Syrien: Frieden schaffen oder eine Revolution adoptieren?

09.03.2018
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

Wenn es um Syrien geht, dominiert seit Wochen Ost-Ghouta die Nachrichten. Dahinter verschwinden Leid und Bedrohung für Afrim. Militärisch hat die syrische Regierung mit Unterstützung von Russland, Iran und der Hisbollah im Wortsinn Land gewonnen. Der IS ist nahezu geschlagen. Dass in dieser Situation die Türkei ihre Invasion gestartet, Washington seine  militärische Präsenz auf syrischem Boden ausgebaut hat und den Euphrat als neue Grenze, jenseits derer die syrischen Öl- und Gasvorkommen und seine Euphrat-Staudämme liegen, festzurren will, dass Israel ebenfalls mit militärischen Mitteln faktisch seine Grenze um eine Schutzzone von 40 km Tiefe auf syrisches Territorium verschieben will und die Golfstaaten widerrechtlich weiter reichlich Söldner, Waffen und Geld nach Syrien exportieren, macht die Lösung des Konflikts nicht leichter. Im Folgenden Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann zu Hintergründen, Geschichte, linken Kontroversen und Lösungsmöglichkeiten des Syrien-Konflikts.

Was sucht die AfD in Syrien?

„Abstoßend“, „widerlich“, „klare Beihilfe zum Mord“, so die Kommentare aus – in dieser Reihenfolge – SPD, CDU und Grünen zur Reise einiger AfD-Abgeordneter nach Syrien, genauer: nach Damaskus. Dort hatten sie regierungsnahe Kräfte getroffen. Für die CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer eine klare Unterstützung derjenigen, „die durch den Krieg in Syrien dafür verantwortlich sind, dass sich überhaupt so viele Menschen auf der Flucht befinden...“ Die Kommentare sind verlogen bis auf die Knochen. Denn dieselben Kräfte, ausgenommen ein Teil der Grünen, finden Treffen inkl. (Rüstungs-) Geschäfte mit Salman ibn Abd al-Aziz, dem königlichen Staatsoberhaupt Saudia-Arabiens, völlig in Ordnung. Wobei die Frage steht, wer von den beiden: er oder Assad (oder Dritte?) die größere Verantwortung für den Krieg in Syrien trägt.

Das wirklich Abstoßende der Reise der AfD-Abgeordneten ist nicht, dass sie stattgefunden hat. Schändlich ist der Zweck der Reise, nämlich den Nachweis zu erbringen, dass syrische Flüchtlinge ganz rasch wieder aus Deutschland ausgelagert werden können. Es mag sogar sein, dass sich dieses mit dem Interesse der syrischen Regierung treffen könnte, die dem Ausland gegenüber ihren Erfolg im Kampf gegen die Dschihadisten belegen will.

Eine völlige Verdrehung von Ursache und Wirkung legt auch die Bundesregierung an den Tag. In ihrer Regierungserklärung vom 22. Februar d.J. sprach Angela Merkel mit Blick auf Syrien von einem „Massaker, das es zu verurteilen gilt“. Damit wir uns nicht missverstehen: Sie meinte damit nicht die Militärangriffe der Türkei auf syrisch-kurdisches Gebiet, nicht die Bombardements von israelischen wie US-amerikanischen Fliegern in Syrien, nicht den Mord- und Folterterror der dschihadistischen Kampfverbände von Ahrar al-Scham über die Al Nusra Front bis zum IS resp. Daesch. Nein, Merkel verurteilt Russland und den syrischen Präsidenten Assad wegen „Massaker“ und „Krieg gegen das eigene Volk“.

Sieben Jahre dauert er nun schon, der verheerende Stellvertreterkrieg auf syrischem Boden, an dem auch Deutschland beteiligt ist. Seit sieben Jahren verfolgen die NATO-Staaten, die USA, die um Hegemonie kämpfenden regionalen Mächte Türkei, Saudi-Arabien, Israel, auch Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate mischen mit, ein gleichgerichtetes Ziel: Die Zerschlagung des Syrischen Staates, seine Balkanisierung, und den politischen Regime-Change von außen. Erreicht haben sie in den biblischen sieben Jahren unendliches Leid und Zerstörungen, die fassungslos machen. Fast eine Million Kriegstote, mehr als drei Millionen Kriegsverletzte, laut UNO-Angaben elf Millionen Kriegsvertriebene: das ist fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung. Von der einst entwickelten Infrastruktur des Landes ist kaum etwas übrig, die Industrie nahezu zerstört, viele Städte und Dörfer verwüstet, großartiges kulturelles Erbe der Menschheit geplündert und tief verwundet.

