungen wieder aufflammen könnten, alltäglich.

Drei Mega-Probleme dominierten die jüngste Duma-Wahl: Die militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine inklusive der Sanktionspolitik der EU, der russische Militäreinsatz im Nahen Osten und die soziale und wirtschaftliche Krise in Russland selbst. Auf den ersten zwei Gebieten findet die Politik der Regierung offensichtlich die Billigung der Wählerinnen und Wähler wie der drei anderen in der Duma vertretenen Parteien. Auch in Russland führen soziale Verwerfungen (noch?) nicht zum selbstbewussten außerparlamentarischen Protest und zum Aufschwung von Linkskräften. Wir fragen uns zudem, ob die Zustimmung der KP zur Politik des Präsidenten in Sachen Ukraine, Krim, EU-Sanktionen und Syrien die Differenzen in der sozialen Frage und die Idee eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den die KP anstrebt, hat verschwimmen lassen.

Der Westen hat zum hohen Wahlsieg von „Einiges Russland“ beigetragen. Seine Politik der Sanktionen und der Einkreisung Russlands durch NATO und EU hat das Präsidialsystem und Putin selbst gestärkt.

Die politische Linke in Westeuropa ist mit den russischen Verhältnissen eher wenig vertraut. Beide Seiten brauchen mehr Kenntnis voneinander, mehr Diskussion und Zusammenarbeit. Das antirussische Ticket hingegen schwächt die Linke, vergiftet das politische Klima und gefährdet den ohnehin brüchigen Frieden.

Wolfgang Gehrcke, MdB DIE LINKE,
Christiane Reymann, Autorin und Aktivistin

(Erstveröffentlichung siehe in der Rationalgalerie)