Denunziation? Nein Danke! - Stigmen statt Argumente sind von übel

Zur Diskussion um die Lederer-Babylon-Jebsen-Zensur
24.11.2017
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

Liebe Leserinnen und Leser,

am 17. November hatten wir[1] in unserem Umfeld einen Text Empört Euch[2] gegen das Berliner Verdikt, eine Zensur findet statt, verbreitet. Die Resonanz war überwältigend. Die Beiträge, die bis zum 22.11. eingegangen sind, sind auf der Website www.wolfgang-gehrcke.de nachzulesen. Wir bedanken uns bei allen für ihre Kritik, Unterstützung und die eigenen Gedanken, die sie zu diesem Thema aufgeschrieben und damit öffentlich gemacht haben. Uns geht es nicht in erster Linie um Klaus Lederer, sondern um Zensur, Stigmen, Denunziation. Diese Themen ist uns viel zu ernst, um sie für innerparteiliches Machtgehabe zu missbrauchen oder missbrauchen zu lassen. Mit dieser Replik schließen wir unsererseits diese Diskussion in dieser Form vorerst ab.

Denunziation? Nein Danke!
Stigmen statt Argumente sind von übel
Zur Diskussion um die Lederer-Babylon-Jebsen-Zensur

Von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann

Anhand der vielen Zuschriften zu unserer Wortmeldung ist uns nicht zuletzt klar geworden, wie viele Linke unter der Verbreitung von Stigmen wie Antisemitismus, Antiamerikanismus, Verschwörungstheorie oder Querfront leiden und sie entschieden zurückweisen, wenn sie gegen Menschen im friedensbewegten und sozial engagierten Spektrum ins Feld geführt werden; gegen Menschen und Gruppen also, die keine Rassisten oder Nazis sind, sondern die irgendwie anders ticken und denken als der mediale Mainstream und anders, als sich das einige linke Gruppen resp. einige Gruppierungen in der LINKEN so wünschen. Es ist diese Ersetzung von Argumentation durch Brandmarkung, die uns umtreibt. Dafür ist Klaus Lederer ein prominentes Beispiel; doch selbst, wenn er nicht mehr Kultursenator wäre, wäre ja diese Unkultur noch nicht überwunden. Sie ist anti-emanzipatorisch, anti-aufklärerisch und sehr gefährlich, vergiftet sie doch (potenzielle) Bewegungen und geht schon heute bis zum Rufmord, auch aus dem linken Spektrum heraus. Von außen ohnehin.

Ein Beispiel: Der Chefredakteur des Tagesspiegels, Matthias Meisner, verteidigt Lederer gegen unseren Appell, indem er auf die Auseinandersetzung des Rundfunk Berlin/Brandenburg (rbb) mit Ken Jebsen aus dem Jahr 2011 verweist.[3] Damals habe Jebsen „in einer Mail an einen Hörer unter anderem geschrieben, er wisse, wer den Holocaust als PR erfunden und wie Goebbels die entsprechenden Kampagnen umgesetzt habe“. Meisner zitiert dann auch einen aktuellen Tweet des LINKEN Bundestagsabgeordneten Stefan Liebig: "Empörend, Zensur, das Gegenteil der ,Freiheit der Andersdenkenden' (Luxemburg)? Wenn Klaus Lederer seine Kritik an einer Preisverleihung an Ken Jebsen (‚Ich weis, wer den holocaust als PR erfunden hat’) formuliert, dann hat er meine Unterstützung, denn er hat damit einfach Recht." Hat er aber nicht, denn Jebsen hat den Holocaust nie geleugnet. Vielmehr hatte er zehn Jahre lang in all seinen 545 Sendungen im Jugendradio fritz in der Rubrik Rückblicke „eher auf der Seite Israels gestanden“, wie er in einem Interview sagte. Dort hat er an die Geschichte der Judenverfolgung erinnert, es kamen Ausschwitz-Überlebende zu Wort, warnend er hat er gezeigt, wie sich Menschen gegen andere Menschen aufhetzen lassen. „Also es war immer ganz klar“, so Jebsen weiter, „dass ich immer sage, das (der Holocaust- d.A.) ist das schlimmste, mechanisch produzierte, industriell geplante und in alle Facetten hinein konstruierte Verbrechen, das die Menschheit je erlebt hat.“[4] Nun könnte man einwenden, die eigene Einschätzung des Betroffenen sei nicht maßgeblich. Aber man muss ihn doch wenigstens zu Wort kommen lassen und ihm zuhören. Dieser Kernbestand bürgerlichen Rechts muss auch für Linke uneingeschränkt gelten.

