Ende vergangener Woche trafen sich in Wolgograd über 500 Vertreter von Kommunen und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus neun Ländern, um über ihre Zusammenarbeit mit russischen Partnern zu berichten und neue gemeinsame Projekte zu beraten.
Russland.news sprach mit dem langjährigen außenpolitischen Sprecher und Nestor der Russland-Politik in der Linkspartei, Wolfgang Gehrcke.
Herr Gehrcke, Sie haben zum zweiten Mal an der Veranstaltung „Dialog an der Wolga“ teilgenommen. Wie sehen sie den Nutzen solch einer Veranstaltung, die – rund 3000 Kilometer von Berlin entfernt – in den westlichen Medien kaum wahrgenommen wird?
Wir wissen ja, dass sich die Mainstream Medien in Deutschland so gut wie gar nicht dafür interessieren, welche Kontakte es unterhalb der großen Politik zwischen den Menschen beider Länder gibt, zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur und wie diese Beziehungen weiter ausgebaut werden können. Genau darum ging es bei dem Forum zur so genannten „Volksdiplomatie“ in Wolgograd. Dabei waren sich alle Teilnehmer durchaus bewusst, dass ihre Tätigkeit in den Kommunen, Vereinen und Organisationen neben dem konkreten Nutzen auch einen übergeordneten Effekt hat, nämlich gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu entwickeln, was überhaupt nicht zu der Politik des Kalten Krieges passt, wie sie derzeit auf höchster politischer Ebene praktiziert wird. Hinzu kommt, dass der Veranstaltungsort Wolgograd eine gewaltige historische Bedeutung hat. Vor genau 75 Jahren tobte hier die Stalingrader Schlacht, während der 700.000 Menschen u.E. waren es 700.000 Soldaten der roten Armee, die Toten aller Armeen und der Zivilisten machen fast 2 Millionen aus, oder? umkamen. Die Erinnerung daran fordert von uns, alle Möglichkeiten auf allen Ebenen zu nutzen, damit zwischenstaatliche Probleme ausschließlich auf friedlichem Weg geklärt werden und die Bevölkerung der Länder der Welt durch immer engere Kontakte zeigt, dass eine Verschärfung der Beziehungen überhaupt nicht in ihrem Interesse liegt.
Insofern denke ich sogar, dass dieses Format des Dialoges eher noch weiter ausgebaut wird.
Die zahlenmäßig stärkste ausländische Delegation kam aus Deutschland…
Salopp könnte man sagen: Je größer die Probleme, desto größer die Delegation. Aber mal ernsthaft: Deutschland hat eine Schlüsselstellung in den Beziehungen zwischen Westeuropa und Russland. Wenn unsere Regierung sich von den Sanktionen verabschieden würde, könnte man in ganz Europa die Steine von den Herzen plumpsen hören. Denn alle warten nur auf ein Zeichen aus Deutschland. Frankreich und Italien haben schon ganz deutlich ihre ablehnende Haltung zu den Strafmaßnahmen gegen Russland bekundet. Russland wiederum ist sehr nach Deutschland orientiert – für mich ist das immer wieder erstaunlich nach den leidvollen Erfahrungen, die das Land im zweiten Weltkrieg mit dem deutschen Überfall machen musste.
Im Interview von Bundespräsident Steinmeier für die russische Zeitung „Kommersant“ hat er einerseits den Anschluss der Krim an Russland und das russische Verhalten im Donbass-Konflikt kritisiert, andererseits aber auch betont, dass alle Seiten nach Möglichkeiten für einvernehmliche Lösungen dieser Probleme suchen. Sehen Sie in diesen Aussagen den auch von Ihnen geforderten „Einstieg in den Ausstieg“ aus den Sanktionen?
Nein, dafür waren diese Aussagen zu allgemein, da war kein Druck dahinter und er hat ja noch nicht mal angedeutet, in welche Richtung diese Bemühungen gehen könnten. Ich meine, der Konflikt in der Ukraine ist nach wie vor lösbar. Deutschland hat Minsk II mit ausgehandelt und muss nun dafür sorgen, dass sich auch die Ukraine daran hält. Außerdem muss unsere politische Führung eingestehen, dass die Sanktionen gescheitert sind – es ist auch damit nicht gelungen, Russland in die Knie zu zwingen. Und wenn man in der Sackgasse ist, hat es keinen Zweck, weiter voranzugehen, dann rennt man nur gegen eine Wand.