Wer hat in Syrien das Völkerrecht außer Kraft gesetzt?

„Regeln des Völkerrechts gelten in Syrien längst nichts mehr“, schrieb am 22.02.2018 der Welt-Leitartikler Richard Herzinger. Schuld an diesem Zustand seien Syrien, Russland und Iran. „Während Russland dem Assad-Regime für seine Vernichtungsfeldzüge gegen die eigene Bevölkerung die Lufthoheit sichert, wird Syrien am Boden vom Iran militärisch und politisch-kulturell kolonisiert.“ Belegen muss man offensichtlich derart abenteuerliche Thesen von Vernichtungskrieg oder der Kolonisierung durch den Iran nicht. Deshalb erwähnen wir es wenigstens: Auf das Gebiet Syriens scheint derzeit jeder beliebige Staat, sofern er die Mittel dazu hat, Söldnertruppen schicken oder mit eigenen Panzern, Raketen und Soldaten eindringen zu können, Syriens Luftraum schein vogelfrei zu sein für die Aufklärungsflugzeuge und Kampfjets der USA, Türkei, Israels oder von NATO-Staaten, darunter deutsche Tornados mit AWACS. Der Krieg in Syrien ist fürchterlich, davon legen die Opferzahlen Zeugnis ab. Auch russische Bomben können Menschen töten, genauso wie Geschosse aus syrischen Panzern oder aus Raketen, abgefeuert von iranischen Soldaten oder der Hisbollah. Völkerrechtlich aber ist es ein bemerkenswerter Unterschied, ob ein gewählter Präsident oder das Parlament eines souveränen Staates andere Staaten um militärischen Beistand bittet – oder ob ungefragt Truppen und die Luftwaffe anderer Staaten oder von ihnen finanzierte und organisierte Söldnerbanden in sein Gebiet oder seinen Luftraum einfallen. Beistand zu erbitten und zu erhalten, ist völkerrechtskonform, Einfallen hingegen verstößt gegen das Völkerrecht.

Regimechange von rechts und links?

Unter dem Schirm von Assad muss weg versammeln sich höchst unterschiedliche Kräfte. Neben ausgewiesenen Imperialisten, Kriminellen und Reaktionären sind dort auch Linkskräfte mit dabei. Diese werben für Adopt a Revolution. Doch geht es in Syrien um Revolution? Wenn ja, um welche? Und mit welchen Kräften? Vielleicht mit den USA an der Seite, wie es die kurdische Selbstverwaltung und die YPG versucht haben? Dieser Versuch ist spätestens in Afrin gescheitert. Von den USA verlassen, hat sich die kurdische Selbstverwaltung an den syrischen Staat mit Bitte um militärischen Beistand gegen die türkischen Truppen gewandt. Der ist der Bitte nachgekommen, verteidigt er doch mit den Kurdinnen und Kurden den eigenen, den gemeinsamen Staat. Ob diese Kehrtwende in letzter Minute die Sache noch retten kann, ist ungewiss. Sicher aber werden erst einmal die 13 Militärstützpunkte der US-Army bleiben, die sie auf den von der kurdischen Selbstverwaltung beanspruchten Gebieten im Nordosten Syriens errichtet hat.

Wer mitten in dem fürchterlichen Gemetzel auf syrischem Boden auf eine Revolution ungeklärten Charakters zum Hinwegfegen des Assad-Regimes setzt, sieht in ihm zugleich den verantwortlichen Verursacher des Schreckens der letzten sieben Jahre. Das wiederum entlässt die USA, NATO und die reaktionären Regionalmächte aus ihrer Verantwortung.

Ein Blick zurück

Begonnen hat der syrische Teil des Arabischen Frühlings im April 2011 mit den Demonstrationen in Daraa, auf die das Regime mit Macht und Gewalt reagiert hat. Was dort als Aufbegehren von Jugendlichen gegen autoritäre Herrschaft und für soziale Perspektiven begann, wurde ihnen in Windseile von den Muslimbrüdern, den Golf-Monarchien und Großmächten enteignet. Die wollten Assad stürzen, um Zugriff auf die Macht in Syrien zu bekommen. Die USA verfolgten ihre Strategie des Neuen Nahen Ostens, dessen zynischer Schlüsselbegriff die kreative Zerstörung ist. Alles, was die Machtausdehnung der USA hinderlich sei, sollte gesprengt werden. Eines der Mittel dazu ist Zerstörung von Staatlichkeit. Die Ergebnisse von strategischer Neuordnung nach US-Manier sind  - nach Jugoslawien – in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, dem Sudan, der Ukraine zu besichtigen und in - namentlich südlichen und südöstlichen -  Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu beobachten.

