Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben

10.02.2012
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158. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages am 9. Februar 2012
zum TOP 14 - Antrag der Fraktion DIE LINKE
„Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren“

(Auszug aus dem Plenarprotokoll)

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 14:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

 

Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren
– Drucksache 17/8376 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache ein halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dies so beschlossen.

Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die über 40 Jahre darauf gewartet haben, dass dieses Parlament – von der Regierung hat man das kaum erwartet – den einfachen Satz ausspricht: Entschuldigung, euch ist Unrecht geschehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich glaube, diese Menschen haben einen Anspruch darauf.

Der Radikalenerlass hat viel Demokratie in unserem Lande zerstört. Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen in Erinnerung rufen. 3,5 Millionen Menschen sind per Regelanfrage vom Verfassungsschutz überprüft worden. Wenn das kein Beleg für einen Spitzelstaat ist, dann weiß ich nicht, was ein Spitzelstaat ist.

(Holger Krestel [FDP]: Sie wissen ganz genau, was ein Spitzelstaat ist! Wenn das einer weiß, dann sind das Sie und Ihre Genossen!)

11 000 Berufsverbotsverfahren haben stattgefunden. 1 256 Menschen ist die Einstellung in den öffentlichen Dienst verweigert worden. Es hat viele Entlassungen gegeben. Bringen wir nicht einmal die Courage auf, diesen Menschen zu sagen: „Wir haben euch geschadet; das war Unrecht, und das wollen wir korrigieren“?

Ich sage Ihnen: Ein Großer Ihrer Partei, Willy Brandt, der den Radikalenerlass mit zu verantworten hat, hat öffentlich festgestellt: Der Radikalenerlass war ein Fehler.

(Beifall bei der LINKEN)

Warum können dieses Parlament und insbesondere Ihre Partei das nicht eingestehen? Ich halte ein solches Eingeständnis für unbedingt notwendig. Das ist eine Frage der Demokratie. Die Bundesregierung hat sich anders entschieden. Die Erklärung der Bundesregierung ist relativ simpel: Alles war rechtens; nichts ist passiert. – Man ist nicht bereit, über das Unrecht zu reden, das einigen Menschen angetan worden ist.

Man darf den Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung, die die Bundesrepublik zutiefst verändert hat, und dem sogenannten Radikalenerlass und den dann erfolgten Berufsverboten nicht außer Acht lassen. Man wollte den rebellischen Geist der 68er in diesem Lande eindämmen. Ich habe die Sorge, dass die jetzige Debatte über den Verfassungsschutz und all das, was in diesem Zusammenhang hochgepusht wird, ein wenig mit der derzeitigen sozialen Lage zu tun hat. Man ist unsicher, weil man nicht weiß, welche politischen Bewegungen in diesem Lande noch entstehen werden. Mich selber betrifft das nicht so sehr. Ich werde seit über 50 Jahren vom Verfassungsschutz überwacht; daran hat sogar meine Parlamentsmitgliedschaft nichts geändert. Ich möchte aber nicht, dass sich der Ungeist der Berufsverbote in Deutschland wieder verbreitet.

(Beifall bei der LINKEN)

Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Grundgesetz. Ich finde, dass man sehr engagiert für das Grundgesetz kämpfen muss und kämpfen kann. Man war so klug, im Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsordnung festzulegen. Das Grundgesetz ist offen und ermöglicht, privates Eigentum zum Zwecke des Gemeinwohls in öffentliches Eigentum zu überführen.

Wolfgang Abendroth, ein großer Jurist, hat zwischen Staatsräson und Verfassungstreue unterschieden; er war immer für Verfassungstreue. Auch die Linke ist für Verfassungstreue und dafür, dass das Grundgesetz eingehalten wird.

(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Es darf gelacht werden!)

