"Unser Marsch ist eine gute Sache..."

03.04.2010
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Vor 50 Jahren fand der erste deutsche Ostermarsch statt

Vor 50 Jahren fand der erste deutsche Ostermarsch zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide statt. Erinnerungen eines Teilnehmers, der seit 1961 dabei war
Siehe auch: http://www.jungewelt.de/2010/04-03/004.php


Aus den dreitägigen Ostermärschen gegen Atomrüstung seit 1960 entwickelte sich 1963 die ständige »Kampagne für Abrüstung« und 1968 die gesellschaftskritische »Kampagne für Demokratie und Abrüstung«. Die Zahl der Teilnehmer an den Märschen und Kundgebungen stieg in diesem Zeitraum von 1000 auf rund 300000. Nach Verabschiedung der Notstandsgesetze, dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei (1968) und der Bildung der Koalition von SPD und FDP (1969) stagnierte die Friedensbewegung, 1970 fanden keine Ostermärsche statt. Mit dem Protest gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Zentraleuropa erlebte die Bewegung ab 1982 einen neuen Aufschwung. Seit 1980 fanden Demonstrationen u. a. vor der Baustelle für die größte US-Kasernenanlage Norddeutschlands in der Garlstedter Heide zwischen Bremen und Bremerhaven statt.

Unser Marsch ist eine gute Sache/weil er für eine gute Sache steht. Wir marschieren nicht aus Haß und Rache,/ wir erobern kein fremdes Gebiet …« Mit diesen Liedzeilen (Text und Musik: Hannes Stütz) begannen und endeten viele Ostermärsche der Atomwaffengegner. Eine relativ einfache Sprache und eine einfache Logik. Wir sind die Guten, das war das Lebensgefühl der Ostermarschierer – und das ist es wahrscheinlich bis heute. Politischer hat das dann der Schriftsteller Christian Geißler auf den Punkt gebracht: »Wer nicht aufpaßt, der wird betrogen. Wer nicht genau nachdenkt, der landet im Dreck. Wer den alten Machthabern die Macht läßt, bleibt ohnmächtig.«

Bewegungen bauen oft auf Vorangegangenem auf. Der Vorläufer der Ostermärsche war die Antiatomwaffenbewegung in Großbritannien, die Campaign for Nuclear Disarmament (CND). Sie stiftete auch das Friedenssymbol aus den übereinander plazierten Buchstaben N(uclear) und D(isarmament) des internationalen Winkeralphabets. Die Märsche nach Aldermaston, dem britischen Forschungszentrum für Atomwaffen, mobilisierten seit 1958 die Menschen. In der Bundesrepublik waren in den 50er Jahren vor allem zwei Massenmobilisierungen vorangegangen, die sogenannte Ohne-mich-Bewegung gegen die Wiederbewaffnung und die vor allem von der SPD vorangetriebene Kampagne »Kampf dem Atomtod!«, die Hunderttausende auf die Straßen und Plätze gebracht hatte. Nach dem außenpolitischen Kursschwenk der SPD, ihrem Ja zur Wiederbewaffnung, dem Ja zur NATO und der Absage an die Neutralität Deutschlands war dann auch Schluß mit ihren außerparlamentarischen Protesten.

Die deutschen Ostermärsche wären ohne so konsequente Pazifisten wie Hans Konrad Tempel und Helga Stolle, Andreas Buro und Klaus Vack sowie illegal arbeitender Kommunisten wie Frank Werkmeister, Ulli Sander oder Gunnar Matthiessen nicht zustandengekommen.

Seit 1961 gehörte ich dazu. Der Ostermarsch damals von Bergen-Hohne, dort waren US-Atomraketen stationiert, nach Hamburg war mein erster. Bereits diese erste Teilnahme hatte ihren Preis – meinen Ausschluß aus der SPD. Im August 1961 flog ich bei den Falken raus, Begründung: Aufruf zum und Teilnahme am Ostermarsch. Strafverschärfend kam die SPD-Feststellung hinzu, daß ich Brecht und Marx lese und Kommunisten kenne. Während des Kalten Krieges war vieles möglich. Ich will nicht undankbar sein. So früh aus der SPD ausgeschlossen worden zu sein, hat unterm Strich zu einer linken Selbstfindung beigetragen.

