Von den Medien so gut wie nicht beachtet, hat die siebte Runde der Syrienverhandlungen in Genf stattgefunden. Laut Headline der taz vom 16. Juli sind die „Friedensgespräche erneut gescheitert“. Das sei die Bilanz des UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, der zugleich den Vorschlag des französischen Präsidenten Macron guthieß, den jener auch Donald Trump unterbreitet habe. Danach soll eine „Kontaktgruppe“ aus den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und den konfliktbeteiligten Nachbarstaaten Syriens gebildet werden, die auszuarbeiten hätte, wie es mit Syrien weitergehen soll.
Wir haben eine andere Sicht der Dinge: Gescheitert ist in Syrien (und Genf) eben jene imperialistische Politik, für die Syrerinnen und Syrer keine Subjekte ihrer eigenen Zukunft sind und der Nahe und Mittlere Osten vielmehr eine Verfügungsmasse in der Globalstrategie der klassischen und neoliberal gewandeten Kolonialmächte. Wir haben in Genf Menschen aus der syrischen demokratischen und sozialistischen Opposition getroffen, die durchaus willens und in der Lage sind, die Geschicke ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Wie schon bei den vorangegangenen Verhandlungsrunden, war DIE LINKE (in Gestalt von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann als Autoren des Buches: Syrien- wie ein säkularer Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert wird, und Harri Grünberg, Mitglied des LINKEN Parteivorstands) auch dieses Mal am Ort des Geschehens, um Akteure der Verhandlungen zu treffen. Neue Einsichten haben wir namentlich gewonnen in Gesprächen mit Kadri Jamil, ehemaliger Vizepräsident Syriens, Vorsitzender der Partei des Volkswillens und zugleich Sprecher der „Moskauer Plattform“, und mit Haytham Manna, Menschenrechtler, Publizist, gefragter politischer Aktivist und Analytiker von der unabhängigen demokratischer Opposition Syriens. Beide arbeiten derzeit aus dem Exil: Kadri Jamil aus Moskau, Haytham Manna aus Paris/Genf.
Aus drei mach eins? Die Plattformen
Bei den Genfer Verhandlungen sitzen die Konfliktparteien nicht zur gleichen Zeit und gemeinsam an einem Tisch. Die Parteien haben jeweils eigene Quartiere, Botschaften, Sitzungszimmer, und Vertreter der UNO pendeln von den einen zu den anderen. Direkt oder indirekt sind das derzeit Russland und die USA, der syrische Staat und syrische Oppositionelle, die regionalen Mächte Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate, der Iran und die Türkei, die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien. Deutschland spielt eine untergeordnete Rolle.
Laut taz gibt der UNO-Sonderbeauftragte der syrischen Regierung die Schuld am „Scheitern“ der siebten Genfer Runde. Sie habe direkte Verhandlungen mit der „Hohen Verhandlungskommission“ der Opposition weiterhin abgelehnt. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Der Titel „Hohe Verhandlungskommission“ legt zwar Großes nah, aber tatschlich ist sie nur eine von drei in Genf anwesenden Plattformen der syrischen Opposition, und zwar die Riad-Plattform. Sie gruppiert sich um die von den arabischen Staaten, den USA und der Türkei finanzierten Kräfte. Unter ihnen sind die Muslimbrüder einflussreich und die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, die bislang vom westlichen Ausland als einzig legitime Vertretung Syriens anerkannt wurde und die auch in Berlin eine eigene Vertretung hat. Daneben gibt es die Moskauer Plattform, die eher linke, antiimperialistische Kräfte sammelt, sowie die Kairoer Plattform. Sie stützt sich auf säkulare arabische Kräfte.
In Genf lagen die Verhandlungszimmer der beiden letztgenannten Plattformen nebeneinander, ihre Türen standen offen, für jeden einsehbar, wer mit wem redet. Wenn sie keine anderen wichtigen Gesprächspartner hatten, redeten sie miteinander. Der Kontakt zur Riad-Plattform war laut Jamil erheblich schwieriger. „Obwohl wir in 98 von 100 Fragen keine gemeinsame Position haben“, habe es doch auf verschlungenen Pfaden und nahezu konspirativ Gespräche gegeben. Jetzt bestünde, so Jamil weiter, die Chance, trotz weiterhin tiefgehender Differenzen eine Verhandlungsdelegation zu werden. Die Einigungsformel hieße: Eine gemeinsame Delegation, aber keine einheitliche. In anderen Worten: Eine Delegation, drei Plattformen – in Verhandlungen über die Zukunft Syriens mit der Assad-Regierung, möglichst unter Moderation der Vereinten Nationen.
Das ist eine völlig andere Konzeption als der Macron-Plan. Hier formulieren Syrerinnen und Syrer ihre Ziele und richten konkrete Bitten, Forderungen an das Ausland. Dort formuliert das Ausland, was in Syrien geschehen solle.
