Offener Brief an Uri Avnery

07.04.2011
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Lieber Uri,

da wir in den vergangenen Jahren in der wirklich schwierigen, unglaublich vertrackten Nahost-Problematik gut und auch mit Sympathie zusammengearbeitet haben, bin ich mir sicher, dass Widerspruch dich nicht verletzt, sondern dass Reaktion dir wichtig ist. Dies gilt auch aktuell für deinen Kommentar „Napoleons Diktum“ und deine darin ausgesprochene Befürwortung der militärischen Intervention gegen Libyen unter Gaddafis Herrschaft. Dieser Text hat in der deutschen Friedensbewegung und in der Öffentlichkeit viel Diskussion ausgelöst, Widerspruch und Unterstützung gefunden. Deswegen antworte ich dir öffentlich, in Freundschaft und mit Respekt.

 

 

Mögen andere von ihrer Schande sprechen,
ich spreche von der meinen.

Bertolt Brecht

 

Offener Brief an Uri Avnery

Lieber Uri,

da wir in den vergangenen Jahren in der wirklich schwierigen, unglaublich vertrackten Nahost-Problematik gut und auch mit Sympathie zusammengearbeitet haben, bin ich mir sicher, dass Widerspruch dich nicht verletzt, sondern dass Reaktion dir wichtig ist. Dies gilt auch aktuell für deinen Kommentar „Napoleons Diktum“ und deine darin ausgesprochene Befürwortung der militärischen Intervention gegen Libyen unter Gaddafis Herrschaft. Dieser Text hat in der deutschen Friedensbewegung und in der Öffentlichkeit viel Diskussion ausgelöst, Widerspruch und Unterstützung gefunden. Deswegen antworte ich dir öffentlich, in Freundschaft und mit Respekt.

Vielleicht hast du Recht und das Gaddafi-Regime lässt sich nur mit militärischer Macht beseitigen. Das ist eine hypothetische Annahme, die aber sofort die Frage nach sich zieht, wie stark die militärische Macht Gaddafis ist – und wer sie ihm verschafft hat. EU-Staaten, insbesondere auch Deutschland, haben Gaddafi mit Rüstungsgütern versorgt, seit 2004 das EU-Embargo aufgehoben wurde. Hubschrauber und Störsender, die sich insbesondere zur Niederschlagung der Opposition eignen, wurden bis 2009 von Deutschland geliefert. Der Wert seiner Rüstungsexporte an Gaddafi war allein im Jahr 2009 mit 53,2 Millionen Euro 13mal so hoch wie 2008. Das könnte die „Belohnung“ dafür gewesen sein, dass Gaddafi afrikanische Flüchtlinge von Europa ferngehalten und Öl geliefert hat.
Natürlich geht es um das Erdöl. Aus dessen Verkauf z.B. an Italien, Frankreich und Deutschland speist sich die Macht der Militärdiktatur Gaddafis.

Wenn heute der Tyrann gestürzt werden soll, wie du schreibst, dann muss mit bedacht werden, wer ihn so stark gemacht hat. Für mich ist es eine Frage der persönlichen und politischen Glaubwürdigkeit, auf meine „eigene Schande“, dies nicht verhindert gekonnt zu haben, zu verweisen. ‚Mit der Notwendigkeit, Tyrannen zu entfernen, muss man sich befassen‘. Das teile ich. Aber, … wer soll dieser „man“ sein? Der UN-Sicherheitsrat, die NATO, ein jeweils zusammen gewürfeltes Bündnis der „Willigen“, die USA? Ich denke bei dieser Koalition an vergleichbare Bündnisse im Falle des Iraks und Afghanistans und an die ungezählten getöteten Zivilisten; und es schüttelt mich, wenn ich höre, dass die Kriegskoalition auch in Libyen schon für ich weiß nicht wie viele zivile Opfer verantwortlich ist.

Gaddafi ist nicht erst seit ein paar Wochen ein Tyrann. Die ihn jetzt militärisch in die Knie zwingen und töten wollen, haben sich bislang um das libysche Volk einen Dreck gekümmert. Das ist die bittere Wahrheit. Wenn sie sich jetzt schamlos für „die Revolution“ einsetzen, ein Wort, das sie bislang dem Gottseibeiuns zuordneten, und wenn diese Lügen unisono von den Medien wiederholt werden, kann ich nicht anders, als dieser Kriegsdemagogie zu widersprechen.