Vielleicht ist diese Biographie für meine Generation nicht ganz typisch, aber die Ostermärsche haben Tausende in die politischen Bewegungen gebracht. Wo andere sich erinnern an Familienfeste und Ostereiersuchen, steht für viele Kinder der Linken der jährliche Marsch. Und das nun schon fast 50 Jahre!


Auf und Ab des Protestes

Hunderttausende waren in der Bewegung »Kampf dem Atomtod!« aktiv, bei den ersten Ostermärschen nur einige hundert. Die ersten Märsche waren eine physische und psychische Kraftanstrengung. Bewußt sollten sie einer sich etablierenden Wohlstandsgesellschaft moralischen Rigorismus und auch Märtyrertum entgegensetzen. Drei Tage auf den Beinen, Übernachtung in Scheunen, Schulen, Turnhallen; als neue Aktionsform wurde der Schweigemarsch entdeckt, obwohl wir eigentlich viel miteinander zu bereden gehabt hätten. Ich erinnere mich an Gottesdienste während der Demonstrationen, Christen mit schweren Holzkreuzen – den Leidensweg Jesu nachempfindend.

Die Ostermarsch-Initiative war in weiten Teilen eine Angst-und-Moral-Bewegung. Die Angst vor der atomaren Vernichtung der Schöpfung war ein Ausgangspunkt für viele ihrer Aktivisten, mit denen sich wiederum Zehn- und Hunderttausende engagierten. »Ostermarsch für das Leben« stand auf den ersten Transparenten. Die Unterstützerinnen und Unterstützer, Aufruferinnen und Initiatoren verkörperten in Zeiten des Kalten Krieges das bessere Deutschland. Von A bis Z – vom Politikwissenschaftler Wolfgang Abend­roth über die Philosophin Margherita von Brentano, den Soziologen Jürgen Habermas, den Vorsitzenden der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Adolf Kummernuss, den Kabarettisten Wolfgang Neuss, Pastor Martin Niemöller bis zu den Schriftstellern Siegfried Lenz, Günther Weisenborn und Gerhard Zwerenz – um nur einige zu nennen. »Wer sich am Ostermarsch beteiligt, schämt sich nicht einzugestehen, daß er Angst hat, Angst vor dem Leid und dem Sterben seiner Kinder, Angst vor der Vernichtung alles dessen, was seinem Leben und seiner Arbeit einen Sinn gegeben hat«, argumentierte die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz.

Die Aktivsten haben sich immer viel vorgenommen. Der damals prominente linke Politiker der britischen Labour Party, Anthony Greenwood, stellte 1963 fest: »Die Bewegung ging aus von Großbritannien, hat Wurzeln geschlagen in Frankreich und ist bereits zu einer starken oppositionellen Kraft in Deutschland geworden. Die Entwicklung unserer Bewegung in diesen drei Ländern wird die Weltlage revolutionieren.« Die Weltlage revolutionieren wollten mit Sicherheit nicht alle Begründer des Ostermarsches, und erst recht nicht mit Kommunistinnen und Kommunisten gemeinsam. Die Ostermärsche starteten als Bündnisbewegung wider Willen. Die Kommunistische Partei war in der Bundesrepublik seit 1956 verboten, und 1961 bauten die DDR und die anderen Warschauer-Vertrags-Staaten die Mauer. Mit Kommunisten zusammenzuarbeiten, das war der Bruch mit dem Grundverständnis der Gesellschaft West. Denn der Antikommunismus war nicht nur die Grundtorheit des Jahrhunderts, sondern er war eben auch die Überzeugung des größten Teils der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Mit Sicherheit haben Kommunistinnen und Kommunisten, die aktiv in der Friedensbewegung mitgearbeitet haben, sich für sie eingesetzt, aber zugleich Partnerinnen und Partnern viel zugemutet. Immer wieder wurde darüber gestritten, ob dies eine Bewegung für einseitige Abrüstung ist oder für Abrüstung in Ost und West. Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre entzündete sich der Streit daran, ob sich der Protest ausschließlich gegen die Stationierung der US-Raketen Pershing II und Cruise Missiles oder auch gegen die sowjetischen SS-22 richten sollte.

