Von der Protest- zur Staatspartei

DIE GRÜNEN werden 40 (von Christiane Reymann)
13.01.2020
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Christiane Reymann

Diesen Beitrag schrieb Christiane Reymann im Januar 2020 für die Mitteilungen der Kommunistischen Plattform.

Die Gründung der GRÜNEN als Partei am 13. Januar 1980 ist Ausdruck von materiellen und Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein in den endsechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Westdeutschland. Nach den Jahren des „Wirtschaftswunders“ mit Wachstumsraten bis 12 Prozent bricht die Wirtschaft 1966/67 erstmals ein. Es folgt die Ölkrise von 1973, als die OPEC-Länder aus Protest gegen den israelischen Jom-Kippur-Krieg das schwarze Gold verknappen und verteuern. Die Sorge, dass es nicht immer aufwärts ginge und die Basis des (relativen) Wohlstands verletzlich sei, paart sich mit Angst, als der Bau von schließlich 32 AKW für den kommerziellen Betrieb beginnt. Und dann sollen auch noch laut „NATO-Doppelbeschlusses“ von 1979 mehr und moderne Atomraketen in Westdeutschland stationiert werden, was vier Jahre später tatsächlich geschieht.

Die Bevölkerung nimmt Hochrüstung oder Umweltzerstörung – beides kreuzt oder durchdringt sich in jenen Jahren – nicht einfach hin. Ihr Widerstand ist stark, mächtig, mutig, doch kann er weder die AKW noch die Raketen verhindern. Gleichwohl wird Protest, beginnend mit 1968, nun nicht mehr die Ausnahme, sondern Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

Das betrifft die Formen der politischen Auseinandersetzung – Demonstrationen, Blockaden, Besetzungen -, und Inhalte, namentlich Kritik an Wachstumsfetisch, Atomkraft und Kriegsgefahr. Die etablierten Parteien erweisen sich als unfähig, dieses veränderte Wert- und Weltgefühl aufzunehmen; fast so wie heute. Weil die damaligen Bewegungen keine Ansprechpartner in den Parlamenten finden, machen sie sich selbst auf den Weg dorthin. Unterschiedliche grüne und bunte Listen kandidieren zunächst in Kommunen. Zu den Europawahlen 1979 bildet sich die „Sonstige politische Vereinigung Die GRÜNEN“ als Dach so heterogener Gruppierungen wie Grüne Liste Umweltschutz (GLU), Grüne Aktion Zukunft (GAZ) und Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) unter Beteiligung der Grünen Liste Schleswig-Holstein, der anthroposophischen Aktion Dritter Weg und der Freien Internationalen Universität des Künstlers Joseph Beuys.

Die Liste verpasst zwar den Sprung ins Europaparlament, erhält aber vom Bund 4,8 Millionen Mark Wahlkampfhilfe erstattet ... wenn, ja wenn sie sich als Partei konstituiert! Das wirkt. Auf den Erfolg versprechenden Zug der bunten Gruppierungen sind zu diesem Zeitpunkt Vertreter der stramm antikommunistischen und militanten Spontiszene um Joschka Fischer und die Kader des maoistischen KB (Kommunistischer Bund) um Jürgen Trittin und Jürgen Reents aufgesprungen. Als Aktive der ersten Stunde sind geblieben etwa Petra Kelly mit ihrer Aura aus Glaubwürdigkeit und Frische, aber auch Baldur Springmann, Ökolandwirt, in der Weimarer Republik Leutnant der Schwarzen Reichswehr, im Faschismus Mitglied der SA, SS, NSDAP.

Auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung übernehmen die GRÜNEN 1983 deren Forderungen in ihr „Friedensmanifest“: Abkehr vom NATO-Doppelbeschluss, für ein block- und atomwaffenfreies Europa von Polen bis Portugal, schrittweiser Austritt der Bundesrepublik aus der NATO. Im selben Jahr zieht die Partei mit 5,6 Prozent in den Bundestag ein. Sie gibt ihrer Fraktion das Rotationsprinzip (Wechsel der Mandatsträger nach der halben Legislaturperiode) mit auf den Weg und einen Diäten-Selbstbehalt von 1.950 DM plus 500 DM je zu unterhaltender Person. Beides funktioniert schon in der ersten Legislaturperiode nicht wirklich, dann verschwindet es in der Versenkung.

