Abgeordnetenwatch, Thema: Demokratie und Bürgerrechte

20.07.2009
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Sehr geehrter Herr Gehrcke,
Ihrem Profil auf abgeordnetenwatch entnehme ich, dass sie u.a. Journalist sind. Ein Journalist ist dem breiten Publikum, d.h. der Öffentlichkeit verpflichtet. Warum antworten Sie als Journalist nicht den Ihnen gestellten Fragen? Ich habe Sie im März zu einer Anwort bezüglich meiner Fragen zu Venezuela, Kuba und Kolumbien gebeten. Warum verweigern Sie bis zum heutigen Tag jede Antwort. Sind Ihnen die Menschrechtsverletzungen auf Kuba entgangen? Ist Ihnen die Unterstützung der terroristischen FARC durch Hugo Chavez fremd? Sind die Menschenrechte nur dann relevant wenn sie von den USA verletzt werden, Menschenrechtsverletzungen durch sozialistische Regime aber legitim? Bitte zeigen Sie das Sie Ihrem journalistischen Grundethos (auch als Abgeordneter) verpflichtet sind und antworten Sie bitte auf meine Fragen.

Antwort von Wolfgang Gehrcke:
es gibt sicher genügend Anlass, sich kritisch mit der Regierung Chavez auseinanderzusetzen. Aber im Gegensatz zu früheren Regierungen, insbesondere jener von Carlos Andres Peres 1988 -1991, gibt es im heutigen Venezuela eher wenige Gefangene mit einem „politischen“ Hintergrund. Die Zeit unter Carlos Andres Peres, der auch Vizepräsident der Sozialistischen Internationale war, war voller Repressionen, so venezolanische Augenzeugen aus jener Zeit. Als Chavez in Venezuela das Amt des Präsidenten übernahm, war Venezuela alles andere als in einem stabilen, demokratischen und rechtsstaatlichen Zustand. Gespräche, die ich in Venezuela sowohl mit Unterstützern von Chavez als auch mit Oppositionellen führte, ergeben natürlich eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung der Situation des Landes. Da in Deutschland die Sichtweise der Chavez-Anhänger in den Medien eher stigmatisiert wird, möchte ich diese kurz skizzieren. Venezuela galt lange als ein Land auf dem Weg, die Unterentwicklung abzustreifen. Der Grund dafür ist der enorme Ölreichtum des Landes. Die 60er und 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zählten zu den goldenen Jahrzehnten in Venezuelas Geschichte. 70 Prozent der Bevölkerung avancierten damals zur Mittelschicht. Wie alle anderen Länder Lateinamerikas verschuldete sich Venezuela trotz des Ölreichtums. Das war aber ohne Not. Denn im Unterschied zu den allermeisten Ländern Lateinamerikas verfügte der venezolanische Staat auf Grund des Ölreichtums über viel Geld. Kapital zur Industrialisierung des Landes war ausreichend vorhanden. Aber die umfangreichen Öleinnahmen des Landes verschwanden in einem dunklen Bermudadreieck der Oligarchie. Der Industrialisierungsprozess, der ansehnliche Ausmaße erreichte, wurde von international geliehenem Geld finanziert. Mitte der achtziger Jahre spitzte sich die Lage zu. Die Verschuldung wurde dramatisch. Wie andere Länder Lateinamerikas musste Venezuela auf Diktat der Weltbank eine neoliberale Politik umsetzen. Sie traf insbesondere die Ärmsten, aber auch die Mittelschicht. Galten damals noch 70 Prozent als Mittelschicht, so waren bereits Anfang der 90er Jahre mehr als 80 Prozent in die Armut herabgesunken. 50 Prozent der Bevölkerung vor Chavez’ Regierungsübernahme galten als extrem arm. D.h. sie müssen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Bildung und Gesundheit waren in einem erbärmlichen Zustand. Die ärmere Bevölkerung konnte sich Schul- und Arztbesuche nicht leisten, denn öffentliche Bildung und Gesundheit waren zusammengebrochen. Präsident Carlos Andres Peres von der sozialdemokratischen Accion Democratica leistete den Forderungen von IWF und Weltbank folge. 1989 kam es unter seiner Präsidentschaft zu einer Hungerrevolte; sie wurde bekannt unter dem Namen „Caracazo“. Die Unterdrückung dieses Aufstandes kostete 3000, verschiedene Quellen sprechen von 7000, Menschen das Leben. Armee und Polizei gingen mit äußerster Brutalität gegen die protestierende Bevölkerung vor. Das war die Geburtsstunde einer fortschrittlichen Gruppierung junger Offiziere innerhalb der venezolanischen Streitkräfte. Sie nannte sich ‚Bewegung Bolivar 2000’. Diese jungen Offiziere zielten auf die Umsetzung eines Programmes, in dessen Zentrum die Armutsbekämpfung stand. Auch wollten sie nicht, dass die Streitkräfte jemals wieder für repressive Zwecke eingesetzt werden, wie dies bei der Niederschlagung der Hungerrevolte von 1989 geschah. Seit Chavez an die Regierung gekommen ist, hat sich offensichtlich vieles zum Besseren gewendet. Das bestreitet auch die Opposition nicht, zumindest Teile von dieser. Er hat viele Sozialprogramme auf dem Weg gebracht. Die Lage der Armen hat sich merklich verbessert. Ein Gesundheitssektor für die Ärmsten mit Unterstützung kubanischer Ärzte wurde aufgebaut. Bildung hat die ärmsten Schichten des Landes erreicht und sie sind zum ersten mal in der Geschichte Venezuelas in den demokratischen Willensprozess einbezogen worden. Millionen früher apathisch dahinlebende Slumbewohner sind politisch erweckt worden, haben im Rahmen einer Alphabetisierungskampagne lesen und schreiben gelernt und haben sich in die Wahlregister eintragen lassen. Sie, diese Mehrheit der Venezolaner, sind es, die Chavez bei den Wahlen die Mehrheit sichern. Alle diese Veränderungen in Venezuela haben in einem demokratischen Prozess stattgefunden.