Welch ein Zynismus: Erst einen Tyrannen stark zu machen (und daran zu verdienen!), und dann, wenn er stark ist, über seine Macht zu lamentieren und gegen ihn Krieg zu führen! Beides hat mit Respekt vor Völker- und Menschenrechten nichts zu tun. Beides entspringt aber dem Wesen der derzeit vorherrschenden imperialen Interventionspolitik. Die beruft sich zwar demagogisch auf den Schutz der Menschen- und Völkerrechte und kann dafür leider auch den UN-Sicherheitsrat missbrauchen, aber indem sie diese Rechte für ihre Machtinteressen instrumentalisiert, zerstört sie sie als Grundlage der internationalen Politik. Rückfall in die Barbarei wäre die Folge, die sich schon ankündigt in den Militärinterventionen und Kriegen der westlichen Großmächte um die Kontrolle über die Ressourcen der Welt.
Ich bin in vielem, was es abzuwägen gilt, tief verunsichert. Ich möchte, dass das Töten und Morden aufhört, auf allen Seiten. Und ich will dazu beitragen, dass Gaddafi verschwindet. Das wird aber eher nicht das Ergebnis des Krieges sein.

Wenn Verhandlungen mit Gaddafi, die bislang noch gar nicht stattgefunden haben, nicht helfen, was dann? Das Völkerrecht kennt so viele unterschiedliche Sanktionen unter Ausschluss von Waffengewalt, die allesamt gegenüber Gaddafi nicht ernsthaft, nicht rechtzeitig, nicht systematisch angewandt wurden. Es gibt die Alternative zum Krieg, auch zu einem von der UNO sanktionierten Krieg. Doch der Krieg der NATO, die täglich auf Ausweitung drängt, ist Bruch des Völkerrechts. Nicht der Schutz der libyschen Zivilisten, von dem du sagst, „er war von Anfang an eine höfliche Lüge“, sei Ziel, sondern der Sturz Gaddafis. – Und was geschieht nach dessen Sturz?
Zu allererst, um diesen Krieg zu beenden, muss verhandelt werden, gleichgültig, welche moralischen, politischen oder geistigen Qualitäten man beim Verhandlungspartner zu erkennen vermeint. Die heute üblichen Bezeichnungen für Gaddafi lauten, der „Verrückte“, der „Psychopath“, der „Tyrann“ oder in ähnlicher Preisklasse. Ich kenne dies bereits aus den Auseinandersetzungen mit Milosevic oder Sadam Hussein. Man kann sich Verhandlungspartner nicht aussuchen, oder man lehnt Verhandlungen grundsätzlich ab. Wenn Verhandlungen grundsätzlich abgelehnt werden, bleibt in der Tat nur die Logik, Krieg zu führen. Aber genau aus dem Krieg, der heute geführt wird, müssen wir raus. Weil, der nächste Schritt ist mit Sicherheit der Einsatz von Bodentruppen. Auch kann ich niemandem erklären, warum das Waffenembargo, das in der von mir kritisierten UNO-Resolution für alle Seiten verhängt worden ist, jetzt ungeniert von den USA, Frankreich und Großbritannien ignoriert wird. Hier wäre die UNO als Verhandlungspartner gefragt, eine UNO, die nicht parteiisch ist, was leider zurzeit nicht der Fall ist. Zur Stärkung des Völkerrechts beizutragen, um den Völkern Krieg zu ersparen, das ist „unser Bestes“ in dieser unvollkommenen Welt. Die sofortige Beendigung der Kriegshandlungen in Libyen muss daher jetzt unsere erste und wichtigste Forderung sein.

Wir beide wissen, dass revolutionäre Prozesse nicht von außen importiert werden können, sondern sich aus inneren Widersprüchen entwickeln und interne Energien freisetzen. Auch das Völkerrecht geht von dieser Erkenntnis aus und verbietet daher die Einmischung in Bürgerkriege.

Ich gebe dir hundertmal Recht, dass wir nicht auf eine perfekte Welt warten können, und dass wir in der unvollkommenen Welt unser Bestes geben müssen. Das ist der Grund für unser jahrzehntelanges Engagement in der Friedensbewegung. Aber Krieg wird die Welt niemals besser machen. Und unser Bestes kann nur darin bestehen, mit aller unserer Kraft den Frieden zu bewahren – und jene Instrumente des Friedens, die das Völkerrecht uns gibt, ein jeder in seinem Land und in Auseinandersetzung mit seiner Regierung. So wie bisher und immer wieder aufs Neue.

Ich danke dir sehr, lieber Uri, für deine Herausforderung zum Nachdenken. Du bist für mich einer der Gerechten in einer ungerechten Welt.

In freundschaftlicher Verbundenheit

Wolfgang Gehrcke