Kaum im Bundestag, geht der Streit um Regierungsbeteiligungen los. In ihm etablieren sich die Strömungen von sogenannten Realos, Fundis und einer Mittelgruppe namens „Aufbruch“. Sie werden in den kommenden Jahren die Leitungen von Fraktion und Partei unter sich aufteilen; nach dem Zusammenschluss mit Bündnis 90 kommt eine Ostquote hinzu. 1985 bildet sich in Hessen die erste rot-grüne Landesregierung, danach wird programmatsch rot-grün auf Bundesebene zunächst eine „Option“, 1998 dann Wirklichkeit.

Zuvor hatte die deutsche Einheit die Partei in die Krise gestürzt und die Konflikte zwischen Ökosozialisten und Realos brachen in aller Unversöhnlichkeit auf. Die GRÜNEN hatten der einig-Vaterlandseuphorie mit ihrem Motto zur Bundestagswahl 1990 „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Klima“ die Stirn geboten. Das ging gründlich schief. Im Wahlgebiet West scheiterten sie an der 5-Prozent-Hürde, die Bündnis ´90 im Osten überspringrang. Die Schuldigen für dieses Debakel hatte Josef Fischer schon vor der Wahl ausgemacht: „Die linksradikalen Sprücheklopper sind eine tödliche Gefahr“ [1]. Die angesprochenen Ökosozialisten um Thomas Ebermann, Rainer Trampert, Christian Schmidt, Regula Schmidt-Bott verließen in Größenordnungen die Partei, Jutta Ditfurth würde ihnen folgen. Der verbliebene Realo- und Aufbruchs-Rest entfernte die Teile aus dem Programm, die an systemoppositionelle Alternativen erinnern könnten. Ab jetzt verstehen sich die GRÜNEN als „Reformpartei“ in der parlamentarischen Demokratie. Dort wollen sie nicht am Rande rumlümmeln, sondern, wie Renate Künast es später ausdrücken wird, „Partei der neuen Mitte“ sein.

Von der pazifistischen zur Kriegspartei

Aus der Bundestagswahl 1998 gehen SPD und Grüne als Sieger hervor. Ein Kapitel ihres Koalitionsvertrages heißt: Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Unter diesem Banner führt Rot-Grün Deutschland in den Krieg. Im Herbeilügen des Kosovo-Krieges bleiben sich Verteidigungsminister Scharping (SPD) und Außenminister Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nichts schuldig. Weder gab es das von Scharping behauptete „KZ im Fußballstadion von Pristina“ noch den von ihm präsentierten „Hufeisenplan“ zur Vertreibung aller Albaner aus dem Kosovo, noch die von Fischer entdeckte „serbische SS“. Noch vor ihrer Vereidigung hatten Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder in Washington zugesagt, den Jugoslawienkrieg, den die Clinton-Regierung ansteuerte, mit zu tragen. Vasallentreue zur NATO ist bundesdeutsche Staatsräson – und sei es bis zur unheilvollen Zerstörung des Völkerrechts, die ihren langen Schatten auf das nahe neue Jahrtausend wirft.