Das Fell des Bären verteilen, bevor er erlegt ist

In Deutschland schlug sich die Mehrheit der politischen Parteien, Think-Tanks und Medien blitzschnell auf die Seite sogenannten Aufständischen, der Freien Syrischen Armee, der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutionären und Oppositionellen Kräfte oder wie die Gruppen hießen, die größtenteils von den Golfmonarchien, der Türkei und den USA finanzierten wurden. Aus eben diesem Spektrum hat die deutsche regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik Teilnehmende für ihr groß angelegtes Projekt The Day After zusammengerufen zur politischen Neuordnung Syriens nach dem Sturz Assads. Und in der 2012 von 114 Staaten ins Leben gerufenen Vereinigung der Freunde Syriens hatte Deutschland zusammen mit Katar den Vorsitz ausgerechnet in der Arbeitsgruppe zur Neuordnung der syrischen Wirtschaft. Deutschland hat die diplomatischen Beziehungen zu Syrien abgebrochen, umfassende Sanktionen verhängt und den Aufständischen die Errichtung einer diplomatischen Vertretung und Berlin eingeräumt. Deutschland ist also nicht nur militärisch, sondern auch politisch dicke in den Syrien-Krieg involviert.

Dabei hat die Bunderegierung nicht zur Kenntnis genommen und/oder ist von ihren Geheimdiensten schlecht beraten worden, dass es sich bei den bewaffneten Formationen mehrheitlich um Söldner handelt, von denen viele ihre Erfahrungen in Afghanistan oder Tschetschenien gesammelt haben. Das von ihr eingesetzte Geld war zu einem nicht unerheblichen Teil faktisch Blutgeld. Dazu kam und kommt eine fortwährende Unterschätzung des Rückhalts von Assad in der syrischen Bevölkerung. Wolfgang erinnert sich, dass mehrfach in seiner Bundestagszeit die jeweiligen Präsidenten des BND in den Auswärtigen Ausschuss geladen waren und immer wieder mit der Prognose glänzten: Wir geben Assad noch ein halbes Jahr!

Afrim verschwindet – Ost-Ghouta kommt

Am 21. Januar d.J. beginnt die türkische Invasion in Nordsyrien mit dem Ziel, die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören. Um die Verteidigung Afrims entwickelt sich eine breite internationale Solidarität. Einen Monat später verschwindet plötzlich Afrim aus den Medien, dort dominiert fortan Ost-Ghouta. Am 24. Februar verabschiedet der UNO-Sicherheitsrat eine Resolution zu einer 30-tägigen Waffenruhe zur Versorgung und möglichen Evakuierung der eingeschlossenen Zivilbevölkerung. Die Waffenruhe kommt extrem zögerlich zustande, hält nur kurze Zeiten, wird immer wieder gebrochen. Von wem, verrät uns die Tagesschau nicht. Aber dass wieder Giftgas eingesetzt worden sein soll, das wird aus nicht überprüfbaren Quellen, aber eben doch berichtet. Die CDU macht daraus gleich wieder Giftgasangriffe des Assad-Regimes. Die tatsächliche Not der Bevölkerung und die möglichen Bombardements und eher unwahrscheinlichen Giftgasangriffe auf zivile Ziele überdecken ... Afrim und die Schande der Türkei. Diese Art Ablenkungsmanöver sind inzwischen sattsam bekannt und selbst die UNO ist gegen sie nicht gefeit, wie wir spätestens seit dem Irak-Krieg wissen. Mit welchen Mitteln die Welt in der Schlacht um Homs in Atem gehalten wurde, hat Joachim Guilliard in seinem Rubikon-Artikel Lügen für den Krieg nachgezeichnet. Auch das plötzliche Verschwinden Afrims aus den Nachrichten und das Auftauchen Ost-Ghoutas wird nun wohl – wie so oft – wieder erst im Nachhinein seine wahre Erklärung finden. Aktuell hat sich Conrad Knittels in seinem Rubikon-Artikel „... und niemand stoppt Assad!“  mit der hochmanipulativen Berichterstattung zu Ost-Ghouta immanent auseinandergesetzt.