Veränderung des Kräfteverhältnisses
Die unterschiedlichen Sichten auf die Genfer Verhandlungen reflektieren eine bemerkenswerte Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses in und um Syrien. Militärisch scheint ein Sieg über den Islamischen Staat und andere islamistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front absehbar, in erster Linie herbeigeführt durch die syrische Armee und Russland; ganz wichtige Schlachten haben die kurdischen Volksbefreiungskräfte, namentlich die der PYD, durchstanden. In Genf drückte sich die Veränderung des Kräfteverhältnisses darin aus, dass der Alleinvertretungsanspruch der syrischen Opposition durch eine „Hohe Verhandlungskommission“ nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Ein militärischer Sieg ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer politischen Lösung und einem Ende der Gewalt. Vorerst geht es darum, die Anzahl der Gebiete mit Waffenruhe auszuweiten, zu festigen, miteinander zu verbinden und parallel zu deeskalierten Zonen zu kommen. Das ist auch Verhandlungsgegenstand in Astana, wo auf Initiative von Russland, der Türkei und dem Iran auch syrische Kräfte zusammentreffen. Mehr regionale Waffenruhe würde schlagartig die Möglichkeiten für humanitäre Hilfe verbessern. Sie wird dringend benötigt. Schon jetzt sind eine halbe Million Flüchtlinge zurückgekehrt, vornehmlich nach Aleppo und Homs. Auf diesem Hintergrund ist es völlig inakzeptabel, dass die Bundesregierung ihre umfassenden Sanktionen gegen den syrischen Staat noch nicht aufgehoben hat und humanitäre Hilfe ausschließlich den pro-westlichen Gruppierungen zukommen lässt.
Bereits 2012 hatte der ehemalige Syrien-Sonderbeauftragte der UN und der Arabischen Liga, Kofi Annan, sechs Punkte für einen Friedensprozess in Syrien vorgelegt. Sie bilden den Kern eines Syrien-Friedensplans, der sich seitdem mit den Genfer Verhandlungen verbindet. Ein Plan ist also da, nicht vorhanden war bislang ein politisches Kräfteverhältnis, das dessen Realisierung möglich erscheinen ließ.
Die Eckpunkte der von allen Konfliktparteien gegengezeichneten Roadmap sind: Syrien bleibt als zentraler säkularer Staat erhalten, das schließt einen föderativen Staatsaufbau ein und nicht aus; Abzug aller ausländischen Truppen und Söldner; Freilassung aller politischen Gefangenen; Bildung einer Übergangsregierung, unter deren Verantwortung werden eine neue Verfassung ausgearbeitet und die Voraussetzungen für freie, demokratische, international kontrollierte Wahlen geschaffen; Religionsfreiheit für alle; Rückkehrrecht (nicht Rückkehrpflicht! Auf die könnten sich westliche Regierungen nicht berufen, wenn sie syrische Flüchtlinge loswerden wollen) für alle Flüchtlinge. Gewählt werden soll, und das war seitens der Assad-Regierung neu in dieser Genfer Verhandlungsrunde, nicht nur in Syrien selbst, sondern auch in den Flüchtlingslagern. Im Einzelnen sind auf dieser Linie dann tausende Streitpunkte vorprogrammiert, ein lässlicher Preis für das Ende des entsetzlichen Krieges.
Unsere Gesprächspartner äußerten einzelne interessante Überlegungen. So sei es laut Haytham Manna für die Wiederherstellung der Staatlichkeit Syriens enorm wichtig, dass sich die verschiedenen bewaffneten Formationen, von der Freien Syrischen Armee bis zu den kurdischen Volksmilizen, in die syrische Armee integrierten.
Die ungeklärte Kurdenfrage
Ungeklärt, ja, unausgesprochen in den Genfer Verhandlungen ist die Vertretung der Kurdinnen und Kurden. Einzelne Kurdinnen und Kurden spielen in allen drei Plattformen eine Rolle, aber es gibt keine eigenständige kurdische Delegation. De Mistura sagt: Diese Frage würde die Türkei sofort gegen Genf aufbringen und einen möglichen Verhandlungsprozess vorzeitig beenden.
Generell gehört die kurdische Frage in der gesamten Region zu den ganz heißen Eisen. 80 Millionen Kurdinnen und Kurden leben auf den Gebieten der Türkei, Iraks, Irans und Syriens. Ein kurdischer Staat würde die Kräfteverhältnisse in dieser Region völlig durcheinander wirbeln. Damit es erst gar nicht dazu kommt, bekämpft die Türkei vorsorglich politisch und militärisch die Kurden auf ihrem Staatsgebiet und auch außerhalb. Der Iran ist gegen einen Kurdenstaat, weil er selbst hegemoniale Ansprüche verfolgt und die irakische Regierung will nicht auf die Petrodollar aus irakisch Kurdistan verzichten.