Die Friedensbewegung war selten eine Ein-Punkt-Aktion, auch wenn sie damit immer wieder, wie mit dem »Krefelder Appell« 1980, die deutsche Zustimmung zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa zurückziehen, sehr erfolgreich war. Vor allem war sie auch immer eine Bewegung für Demokratie. Frieden und Demokratie ließen sich in Westdeutschland nur gegen Springer durchsetzen. »Enteignet Springer!«, das war die Losung, unter der sich viele Ostermarschierer 1968 nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke wiederfanden. Die Auslieferung der Bild-Zeitung sollte verhindert werden und wurde auch verhindert. Plötzlich wurden Barrikaden gebaut, die Bewegung wurde militant. »Springer hat mitgeschossen« – das gilt bis heute. Viele Ostermarschiererinnen und -marschierer sahen sich plötzlich in Polizeigewahrsam und mit Gefängnisstrafen belegt. Mir brachte Ostern 1968 fünf Monate Haft auf Bewährung. Später, unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt, wurde ich amnestiert.

Bereits mit der Kuba-Krise 1962 und der Verschärfung des US-Krieges in Vietnam gelang der Brückenschlag zwischen Friedens- und antiimperialistischer Bewegung. Ein schwieriges Unterfangen – mußte doch eine Verbindung zwischen einer grundsätzlich gewaltfreien, radikal pazifistischen Bewegung und bewaffneten Befreiungsorganisationen zumindest gedanklich hergestellt werden. Aktive dieser Zeit erinnern sich an unendliche Diskussionen zur sogenannten Gewaltfrage, zur Ablehnung von Gewalt gegen Personen bei Akzeptanz von Gewalt gegen Sachen und an die Herausbildung einer neuen Vorstellung von Pazifismus – nicht als moralische, individuelle Verhaltensweise verstanden, sondern als politische Bewegung. Dieser politische Pazifismus schloß dann auch Befreiungsorganisationen ein und nicht aus.


Jugend- und Kulturbewegung

In einem Kommentar zum Ostermarsch 1965 in der Hamburger Zeitung Blinkfüer war zu lesen: »Freunde, ist der Ostermarsch nur eine Angelegenheit der Jugend?« Das würde ich heute gerne zu mancher Kundgebung, außerparlamentarischen Aktion oder Demonstration lesen. Die Aktiven aber sind alt geworden, ihre Köpfe grau oder kahl. Die Ostermarschbewegung war jung. Jung und frisch von ihren Ideen her, jung, frisch und unkonventionell in ihren Ausdrucksformen. Vor der politischen Hegemonie von Linken stand immer die kulturelle Hegemonie. Die Künstler waren damals links.

Drei Tage demonstrieren, in Scheunen, Schulen, Turnhallen nächtigen – und natürlich auch drei Tage lieben. Bürokraten hatten keine Chance, auch das war wohltuend. Die Ostermarschbewegung schuf sich ihre eigenen Ausdrucksformen. In ihr wirkten professionelle Künstlerinnen und Künstler wie Fasia Jansen, Dieter Süverkrüp, Diether Dehm oder die Bots ebenso wie einfache Song-, Skiffle- und Jazzgruppen. Die Verantwortung war groß, die Bombe sollte gestoppt und abgeschafft werden, aber man fühlte sich dennoch unbeschwert: Wir sind die Jugend, wir sind die Guten – wir stürzen das Alte um, wir bauen die neue Gesellschaft. Das Neue kam für die wenigsten damals aus dem Osten, da war ich eine Ausnahme. Das Neue kam von den Massendemonstrationen aus Paris und Rom und, bitte sehr, auch 1968 aus Prag – eben ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Wir brachten Zehntausende, Hunderttausende Menschen zusammen, und wir sorgten für ein neues, gemeinsames Lernen. Andreas Buro hat dies damals wunderbar ausgedrückt: »Beim Ostermarsch waren die Organisatoren selbst in den gemeinsamen Lernprozeß eingebunden. Das Lernen aus eigenen Erfahrungen erzeugte überhaupt erst die Bereitschaft zum selbständigen Lernen auf breiter Basis.« Der Ostermarsch, die Friedens- und Antinotstandsbewegung entwickelte massenhaft eigene Fachfrauen und Fachmänner. Ostermarschierer konnten zur Strategie der Friedensbewegung argumentieren, kannten sich aus in den Abrüstungsfragen, gingen in die Schulen und Jugendgruppen, klärten auf über den Vietcong und Soziales in Kuba, waren ebenso firm, Aktionsausschüsse zu gründen, Demos anzumelden.

