Der Krieg in Gaza

25.08.2009
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Bei Demonstrationen und anderen Veranstaltungen gegen den Gaza-Krieg habe ich oft gehört: „Was Israel im Gaza-Krieg an Verbrechen verübt hat, ist schlimmer als die Zerstörung des Warschauer Ghettos.“ Ich habe versucht, mit denen, die solche Positionen vertreten, zu diskutieren. Denn ich konnte und kann diesen Vergleich nicht unwidersprochen lassen. In der Diskussion sah ich mich versucht, diesen Vergleich empört zurückzuweisen. Aber es geht bei dieser Aussage gar nicht um einen Vergleich, auch nicht um eine Gleichsetzung, sondern um ein „schlimmer noch!“ Und mein Versuch, in der Diskussion eine Klärung herbeizuführen, war oft vergebens.


Vergleiche sind sinnvoll, sie können bei der Erfassung und Beurteilung von Ereignissen hilfreich sein. Also sollte ich die Geschichte des Warschauer Ghettos hier skizzieren und dann einen historischen Vergleich mit dem Gaza-Krieg anstellen. Diese spontane Reaktion liegt nahe. Aber: 
Ich weiß, dass dieser Vergleich ergeben wird, dass eine Gleichsetzung falsch ist. Wem es um Erkenntnis und Wahrheit geht, kann sich ganz einfach im Internet über die Geschichte des Warschauer Ghettos, die Deportation Abertausender von Jüdinnen und Juden in den Tod, den Aufstand jüdischer Kämpferinnen und Kämpfer und die Niederschlagung durch die faschistische deutsche Wehrmacht sowie schließlich auch die Zerstörung des Ghettos informieren. 

Ich habe bei verschiedenen Anlässen aus einer Debatte mit einem israelischen Professor zitiert: Zu meiner Position, dass man auch einen Dialog mit der Hamas suchen muss, stellt er mir die Frage, ob ich das Bild des kleinen jüdischen Jungen vor den Gewehrläufen der SS im Warschauer Getto kenne? Und er zog die Schlussfolgerung: „Deshalb, Herr Gehrcke, werden die Kinder Israels nie wieder wehrlos sein.“ Ich habe bei ihm nachgefragt, ob er als Literaturprofessor auch das Gedicht von Bertolt Brecht über das Große Karthago in seine Überlegungen einbeziehen könne? Das große Karthago, das drei Kriege führte und nach dem dritten nicht mehr auffindbar war.. Israel hat mit seinen Kriegen nicht mehr Sicherheit, sondern weniger Sicherheit gewonnen. Und trotzdem prägt das Bild des wehrhaften Israel ganz stark das Alltagsbewusstsein in diesem Land. 

Bei einer Debatte mit Palästinenserinnen und Palästinensern, die ich mit meinen Erfahrungen zu diesem Bild eröffnete, wurde ich sofort gefragt, ob ich denn Bilder palästinensischer Kinder vor israelischen Gewehrläufen kenne? Ich habe darauf geantwortet, dass ich will, dass nie wieder Kinder vor Gewehrläufen stehen. Diese Äußerung nutzte der CDU-Bundestagsabgeordnete Uhl, um mich zu beschuldigen, ich hätte den Umgang Israels mit den Palästinensern mit dem Mord an Jüdinnen und Juden gleichgesetzt. Diese Behauptung konnte Herr Uhl nicht aufrechterhalten und hat sie auch auf seinen Internetseiten inzwischen korrigiert. Kategorisch: Der Holocaust, die industrielle Vernichtung des europäischen Judentums ist ein einmaliges Menschheitsverbrechen, mit nichts zu vergleichen und schon gar nicht gleichzusetzen. 

Der Tod eines Kindes im Krieg ist unsäglich schrecklich und die betroffene Familie weiß nicht, wie sie den Schmerz darüber ertragen kann. Aber ich bezweifele, dass dieser Familie damit geholfen ist, wenn dieses Kriegsverbrechen mit den Nazi-Verbrechen am jüdischen Volk verglichen wird. Dabei könnte ich verstehen, wenn die Opfer in ihrer ohnmächtigen Wut und Verzweiflung für die Tötung ihres Kindes die schlimmsten, mächtigsten Flüche verwenden. Kein Wort kann ihre Wut, ihren Schmerz angemessen wiedergeben.

Aber den nicht direkt Betroffenen ist das nicht erlaubt, schon gar nicht in der politischen Auseinandersetzung. Da muss es darum gehen, zu vergleichen, zu bedenken, Maßstäbe und Kriterien anzuwenden, die das Völkerrecht entwickelt hat und die der historischen Wahrheit verpflichtet sind. 

Aus gutem Grund unterscheidet das Völkerrecht zwischen Kriegen zur Verteidigung und zum Angriff, zwischen Angriffen auf Militärs und auf Zivilpersonen so wie das Strafrecht zwischen Notwehr, Totschlag und Mord unterscheidet. Auch Laien können häufig diese Unterschiede recht gut erkennen. Insbesondere dann, wenn ihr Blick nicht von massiver Propaganda getrübt ist und zum Beispiel die Tötung eines Kindes nicht als „Kollateralschaden“ oder „Putativnotwehr gegen künftige Terroristen“ dargestellt wird.

Tatsächlich hat sich die israelische Armee in Gaza Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Darüber liegen mutige und zugleich furchtbare Zeugnisse israelischer Soldaten und Offiziere vor. Es ist richtig und notwendig, dies vor der Weltöffentlichkeit anzuprangern und zu verurteilen – auf der Grundlage sorgfältiger Untersuchungen von UNO und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese Verbrechen dürfen nicht durch eine falsche Gleichsetzung vom Tisch gewischt und entwertet werden! 

Gerade im Nahost-Konflikt halte ich es für unverzichtbar, immer wieder auf die Stimme der Vernunft zu hören. Denn seit 60 Jahren haben die Konfliktparteien ihre Beziehungen zueinander vergiftet: mit Vorurteilen, Abwertungen, Drohungen, Missachtung von Menschenrechten, Krieg und Anschlägen, die vom Terror der Ohnmacht geprägt sind. 

Was kann in einer solchen Situation der Vergleich bewirken, dass die israelischen Verbrechen von Gaza schlimmer als die der Nazis im Warschauer Ghetto wären.

Dieser schreckliche und falsche Vergleich bewirkt keine Abrüstung in der psychologischen Kriegführung zwischen Israel und Palästina. Mit dieser psychologischen Kriegführung kann man keine Bündnispartner gewinnen, um Israel zu einer Friedenslösung zu bewegen und zum Ende kriegerischer Aktionen, die wieder unendliches Leid über die Zivilbevölkerung bringen werden. Sicher ist, dass diese und ähnlich Vergleiche die antiarabischen Ressentiments in der israelischen Bevölkerung gewiss nicht verringern werden. Angesichts der Tatsache, dass beide Seiten seit Jahrzehnten Hass auf neuen Hass türmen, kommt es jetzt darauf an, endlich die Spirale der Gewalt zu stoppen. Beginnen wir mit dem Stopp der Kriegs- und Gewaltpropaganda!

Davon abgesehen ist der Vergleich Gaza „schlimmer als“ das Warschauer Ghetto auch deshalb fatal, weil so die Verbrechen des deutschen Faschismus klein geredet werden. Wir haben aber allen Grund, die Erinnerung an die Beteiligung des deutschen Militärs an den NS-Verbrechen lebendig zu halten.