Schauen wir uns den inzwischen wohl schon tausendfach zitierten Chat einmal genau an. Er ist keine Meisterleistung der deutschen Sprache und argumentativen Klarheit, eher zwischen vielen parallelen Chats „schludrig hingeballert“[5] (Jebsen), aber doch eindeutig genug: „ich weis wer den holocaust als PR erfunden hat. der neffe freuds. bernays. in seinem buch propaganda schrieb er wie man solche kampagnen durchführt. goebbels hat das gelesen und umgesetzt.“ Leider finden wir diesen Chat nicht mehr im Original im Netz. Wir haben ihn nach dem Jacob Jung Blog zitiert[6]. Jakob Jung weiter:

„Jebsen spricht hier von Edward Bernays, einem Neffen von Sigmund Freud. Bernays gilt als der ‚Vater der Public Relations’ und brachte 1923 sein bekanntes Standardwerk ‚Crystallizing Public Opinion’ heraus. Joseph Goebbels studierte das Buch und nutzte seine Inhalte, um die antijüdische Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland aufzubauen.

In seiner Autobiografie aus dem Jahre 1955 äußerte sich Edward Bernays über den Einfluss seines Buches auf die Propaganda der Nazis: ‚Ich wusste, dass jede menschliche Aktivität für soziale Zwecke benutzt oder antisoziale missbraucht werden kann. Offenbar war die Attacke gegen die Juden Deutschlands kein emotionaler Ausbruch der Nazis, sondern eine wohlüberlegte, geplante Kampagne.’ Genau dies beschreibt Ken Jebsen in dem betreffenden Abschnitt seiner Mail.“

Es war sein Versuch, einen Aspekt der Methoden zu erklären, mit deren Hilfe es den Nazis gelungen war, die erdrückende Mehrheit der deutschen Bevölkerung manipulativ gegen „die Juden“ aufzubringen. Im Ergebnis galt den Nazis bereits die Weimarer Republik als „von Grund auf jüdisch. Ihre führenden Repräsentanten wurden als ‚jüdische Novemberverbrecher’ diffamiert, die dem internationalen Judentum und dem westlichen Kapitalismus in die Hände spielten.“[7] Vor und nach dem Hitler-Faschismus war die feindselige Bezeichnung verjudet gleichzeitig Mordbefehl gegen Linke, Demokraten, Sozialisten, gegen Kommunisten allemal, gegen Intellektuelle und Künstler. 1945 hat das Stigma verjudet und der verjudete Bolschewismus nicht aufgehört zu existieren, es wirft bis heute (wieder!) seinen langen Schatten.[8]

Ken Jebsen entschuldigte sich vor sechs Jahren umgehend für seinen missverständlichen Chat[9]. Wenn Leute wie Meisner oder Genossen wie Lederer und andere daraus fortdauernd bis heute eine Leugnung des Holocausts machen, dann ist das wenigstens böswillig, aus unserer Sicht eine Lüge.

Es ist inakzeptabel, dass Politiker der LINKEN, die es besser wissen (müssen), ungeprüft so schwerwiegende Vorwürfe wie „offen abgründiger Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und kruder Verschwörungstheorien“ (Lederer zu Jebsen) ohne einen einzigen Beleg in die Welt setzen – und darin zu allem Überfluss noch Wiederholungstäter sind. Lederer hatte 2014/2015 ähnlich frei von Wahrhaftigkeit „Zitate“ von Protagonisten der Montagsmahnwachen und des Friedenswinters in die Welt gesetzt, um diese anti-Kriegs-Bewegungen zu diskreditieren. Diese Art unlauterer Unterstellungen hatten wir in unserem Artikel Wider denunziatorische Kommunikation nachgewiesen[10] und zu deren Methoden, Inhalten und Interessen das Buch Rufmord. Antisemitismuskampagne gegen links geschrieben. Interessierten schicken wir es gern zu. In Hülle und Fülle gibt es Literatur zum politischen Schaden, den diese Kampagnen anrichten[11], allein: sie hören nicht auf.