Das ist unsere Botschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte, dass endlich der Kalte Krieg beendet wird. Zum Ende des Kalten Krieges gehört es, die Berufsverbote aufzuheben und festzustellen, dass diese Unrecht sind. Ich möchte, dass junge Menschen in unserem Land wieder mit rebellischem Geist – dafür werden sie selber sorgen – sowie mit der Bereitschaft zum Widerspruch und der Erkenntnis aufwachsen, dass man nicht zu oft Ja sagen darf. Ich möchte, dass sie in dem Bewusstsein aufwachsen, dass Alternativen möglich und nötig sind. Berufsverbote waren immer das Gegenteil; sie waren stets Ausdruck einer Politik des Duckmäusertums und des Abgewöhnens von Demokratie. Darüber müssten wir inzwischen hinweg sein. Lassen Sie bitte diesen vielen Menschen Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie ihnen sagen: Es war Unrecht, was euch geschehen ist. Wir entschuldigen uns. Wir werden euch rehabilitieren. – Darauf haben diese Menschen einen Anspruch, genauso wie die Demokratie in diesem Land; das ist viel wichtiger.

Danke sehr.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsident Eduard Oswald:

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Helmut Brandt. Bitte schön, Kollege Helmut Brandt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Helmut Brandt (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beim ersten flüchtigen Durchsehen der Tagesordnung dieser Woche habe ich gedacht: Mein Gott! Die Linke wacht auf. Berufsverbote aufheben, Opfer rehabilitieren – jetzt wird der Unrechtsstaat DDR aufgearbeitet. – Ich musste mich dann eines Besseren belehren lassen, als ich die Vorlage studierte. Das, was Herr Gehrcke hier eben zum Besten gab, hat meine Einschätzung bestätigt.

Was wollen die Linken mit ihrem Antrag erreichen? Es geht um den sogenannten Radikalenerlass vom Januar 1972. Die Linke beantragt unter Bezug auf diesen Erlass,

… alle erforderlichen Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen einzuleiten, … dafür einzutreten, dass Verfassungsschutzakten, die auf dem Radikalenerlass beruhen, … den Betroffenen und der Wissenschaft zugänglich gemacht werden und dass gesetzliche Regelungen zur materiellen Entschädigung der Betroffenen geschaffen werden;
… die mit der Bewilligung von Mitteln aus den Programmen gegen Rechtsextremismus verbundene Extremismusklausel ersatzlos zu streichen.

(Beifall des Abg. Harald Koch [DIE LINKE] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Genau!)

Der Antrag wird mit Hinweis auf folgende Aspekte begründet: Das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbiete eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugungen. Aus einer Verurteilung der Berufsverbotspraxis durch den Europäischen Gerichtshof ergebe sich, dass der Radikalenerlass Unrecht gewesen sei. Dies sei nie – Herr Gehrcke hat das wiederholt – öffentlich eingestanden worden. Es handle sich um Berufsverbote, die zu verurteilen seien. Dann folgt der Opferbegriff, der für mich entlarvend ist, zeigt er doch, was Sie eigentlich beabsichtigen.

Meine Damen und Herren Kollegen von der Linken, angesichts der erschütternden Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle und des Anstiegs der Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten – im letzten Jahr hatten wir allein 14 000 Straftaten zu verzeichnen, die von der rechten Szene zu verantworten sind – bin ich über Ihren Antrag doch sehr überrascht.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was soll das denn jetzt sein?)

Die Morde der Zwickauer Zelle zeigen doch gerade, dass auch aus heutiger Sicht die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktueller denn je ist.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist doch absurd!)

Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden Gefahr des Links- und Rechtsextremismus nach wie vor erforderlich.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist absurd!)

– Das ist keineswegs absurd. Das ist unserem Grundrechtssystem immanent. Herr Gehrcke sprach hier von Verfassungstreue; wir erwarten sie gerade von denen, die für dieses Land arbeiten.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Es geht doch darum, dass in Westdeutschland Kommunisten keine Postboten werden durften!)