Dass in den vergangenen sieben Jahren kein deutsches Staatsoberhaupt in Russland war, zeigt doch, wie schlecht die Beziehungen beider Staaten derzeit sind. Andererseits bin ich froh, dass durch den Besuch Steinmeiers und sein Gespräch mit Präsident Putin offenbar der politische Dialog wieder Fahrt aufnimmt. Aber das ist noch kein Grund zum Jubeln.
Wie könnten wir aus Ihrer Sicht aus dem Eiskeller der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland herauskommen?
Dazu hat das Forum eine Reihe Ideen gebracht, die auf jeden Fall weiter verfolgt werden sollten.
Ein Beispiel: Russland könnte anlässlich der Fußballweltmeisterschaft freiwillig auf Visa für Einreisen aus Deutschland und anderen europäischen Länder verzichten. Als Antwort auf diese Geste des guten Willens könnten diese Länder wiederum zu einer ähnlichen Entscheidung kommen. Der Beschluss, den Visumzwang für die Ukraine aufzuheben, für Russland jedoch nicht, ist rein politisch motiviert und trifft vor allem diejenigen, die mit den Gründen für die Sanktionen gar nichts zu tun haben, nicht zuletzt viele Teilnehmer an dieser Veranstaltung. Dass jetzt jeder, der nach Deutschland reisen will, nun einen Fingerabdruck anfertigen lassen und dafür oft Hunderte Kilometer Anreise in Kauf nehmen muss, weist eher in die Gegenrichtung. Eine Veranstaltung, wie die WM, ist darüber hinaus eine gute Gelegenheit, um das Russland-Bild zu korrigieren, das von den Medien im Westen oft gemalt wird und wonach es hier vor allem Bären und Wodka gibt.
Wie schätzen Sie die realen Möglichkeiten der so genannten Volksdiplomatie ein? Können sie die große Politik tatsächlich beeinflussen oder zumindest dazu beitragen, dass die Kontakte nicht ganz abreißen?
Das wäre schon ein Erfolg, wenn durch die Zusammenarbeit auf den unteren Ebenen die Entfremdung zwischen den Völkern gestoppt würde. Der Begriff stammt übrigens aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als sich die junge Sowjetunion über die Köpfe der Regierungen hinweg an die Völker dieser Staaten wandte. Das war der Versuch, fehlende Kontakte auf staatlicher Ebene durch die Annäherung der Bevölkerungen zu kompensieren. Das war sicher sehr vernünftig. Die Volksdiplomatie kann ein bedeutender Faktor in der internationalen Politik sein, weil sie die öffentliche Meinung beeinflusst und Druck auf Regierungen ausübt, sie kann aber nicht die staatliche Politik ersetzen und will es heute auch nicht. Sie hat ihre eigenen Felder auf denen sich die Menschen beider Länder begegnen.
Aus deutscher Sicht war in Wolgograd eine große inhaltliche Übereinstimmung von Vertretern der SPD und der Linken in der Russland-Frage zu bemerken. Können Sie sich vorstellen, dass dieses Thema eine zentrale Rolle in der Opposition spielen wird?
Vorstellen kann ich mir Vieles. Ich mache mich dafür stark, dass die Russland-Politik einen gemeinsamen Korridor zwischen SPD und Linken schafft. Man darf die Hoffnungen dabei nicht zu hoch hängen. Aber ich habe mich gefreut, dass die sozialdemokratischen Kollegen hier mehrfach auf die heutige Bedeutung der neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr verwiesen haben. Diese Position würde ich für die Linken mittragen. Eine Komponente dieser Politik war ja, vorhandene Differenzen, z.B. zur Anerkennung der DDR, nicht zu unüberwindlichen Hindernissen von zwischenstaatlichen Beziehungen aufzubauschen. Das träfe heute auf den Umgang mit der Krim-Frage zu. Aber es muss jetzt auch etwas passieren. Wir dürfen im Bundestag der AfD keine Chance geben, sich unwidersprochen als Freunde Russlands darzustellen. Die AFD ist auch in der Russland-Frage reaktionär, denn sie bekennt sich zur NATO und zur Aufrüstung. Ihr ideologischer Kopf Gauland bejubelt die Soldaten der Wehrmacht, die so viel Leid über die Bevölkerung der Sowjetunion gebracht haben, als Helden. SPD und Linke haben eine antifaschistische Beziehung zu Russland. Eine ehrliche Zusammenarbeit von LINKEN und SPD erfordert Vernunft, Geduld und Zurückhaltung.
Ich möchte nicht euphorisch sein und glauben, dass über ähnliche Positionen das derzeit zerrüttete Verhältnis zwischen SPD und Linken auf einen Schlag verbessert würde. Aber ein Anfang könnte es durchaus sein.