Am 24. März 1999 bombardieren die ersten Tornados aus Deutschland Belgrad. Sieben Wochen später tagt dazu ein GRÜNEN Sonderparteitag unter dem Schutz von 1 500 Polizistinnen und Polizisten. Ein Farbbeutel trifft dennoch den Außenminister. Seine Haltung als Befürworter von Gewalt(-androhung) ist schon damals über jeden Zweifel erhaben. Noch aus der Opposition heraus hatte er die von der CDU-Regierung verhängten Strafmaßnahmen gegen Belgrad überboten, sodass Volker Rühe (CDU) im Juni 1998 in einer Bundestagsdebatte sagt: „Wenn ich Sie sprechen höre, habe ich manchmal Angst, dass Sie die sofortige Bombardierung Belgrads fordern, nur um im Rennen der Realpolitiker weiter vorn zu sein.“

Früh hatte Volker Rühe in seinem politischen Konkurrenten dessen historische Mission erkannt. In seiner Rede auf dem GRÜNEN Parteitag erfindet und perfektioniert Fischer eine neue Kategorie: Den moralisch sauberen Krieg, die „humanitäre Intervention“. Zu der seien insbesondere Deutsche als Sühne für Auschwitz verpflichtet. Ohne es aussprechen, wirkt die „humanitäre Intervention“ als Katharsis, mit der sich „die Deutschen“ von ihrer Schuld an Barbarei und Völkermord reinigen. Darüber hinaus zerreißt der Auschwitz-Vergleich die Bindung von Antifaschismus und Nie wieder Krieg. Seitdem hat sich der so gestutzte „Antifaschismus“ mit der allüberall legitimierten „ultima ratio“ des Krieges verbunden, gemeinsam begründen sie Androhung oder Anwendung von Gewalt zum Regime-Change von der Ukraine über Brasilien nach Venezuela und Bolivien oder auch „nur“ zur Öffnung von Märkten.

Von Helmut Kohl ist der Ausspruch überliefert: Wo einmal deutsche Soldaten waren, werden sie nicht wieder ihren Fuß hinsetzen. Selbst, wenn es eine konservative Regierung gewollt hätte: Die Wende von einem Deutschland der militärischen Zurückhaltung zu einer kriegsführenden Macht im Herzen Europas hätte sie politisch nicht durchsetzen können. Das Gleiche gilt für die Agenda 2010, mit der Rot-Grün erst den Arbeitsmarkt und das soziale Gefüge in Deutschland zerstört, bevor dieses Modell in viele Länder der Europäischen Union exportiert wird.

Seitdem sie sich Krieg als Mittel der Außenpolitik und Marktwirtschaft als Mittel zur Gestaltung von Ökologie, Ökonomie, Wirtschaft und Sozialem zu eigen gemacht haben, sind die GRÜNEN zu einer staatstragenden Partei geworden[2]. Sie können mit allen außer der AfD regieren. Ihre Farbenkoalitionen sind bunt: rot-grün (ab 1985 in Hessen und später im Bund), Ampel (erstmals 1990 in Brandenburg), rot-rot-grün (ab 2014 in Thüringen), schwarz-grün (erstmals 2008 in Hamburg), Jamaika (ab 2009 im Saarland). 2010 sind, nach Fukoshima, Fraktionen von BÜNDNIS´90/Die Grünen in allen 16 Landesparlamenten vertreten. Aktuell sind die Grünen in elf von 16 Bundesländern an der Regierung beteiligt, ohne dass man von dieser ihrer Mehrheitsbeteiligung Nennenswertes aus dem Bundesrat bemerkt.

Auf ihrem Gründungskongress vor 40 Jahren hatten nicht wenige der Delegierten eine Vision: Die GRÜNEN würden die FDP beerben. Dass sie dermaleinst nicht nur die Partei der Besserverdienenden, sondern der Bestverdienenden sein würden – das hatten sie damals noch nicht auf dem Zettel. Sie dachten zunächst daran, die Funktion der FDP als Mehrheitsbeschafferin im parlamentarischen System zu übernehmen. Heute können sie sagen: Mission accomplished, Mission erfüllt. Nur die Union muss noch ein bisschen lernen, dass sie zur Regierungsbildung auf Bundesebene künftig auf die GRÜNEN angewiesen sein wird.


[1] Völlig irre, DER SPIGEL 16/1990. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13498886.html

[2] Dazu erhellend: Paul Tiefenbach, DIE GRÜNEN. Verstaatlichung einer Partei, Köln, 1998.