So heißt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Mai 1975:

Ist auf die Beamtenschaft kein Verlaß mehr, so sind die Gesellschaft und ihr Staat in kritischen Situationen „verloren“ …

Offensichtlich wollen Sie genau dies erreichen. Der Europäische Gerichtshof hat aus dem Grund, den ich zitiert habe – anders als Sie es glauben machen wollen –, ausdrücklich anerkannt:

Der demokratische Staat hat das Recht, – er hat auch die Pflicht – von seinen Beamten Verfassungstreue zu verlangen.

Die Verfassungstreue ist ein althergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes. Den Beamten obliegt hiernach eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und der Verfassung.

(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Haben Sie eigentlich zugehört?)

– Hören Sie mir doch zu. Vielleicht können Sie dann nachvollziehen, weshalb ich so radikal anderer Auffassung bin als Sie.

Der als Radikalenerlass bezeichnete Extremistenbeschluss wurde durch die am 19. Mai 1976 beschlossenen und am 17. Januar 1979 bekräftigten „Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue“ ersetzt, die bis heute fortgelten. Seither wird im Zusammenhang mit der Einstellung in den öffentlichen Dienst beim Verfassungsschutz keine Regelabfrage zur Verfassungstreue mehr vorgenommen. Nur wenn konkrete Ansatzpunkte für eine fehlende Verfassungstreue vorliegen, kann in Einzelfällen eine Abfrage gemäß § 19 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes erfolgen. Ich füge hinzu: Dann muss sie auch erfolgen.

Die Gewähr, jederzeit für die demokratische Grundordnung einzutreten, ist Teil der von der Verfassung geforderten Eignungsvoraussetzungen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst; auch hier kann ich mich auf das Bundesverfassungsgericht berufen. Diese Rechtslage bestand bereits zum Zeitpunkt des sogenannten Extremistenbeschlusses und gilt bis heute fort. Trotz der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungstreue zugunsten der Bewerber für den öffentlichen Dienst verpflichtet diese Rechtslage den Dienstherrn bei Vorliegen von Anhaltspunkten zur Prüfung der Verfassungstreue.

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz wurden seit 1980 keine entsprechenden Anfragen bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst mehr vorgenommen. Es ist gleichwohl weiterhin notwendig, in entsprechenden Fällen eine solche Überprüfung durchzuführen.

Die Mitgliedschaft eines Beamten in einer Vereinigung, die Pläne zur Systemüberwindung hatte oder hat – Herr Gehrcke, ich glaube, dass Sie einer solchen Partei zumindest angehört haben – und deren Schriften zur Systemüberwindung aufriefen bzw. aufrufen, ist mit dem Verhältnis eines Beamten zum Staat nicht vereinbar.

Eine wehrhafte Demokratie kann so ein Verhalten insbesondere denen gegenüber, die sich in einem besonderen Treueverhältnis an den Staat gebunden fühlen, nicht akzeptieren. Soweit ein Bewerber in der Vergangenheit nicht in den öffentlichen Dienst aufgenommen wurde, weil eine Abfrage beim Verfassungsschutz begründete Zweifel an der Verfassungstreue ergaben, ist dies mit den Grundrechten vereinbar und entschädigungslos hinzunehmen. Ich vermag darin keine unbillige Härte zu erkennen.

Niemand wird gezwungen, als Beamter in den öffentlichen Dienst einzutreten. Niemand wird gezwungen, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die Pläne zu einer Systemüberwindung hat oder deren Schriften zur Systemüberwindung aufrufen. Aber beides geht nicht. Man muss sich schon überlegen, was man will. Eine Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung signalisiert auch eine Identifikation mit deren Zielsetzungen. Wenn die Zielsetzungen einer Vereinigung im Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, dann ist die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung mit der Treuepflicht eines Beamten zum Staat nicht vereinbar. Im Gegenteil: Die Treuepflicht erfordert eine klare Distanz zu Gruppen, die den Staat, seine Institutionen und die bestehende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen oder diffamieren.

Ich sage es noch einmal: Auch aus heutiger Sicht ist die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktuell. Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden Gefahr von Links- wie Rechtsextremismus nach wie vor erforderlich, und es liegt an der Person des Bewerbers für den öffentlichen Dienst, ob er die an ihn gestellten Voraussetzungen erfüllen will oder nicht.
Wir lehnen Ihren Antrag ab.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das habe ich mir fast gedacht!)