Die alten Eliten, die zum ersten Mal in der Geschichte Venezuelas gezwungen waren, ihren Reichtum in Form von erhöhten Steuerzahlungen mit den Armen zu teilen, fanden und finden sich mit diesen einschneidenden Veränderungen nicht ab. Für sie ist es der Pöbel, der jetzt regiert. Mittelschichtaktivisten der rechtskonservativen Partei Primero Justicia, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung beraten wird, machen in vertrauter Runde keinen Hehl von ihrem Rassismus und sagen, es sind die Neger, die jetzt Venezuela regieren. Sie organisierten 2001 einen Putsch gegen den legalen, demokratisch gewählten Präsidenten Chavez. Das „demokratische“ Europa machte keinen Hehl daraus, dass es mit den Putschisten sympathisiert.

Oft wird in unseren Medien über die Ausschaltung der Demokratie in Venezuela berichtet. Das ist eine eindeutige Falschaussage. Auch wird Venezuela in Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen gebracht. Dies muss man natürlich prüfen. Vieles spricht eher dafür, dass das Venezuela von Chavez demokratische und rechtsstaatliche Normen einhält. Die brutale Repression früherer Zeiten gegen den politischen Gegner gibt es nicht. Selbst die Wahlbeobachter-Mission von Jimmy Carter attestierte, dass die Wahlen in Venezuela völlig ordnungsgemäß verlaufen sind und den demokratischen Standards entsprachen.

Menschenrechtsorganisationen klagen über das Verhalten der Polizei in Caracas. Die Polizei von Caracas untersteht allerdings nicht der Zentralregierung, sondern dem Bürgermeister der Stadt - und dieser gehört der Opposition an. In den deutschen Medien wird über die Einschnürung der Pressefreiheit in Venezuela berichtet. Aber es werden Informationen über den Missbrauch der Pressefreiheit ausgelassen. Über 80 Prozent der Print-, Funk- und Fernsehmedien befinden sich in privater Hand. Diese kontrollierten bisher die öffentliche Meinung. Sie sind Eigentum von drei Oligarchen-Familien. Und sie missbrauchten diese Monopolstellung. Bis vor kurzem gab es keinerlei öffentlich-rechtliche Mitsprache über Medien. Ein neues Mediengesetz soll der Willkür Einhalt gebieten. Soziale Akteure sollen mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in den Medien erhalten. Die wichtigsten Medien des Landes riefen 2001 offen zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten auf. In keinem europäischen Land würde man den Medien so eine Aufforderung zum Verfassungsbruch durchgehen lassen. Auch der Ruf nach der Ermordung des Präsidenten klang in so manchen der Medien durch. Ein Muster für den neuen öffentlich-rechtlichen Sektor ist die Regelung, die es in Deutschland gibt, welche den Kirchen, Gewerkschaften, Parteien eine Mitgestaltung ermöglicht. In Venezuela kommt hinzu, dass auch soziale Bewegungen im Rahmen der partizipativen Demokratie ein Mitspracherecht in den Medien erhielten.

Venezuela bestreitet jegliche militärische Unterstützung der FARC. Die kolumbianischen Behörden behaupten dies hingegen seit langer Zeit, haben aber bisher keine Beweise liefern können. 2008 gelangte der Laptop des von kolumbianischen Spezialeinheiten im Zuge eines völkerrechtswidrigen Überfalls auf ecuadorianisches Staatsgebiet ermordeten FARC-Kommandanten Reyes in die Hände der Militärs. Eine internationale Überprüfung des Lapptops von Reyes verweigerten die kolumbianischen Behörden. Es ist nicht auszuschließen, dass Reyes Laptop manipuliert wurde

In diesem Laptop sollen nun Informationen gefunden worden sein, die eine angebliche Verwicklung Venezuelas zur Unterstützung der FARC beweisen. Dies bestreitet die Regierung Venezuelas vehement. Die venezolanische Regierung ist sehr daran interessiert, den Friedensprozess in Kolumbien zu befördern. Sie hat bisher Vermittlungsaufgaben übernommen. Ähnlich wie andere Länder Lateinamerikas.

Selbstverständlich müssen auch Menschenrechtsverletzungen auf Kuba, sofern es solche tastsächlich gibt, kritisiert werden. Aber man muss auch ein Klima schaffen, in dem sich eine ernsthafte Debatte über Menschenrechte auf Kuba entwickeln lässt. Aber solange die Aggression der USA gegen Kuba anhält, wird dies nicht möglich sein. Die ständige Angst, von den USA angegriffen zu werden, wie 1961 in der Schweinebucht, erschwert eine demokratische Normalisierung der Gesellschaft, einen kubanischen Weg in Frieden, Freiheit und sozialer Gleichheit zu leben. Sehr geehrter Herr Schneider, Sie würden mit der Forderung nach einem Ende der 40 Jahre anhaltenden US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba sicherlich einen Beitrag für die Herstellung eines positiven Klimas für Menschenrechte in Kuba leisten.

Wolfgang Gehrcke