Eine größere Rolle als schon 2015 spielt inzwischen der Querfront-Vorwurf. So wird etwa in besagtem Tagesspiegel-Artikel von Matthias Meisner der Tweet von Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin und Genossin der LINKEN, zitiert: "Lieber Wolfgang, ich bin entsetzt: Bei allen Meinungsverschiedenheiten. Bisher ging ich davon aus, dass wir bei #Antisemitismus #Menschenfeindlichkeit #Rassismus beieinander sind. #Querfront ist einfach übel." Wir mögen nicht glauben, dass Petra Pau Wolfgang Gehrcke – die beiden kennen sich gut und arbeiten seit 1990 gerade im Kampf gegen Antikommunismus, Rechts, Rassismus kollegial zusammen – unterstellt, sie hätten keine Gemeinsamkeiten mehr zu Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit und Rassismus wegen...Querfront! Das hieße doch, die Gemeinsamkeiten seien dahin, weil Wolfgang aus der Linken eine Rechte machen wolle. Querfront, wir zitieren uns selbst (Rufmord, S. 31/32) „bezeichnet den Versuch, rechte Inhalte in linke Bewegungen zu schleusen. Der Querfrontpolitik verdächtigt zu werden, konnte unter Stalin tödlich enden. Karl Radek, dem galizisch-polnisch-russisch-deutschen Revolutionär und Mitbegründer der KPD, wurde im 2. Moskauer Schauprozess 1937 Querfrontpolitik vorgeworfen, in der Haft wurde er erschlagen. Auf diesem Hintergrund sollten Linke den Vorwurf mit Bedacht verwenden. Aktuell aber wird er inflationär und als Stigma benutzt...“ Und „Querfront“, nebulös und vielseitig verwendbar, ist inzwischen für alle etwas Widerwärtiges: Für Spiegel und taz, für ND und Berliner Zeitung, für Tagesspiegel und Lederer... Eine mögliche Erklärung für diese eigentümliche Übereinstimmung eigentlich doch unterschiedlicher bis gegensätzlicher Medien und politischer Strömungen bietet der Soziologe Wolfgang Streeck in seinem Artikel Merkel. Ein Rückblick in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.11.2017. Er spricht dort von einer „neuen, 90-prozentigen gesellschaftlichen Großmitte“, die die heutige Politik in Deutschland bestimme. Spinnen wir diesen Gedanken weiter: Diese Großmitte besetzt Begriffe, die sie der Linken gestohlen hat, etwa Reform oder humanitär (-e Intervention); sie führt Stigmen ein und definiert sie, sie bestimmt, was beispielsweise Antisemitismus, Antiamerikanismus oder Querfront sei und belegt Begriffe wie etwa Israelkritik oder Russland verstehen mit einem Bann. So setzt die Großmitte Ausgrenzungen, Tabus und Denkverbote durch. Gehören zur Großmitte inzwischen auch Linke und Mitglieder der LINKEN?

[1] Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann

[2] http://www.wolfgang-gehrcke.de/de/article/1939.bitte-helft-zensur-zurückzuweisen.html

[3] Matthias Meisner, Unter Putinverstehern und Aluhüten, Tagesspiegel online v. 22.11.2017, http://m.tagesspiegel.de/politik/die-linke-unter-putin-verstehern-und-aluhueten/20610784.html?utm_referrer

[4] Ken Jebsen über Rausschmiss beim RBB und dreiste Antisemitismus-Vorwürfe, https://www.youtube.com/watch?v=dKheNN_lXl0

[5] ebd.

[6] Henryk M. Broder vs. Ken Jebsen: RBB setzt KenFM ab, Jacon Jung Blog v. 08.11.2011, https://jacobjung.wordpress.com/2011/11/08/henryk-m-broder-vs-ken-jebsen-rbb-setzt-kenfm-ab/

[7] Arnulf Scriba, zit.n.: Wolfgang Gehrcke, Rufmord. Die Antisemitismus-Kampagne gegen links, Köln 2015, S. 148.

[8] Vgl. ebd., S. 149f.

[9] Ken Jebsen entschuldigt sich für „Missverständnis“, Berliner Morgenpost v. 13.11.2011, https://www.morgenpost.de/kultur/article105259592/Ken-Jebsen-entschuldigt-sich-fuer-Missverstaendnis.html

[10] im Einzelnen anhand der Etiketten Holocaust-Leugner und Nazi-Nähe, Russlandfreunde und Nationalisten, Verschwörungstheoretiker, falsche Kapitalismuskritik und Querfrontstrategen  (http://www.wolfgang-gehrcke.de/de/article/1283.wider-denunziatorische-kommunikation-volksfront-statt-querfront.html?sstr=Wider%7Cdenunziatorische%7CKommunikation)

[11] Zu den Folgen der aktuellen Auseinandersetzung besonders lesenswert etwa Albrecht Müller, Die Doppelstrategie gegen alles Linke, in NachDenkSeiten v. 23.11.2017, http://www.nachdenkseiten.de/?p=41232 oder Andreas Wehr, Solidarität mit Ken Jebsen!, http://www.andreas-wehr.eu/solidaritaet-mit-ken-jebsen.html. Andreas Wehr verdanken wir auch den Hinweis auf Streecks Großmitte.