Vizepräsident Eduard Oswald:

Vielen Dank, Kollege Helmut Brandt. – Nächster Redner für die sozialdemokratische Fraktion ist unser Kollege Michael Hartmann. Bitte schön, Kollege Michael Hartmann.

(Beifall bei der SPD)

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Antrag, mit dem wir uns zu dieser späten Stunde befassen dürfen, hatte ich zunächst als einen eingestuft, der eher folkloristischer Natur ist oder zeitgeschichtlichen Aufarbeitungswünschen entspricht. Aber ich befürchte fast, dass manches, was darin steht, doch ernst gemeint ist. Wenn Sie wollen, dass Ihr Antrag ernst genommen wird, sollte sich ein Redner wie Sie, Herr Gehrcke, der 1961 in die KPD eingetreten ist, der Mitbegründer der SDAJ und bis 1990 Mitglied der DKP war,

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich bin ein Überzeugungstäter!)

von diesem Pult aus erst einmal für all das Unrecht, das er direkt oder indirekt zu verantworten hat, entschuldigen.

Erst dann kann er Entschuldigungen von anderen verlangen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das werden Sie nicht erleben! Da können Sie sicher sein!)

– Ich weiß, dass ich das bei Ihnen nicht erleben werde. Aber Sie müssen das, was ich von diesem Pult aus sage, ertragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es uns Sozialdemokraten nicht möglich ist, etwas unverkrampfter mit Ihrer Fraktion umzugehen, liegt das auch an Personen wie Ihnen, die eine bestimmte Haltung einnehmen, sehr geehrter Herr Gehrcke.

Eine weitere Bemerkung. Ich will ernsthaft auf das Thema eingehen. 1972 gab es den sogenannten Radikalenerlass, der vom Bundeskanzler und von den Ministerpräsidenten gemeinsam verabschiedet wurde. Das war – man wird sich erinnern, manche sogar sehr persönlich – die Hoch-Zeit des RAF-Terrorismus, die Zeit, in der der Kalte Krieg tobte. Man hat dabei ohne Zweifel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Man hat Menschen beobachtet, ausgeforscht und nicht für den öffentlichen Dienst zugelassen. Aus heutiger Sicht ist es schwierig, die diesem Vorgehen zugrunde liegende Haltung nachzuvollziehen.

Deshalb war es richtig und konsequent, dass der sogenannte Radikalenerlass nach einem Urteil des Verfassungsgerichts seine Gültigkeit verloren hat. Ohne Frage entsprach das alles nicht unseren heutigen Maßstäben. Das ist keine Praxis, die wir uns in irgendeiner Weise wieder wünschen würden.

Allerdings ist auch klar – gestern wie heute –, dass Beamtinnen und Beamte, dass Menschen, die in den öffentlichen Dienst eintreten wollen, selbstverständlich eine besondere Treuepflicht gegenüber diesem Staat und gegenüber diesem Grundgesetz haben. Ich weiß nicht, warum man sich auf einer Seite dieses Hauses so schwertut, diese Aussage als eine richtige, notwendige und unabdingbare anzuerkennen.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hat denn hier von Verfassungstreue gesprochen?)

Es war Willy Brandt – wenigstens ihn haben Sie erwähnt –, der von einem großen Fehler gesprochen hat, und es war Helmut Schmidt, der mit Recht gesagt hat, dass damals mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde.

(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Warum haben Sie es dann danach nicht abgeschafft?)

Das alles wurde ausgesprochen. Das alles war richtig. Wissen Sie, Sie mögen sich in Ihrer Rolle als Verfolgte oder Verfemte gefallen: aber diese Rolle steht Ihnen wahrhaftig nicht so gut zu Gesicht. Kämpfen Sie politisch mit uns. Wir kämpfen politisch mit Ihnen. Aber führen Sie nicht biografische Schlachten der Vergangenheit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist für die Menschen, die betroffen waren, ganz aktuelle Gegenwart!)