Die Ostermärsche und andere Protestformen waren verbunden mit vielen, teilweise sehr kreativen Kongressen, Diskussionsforen und Teach Ins. Salopp geschrieben: Jede und jeder hatte sich schon mit jeder und jedem überworfen und doch wieder zusammengefunden. Hans Konrad Tempel und Helga Stolle wollten weißgewandete Friedensaktivistinnen und -aktivisten ausbilden, die im Konfliktfall zwischen die Fronten gehen. Also das, was die Blauhelme der UNO eigentlich machen sollten und nur selten wirklich tun (können). Für einen anderen Teil der Bewegung war dieser Vorschlag eine pazifistische Verirrung, wo es doch darauf ankam, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben zu erreichen. Wir erinnern uns: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!« Diejenigen mit den starken Armen haben das viel zu selten wirklich gewollt, aber trotzdem war es nicht ausgeschlossen und also nicht sinnlos, dafür einzutreten. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Betriebsräte haben in der Ostermarschbewegung immer eine Rolle gespielt. Vielleicht nicht die dominante, die ich mir über die Jahre gewünscht hatte, aber sie gehörten unbedingt ebenso dazu wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – in manchen Jahren sogar wie aktive Soldaten, Offiziere und Generäle. Nach der Nelkenrevolution in Portugal 1974 engagierten sich plötzlich europaweit »Generäle für den Frieden«. Und das Bild von Soldaten mit Nelken in den Gewehrläufen stieß auch bei Pazifistinnen und Pazifisten auf große Sympathie.

Gestritten wurde über fast alles, selbstverständlich auch darüber, ob Parteien dazugehören oder es sollten. Gestritten wurde über Rednerinnen und Redner, und die Auseinandersetzung »Militanz« kontra »Latschdemos« beschäftigte über lange Zeiten viele Aktive. Für einen Teil waren Lichterketten und rührselige Wunderkerzeneffekte auf den Festivals etwas Grauenhaftes, für andere Ausdruck einer neuen Gemeinsamkeit. Und plötzlich fanden sich ab 1982/83 alle vor Mutlangen und anderen US-Raketenbasen protestierend vereint in Blockaden wieder. Bewegungen können in einem spontanen Prozeß politisch und in ihren Ausdrucksformen an Militanz dazugewinnen, weit über das hinaus, was ihre Planer sich ausgedacht und für zulässig gehalten haben. Sie lassen sich nicht am grünen Tisch organisieren.

Ohne engagierte Menschen hätte es die Ostermärsche nie gegeben. Viele von ihnen haben sie geprägt, einen von ihnen nenne ich stellvertretend: Rudi Griebner, Hamburger Kommunist und zeitweilig sogar aus der Gewerkschaft ausgeschlossen, weil er Kommunist war. Er hat sich wieder reingekämpft und war Betriebsrat auf dem Fischmarkt. Nach den Notstandsgesetzen von 1968 klebte an seinem VW – sein ganzer Stolz – ein Plakat: »Mein Automobil bleibt zivil!«. Kein Infostand, an dem Rudi Griebner nicht für den Frieden geworben hat. Keine Versammlung, auf der er nicht über die Freundschaft mit der Sowjetunion sprach. Kein Pastor, der nicht von Rudi schon einmal kommunistisch umarmt worden war. Keine Spende, die er nicht gegeben hätte, und kein Buch, was man ihm nicht empfehlen konnte. Ohne diese Griebners keine Bewegungen.

»Unsre Hände sind leer, die Vernunft ist das Gewehr, und die Leute verstehn unsre Sprache«, so endet die erste Strophe des Ostermarschliedes. Das bleibt. Die Ostermärsche 2010 fordern: »Atomwaffen abschaffen! Afghanistan-Krieg beenden!«