In Syrien leben zwei Millionen Kurdinnen und Kurden, das sind weniger als in Deutschland. Nordsyrien stellt kein zusammenhängendes kurdisches Siedlungsgebiet dar. In welcher staatlichen Form auch immer, werden dort Kurden und Araber, zudem Menschen ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen zusammenleben (müssen). Die demokratische syrische Opposition, ob unabhängig oder zur Moskauer Plattform tendierend, tritt ganz entschieden für eine verfassungsrechtlich definierte und gesicherte kurdische Autonomie im Rahmen des syrischen Staates ein und möchte gern mit den syrisch-kurdischen Kräften dafür kämpfen. Für sie steht fest, auf dem langen Weg zum Frieden müssen Kurdinnen und Kurden für sich selber sprechen und zwar von Anfang an und nicht erst am Ende.
Große Sorgen äußerten unsere Gesprächspartner, dass die Kurdenfrage von den USA und regionalen Mächten instrumentalisiert wird. Angenommen, Syrien näherte sich einem – fragilen – Nichtkriegs-Zustand, hätten damit immer noch große Teile der US-amerikanischen politischen Klasse ihre Strategie der „kreativen Zerstörung“, die sie jetzt in Syrien, dem Irak, Libyen und anderswo verfolgen, nicht aufgegeben. Über die Kurdenfrage ist die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens zu destabilisieren. Aktuell kritisiert Haytham Manna scharf die Volksbefragung in den kurdischen Gebieten des Irak zur Segregation und Bildung eines eigenen Staates. Das schwäche überall den Kampf um kurdische Selbstbestimmung.
Genfer Format stößt an seine Grenzen
Laut Staffan de Mistura soll das Genfer Format nicht mehr tragfähig sein, deshalb die Idee der „Kontaktgruppe“. Die haben wir als imperiale Strategie kritisiert. Doch auch aus unserer Sicht stößt das Genfer Format an seine Grenzen, nur aus anderen Gründen: Es bedarf einer tieferen demokratischen Legitimation der Akteure, eine breitere Beteiligung aus der syrischen Gesellschaft und eine engagierte Begleitung aus der syrischen und internationalen Zivilgesellschaft. Unabhängig aber davon, was man vom Genfer Format hält, man soll Strukturen erst dann auflösen, wenn sich bessere herausbilden und akzeptiert werden.
Außer einer kurdischen Selbstvertretung fehlt die der Frauen, die laut UNO-Resolution 1325 auf allen Stufen und in allen Seiten von Friedensprozessen eine eigenständige Rolle spielen sollen. Am Rande vorangegangener Genfer Verhandlungen gab es zwar Konferenzen oder Treffen von syrischen Frauen(-gruppen). Mouna Ghanem etwa hat viel für die Organisierung, auch Schulung in friedlicher Konfliktlösung, für die Selbstvertretung von Frauen in Syrien, international und im Rahmen der UNO geleistet, aber in Verhandlungen zur Beendigung des Krieges wurden sie (noch) nicht einbezogen.
So bedeutsam es ist, dass der Alleinvertretungsanspruch auf Opposition durch die „Hohe Verhandlungskommission“ heruntergebrochen wird auf drei Plattformen, so können auch sie nicht in Anspruch nehmen, die Opposition in ihrer Gänze abzubilden. Das stört die Riad-Plattform eher nicht, sie hat ohnehin kaum Fäden in die syrische Gesellschaft, aber die Kairo- und Moskau-Plattform wollen demokratische Legitimation nicht nur erreichen, sondern praktizieren. Dieser Anspruch ist unter Bedingungen des Krieges und eines prekären Exils schwer einzulösen. Die Inhalte, die die Moskauer Plattform vertritt, wurden auf einer Konferenz der linken syrischen Opposition in Moskau ausgearbeitet. Die Kairo-Plattform hat ihre Delegierten auf einer Konferenz in Kairo für ein Jahr gewählt; das ist inzwischen verstrichen. Die demokratische syrische Opposition, die sich keiner der Plattformen ein- oder unterordnen will, dazu gehört etwa Haytham Manna, fehlt allerdings noch im Genfer Format. Auf ihre Erfahrungen und moralische Autorität aber kann ein Friedensprozess nicht verzichten.
Der Krieg in und um Syrien ist die bislang größte Katastrophe im 21. Jahrhundert. Abermillionen Menschen mussten fliehen, 500 000 verloren ihr Leben, die Anzahl der Verletzten, Verwundeten, traumatisierten Menschen ist unzählbar. Wunderbare Orte der Weltkultur wie Palmyra, Homs, Aleppo sind ein Trümmerfeld, die Seelen vieler Menschen mit dem Hass des Krieges vergiftet. Der Krieg in Syrien erleichterte die saudischen Krieg im Jemen, der so viel Leid und Elend über dieses kleine Land gebracht hat, dass dort jetzt die Cholera wütet und die mangelnde Möglichkeit, sie medizinisch und mit humanitärer Hilfe zu bekämpfen, zu einer tödlichen Waffe geworden ist. Ein Wiederaufbau Syriens erfordert die Unterstützung durch alle positiven Kräfte dieser Welt. Doch immer noch nicht ausgeschlossen ist eine Konfrontation der Großmächte USA und Russland. Die würde in einen III. Weltkrieg münden.