"Was Köhler gesagt hat, ist verfassungswidrig"

28.05.2010
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Der Bundespräsident hat offenbar vergessen, was im Grundgesetz steht. Oder gar nicht erst gelesen.

Ein Gespräch mit Wolfgang Gehrcke und Peter Wolter - jungeWelt

 

Bundespräsident Horst Köhler hat eine neue Interpretation des Grundgesetzes vorgelegt: Im Deutschlandradio sagte er, die Bundeswehr habe auch die Aufgabe, »freie Handelswege« für die deutsche Wirtschaft zu gewährleisten. Hat diese Auslegung noch etwas mit unserer Verfassung zu tun?

Selbstverständlich nicht; was Köhler gesagt hat, ist verfassungswidrig. Dieser Ungeheuerlichkeit muß öffentlich widersprochen werden. Auch der Bundeswehreinsatz in Afghanistan hat nichts damit zu tun – was dort stattfindet, ist ein Angriffskrieg und laut Artikel 26 unter Strafe gestellt.

Der Verfassungsrechtler Ulrich Preuß hat bei Köhler einen »imperialen Zungenschlag« herausgehört …

Deutsche Außenpolitik ist impe­rial, den Weg dazu haben Gerhard Schröder (SPD) und sein Außenminister Joseph Fischer (Grüne) geöffnet, indem sie die Bundeswehr zum Instrument der Außenpolitik machten. Diese verfassungswidrige Linie haben ihre Nachfolger bis heute fortgesetzt. Köhler hat ausgesprochen, was längst Realität ist.

Das Amt des Bundespräsidenten hat aber auch normativen Charakter. Wie gehen Sie parlamentarisch mit Köhlers Interpretationskünsten um?

Weder Bundespräsident noch Regierung haben das Recht, Außenpolitik gegen das Grundgesetz zu betreiben – dieser Tabubruch muß im Parlament zumindest gerügt werden.

Der Skandal ist damit aber nicht zu Ende: Köhler hat in Afghanistan vor Soldaten versichert, die deutsche Nation stehe hinter ihnen. Nach Meinungsumfragen sind aber fast Dreiviertel aller Befragten dagegen – der Bundespräsident hat also die Soldaten belogen. Wäre das auch ein Fall für den Bundestag?

Selbstverständlich muß auch darüber im Bundestag gesprochen werden. Der ganze Kriegstourismus – ein Minister gibt dem anderen die Klinke in die Hand, der Bundespräsident will dem Einsatz der Bundewehr staatspolitische Weihen verleihen – dient dem Ziel, den Afghanistan-Einsatz in der Bevölkerung mehrheitsfähig zu machen. Das ist er aber nicht. Wenn Köhler ehrlich gewesen wäre, hätte er den Soldaten gesagt: »Sie sind von der Mehrheit des Bundestages hierher geschickt worden – gegen die Mehrheit der deutschen Bevölkerung.«

Wer das Grundgesetz mißachtet, gerät in dieser Republik schnell in das Blickfeld eines der vielen Verfassungsschutzämter. Müßten die sich jetzt nicht mit Köhler befassen?

Wir können die Absurditäten auch auf die Spitze treiben – natürlich wird niemand den Bundespräsidenten observieren lassen. Aber genauso absurd ist, daß Kriegsgegner beobachtet werden. Der Bundespräsident sollte sich darauf besinnen, daß er ein Verfassungsorgan ist und deswegen das Grundgesetz verteidigen muß. Er darf also nichts sagen, was der Verfassung entgegensteht.

Der Skandal hat eine weitere Dimension: Der Sender hatte die Passage, die sich auf die »freien Handelswege« bezog, nachträglich aus dem Transkript des Interviews getilgt. Riecht das nicht nach einer Intervention des Bundespräsidialamtes und nach Untertanengehorsam der Redaktion?

Unterstellen wir mal, daß es so gewesen ist. Ich finde es recht interessant, daß es im nachhinein einigen Leuten auffällt, wie verwerflich ein Bezug auf die deutschen Handelsinteressen ist, um den Bundeswehreinsatz zu rechtfertigen – das ist nämlich wirklich imperiale Politik.

Daß dem Präsidenten während seiner Rede nicht das Wort im Munde erstarrt ist, ist die eine Seite. Die Journalisten des Senders hätten aber die Aufgabe gehabt, eine so skandalöse Aussage zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte zu machen.

Wesentliche Grundsätze unserer Verfassung wie das So­zialstaatsgebot, die Möglichkeit von Enteignungen, die Rolle der Bundeswehr, die Würde des Menschen usw. werden zunehmend mit Füßen getreten. Wie paßt es zusammen, daß ausgerechnet diejenigen, die das kritisieren, als Verfassungsfeinde gelten?

Die Linke wird vom Verfassungsschutz beobachtet, ist aber die eigentliche Grundgesetzpartei – was sehr paradox ist. Die Aussagen unseres Programmentwurfs sind vom Grundgesetz gedeckt: Etwa zur Überführung von Banken in gemeinschaftliches oder in Staatseigentum, zur Einführung einer anderen Wirtschaftsordnung, zur Friedensordnung.

Tageszeitung jungeWelt vom 28. Mai 2010