Verhandeln statt Schießen

Militärisch hat die syrische Regierung mit Unterstützung von Russland, Iran und der Hisbollah im Wortsinn Land gewonnen, das eigene wohlgemerkt. Der IS ist nahezu geschlagen. Dass in dieser Situation die Türkei ihre Invasion gestartet, die USA seit langem ihre militärische Präsenz auf syrischem Boden weiter ausgebaut haben und den Euphrat als neue Grenze festzurren will, jenseits derer die syrischen Öl- und Gasvorkommen und seine Euphrat-Staudämme liegen, dass Israel ebenfalls mit militärischen Mitteln faktisch seine Grenze um eine „Schutzzone“ von 40 km Tiefe auf syrischem Boden verschieben will und die Golfstaaten weiter reichlich Söldner, Waffen und Geld nach Syrien exportieren, macht die Lösung des Konflikts nicht leichter. Militärisch wäre er nur um den Preis eines Krieges der Großmächte zu lösen. Ob die USA zu diesem äußersten Mittel greifen, ist zwar nicht auszuschließen, aber derzeit noch eher unwahrscheinlich. Ein anderes Mittel zum Ergebnis einer militärischen Variante hatte die Stiftung Wissenschaft und Politik bereits 2012 skizziert: Ausbluten. Krieg, bis alle Teile erschöpft am Boden liegen.

Bleibt die Diplomatie. Dazu gibt es ein außerordentlich vernünftiges Dokument für das Ende der Gewalt in Syrien: die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates vom Dezember 2015, auf deren Grundlage die UNO ihre Vermittlungsaktion gestalten könnte. Dieser Plan beginnt mit einer umfassenden Waffenruhe und endet mit freien demokratischen Wahlen in Syrien. Dagegen machte dieser UN-Plan nicht „Assad muss weg“ zur Vorbedingung. Zu diesem UNO-Plan und zugleich zu den Positionen der Linken gehört auch, die souveräne Integrität und Gesamtstaatlichkeit Syriens zu verteidigen und nicht darauf zu zielen, Syrien in Einzelstücke zu zersplittern. Das hieße auch: Kein eigener kurdischer Staat auf syrischem Boden, sondern eine verfassungsrechtlich abgesicherte kurdische Autonomie innerhalb des syrischen Staates.

Die Kurdinnen und Kurden in der Türkei, dem Irak und Syrien brauchen Unterstützung, denn sie sind überall eine diskriminierte Bevölkerungsgruppe. Es wäre aber gut, wenn eine linke Opposition für ein demokratisches Syrien alle Teile der Bevölkerung – ob arabisch-stämmig oder kurdisch, ob muslimisch, jesidisch, christlich, orthodox oder jüdisch – einbeziehen würde. Linke und Demokraten aus Syrien haben uns immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass sie davon ausgehen, bei Wahlen dabei und dafür eine Rolle spielen zu können. Wahlen in Syrien erfordern aber ein Ende von Krieg und Gewalt.

Deutsche Diplomatie braucht Druck

Verhandlungen zur Beendigung der Gewalt in Syrien sind unverzichtbar, gleichgültig, ob sie in Astana und zuletzt Sotschi oder in Genf stattfinden. Es ist sogar denkbar und ohnehin Realität, dass an mehreren Orten über das Ende von der Gewalt in Syrien verhandelt wird. Russland hat sein militärisches Engagement in Syrien von Anbeginn (und bereits lange davor) mit eigenen Initiativen für friedliche, diplomatische Lösungen verbunden. Egal an welchem Ort: es müssen alle ausländischen Kriegsparteien und die syrischen Konfliktparteien an einen Tisch. Alle Drohungen und Vorbedingungen erschweren nur diesen Schritt. Es ist unerlässlich, einige Dinge zu Ende zu denken. Wenn zum Beispiel der französische Präsident Macron mit Bombenangriffen droht, sollte das syrische Militär Giftgas oder andere chemische Waffen eingesetzt haben, dann trägt das in dieser höchst angespannten Lage nicht zur Besonnenheit und Lösung bei, sondern ist vielmehr eine weitere völkerrechtlich verbotene Androhung von Gewalt; und das, obwohl die Unterstellung unbewiesen ist und vor viereinhalb Jahren unter internationaler Kontrolle chemische Waffen aus Syrien abgezogen und vernichtet worden sind. Sollte dieser Androhung tatsächlich Gewalt folgen, kann Deutschland auf der ausgebauten deutsch-französischen Achse allzu leicht folgen. Bereits der Einsatz deutscher Tornados über syrischem Gebiet war, ist und bleibt ja völkerrechtswidrig. Von dieser falschen Weichenstellung muss die deutsche Außenpolitik abgebracht werden. Dafür zu werben, wäre für linke Politik sinnvoller, als vor der Russischen Botschaft gegen das russische Engagement in Syrien zu protestieren; und es ist sinnvoller, als eine (nicht vorhandene) Revolution zu adoptieren. Syrien braucht zuallererst Frieden, um dann, beginnend mit dem politischen Prozess zum Frieden, seine gesellschaftliche Zukunft selbst bestimmen zu können.