Vizepräsident Eduard Oswald:

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Stefan Ruppert (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es spricht in gewisser Weise für sich, dass die Redner von SPD und CDU/CSU – ich nehme an, dass gilt auch für die Rednerin der Grünen, die gleich spricht – Ihrem Antrag, dem der Linken, mit einer gewissen Skepsis begegnen. Das liegt nicht daran, dass Sie die historische Situation der 70er-Jahre und die Situation, in der es zum Radikalenerlass kam, gerne wiederhätten und alles wiederholen möchten, sondern daran, dass aus jeder Zeile Ihres Antrags parteipolitisches Kalkül spricht.

Gerade wenn es darum geht, historisch brisante und in dem einen oder anderen Fall nicht ganz adäquate Vorgehensweisen aufzuarbeiten, wenn es darum geht, sich der Geschichte und der Situation, die in den 70er-Jahren herrschte, zu stellen, gegebenenfalls auch zuzugeben, dass damals über das Ziel hinausgeschossen wurde, dann verträgt sich das überhaupt nicht mit einem Antrag, der ausschließlich parteipolitischem Kalkül dient, was bei Ihrem Antrag der Fall ist. Damit leisten Sie keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte. Der Gerechtigkeit und den zu Unrecht Betroffenen leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie so vorgehen.

(Beifall bei der FDP)

Ich glaube, alle Demokraten sind sich darüber einig, dass man damals über das Ziel hinausgeschossen ist. Die Äußerung von Helmut Schmidt, dass man mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat, die Herr Hartmann genannt hat, aber auch die Äußerungen von führenden FDP-Politikern oder auch von Willy Brandt, wurden vielfach genannt. Aber auch heute gilt, dass ein Staat darauf achten muss, dass die Beamten, dass die Menschen, die für diesen Staat arbeiten – das ist geltendes Beamtenrecht –, fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen müssen. Dieser Kern ist bis heute gültig, und er ist auch heute noch richtig. Bei dem einen oder anderen von Ihnen hat man leider den Eindruck, dass Sie auch an dieser Stelle nicht einer Meinung mit uns sind.

Weil Herr Brandt und Herr Hartmann schon viel Richtiges gesagt haben, will ich mich kurzfassen. Wenn Sie ein Interesse daran hätten, diese Sache sauber aufzuarbeiten, wenn Sie wirklich ein Interesse daran hätten, festzustellen, wo im Einzelnen übers Ziel hinausgeschossen wurde, dann hätten Sie Ihren Antrag nicht mit parteipolitischen Spitzen gespickt, dann hätten Sie keine Nebenkriegsschauplätze aufgemacht, die nicht dazugehören.
Insofern ist der Antrag unsauber erarbeitet, und darüber hinaus werden Sie dem eigentlichen Thema damit auch nicht gerecht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Zitieren Sie doch einmal ein Beispiel!)

– Sie befassen sich beispielsweise mit der Extremismusklausel von heute, über die man sicherlich streiten kann. Sie berühren also Themen, die mit dem eigentlichen Gegenstand des Antrags gar nichts zu tun haben.

Insgesamt ist das eine Sache, die man sicherlich nur aus der Geschichte heraus verstehen kann: RAF, Deutscher Herbst, viele Ereignisse, die damals Millionen von Deutsche bedroht haben und bei denen der Staat sicherlich etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Ihr Antrag ist zur Aufarbeitung dieser Geschichte schlicht kein Beitrag, sondern kontraproduktiv; insofern ist er abzulehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich der Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 28. Januar 1972 verabschiedete sich Bundeskanzler Willy Brandt gemeinsam mit den Regierungschefs der Bundesländer von seinem ursprünglichen Motto „Mehr Demokratie wagen“. An diesem Tag wurde der Beschluss zu den „Grundsätzen über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“ gefasst, auch „Radikalenerlass“ genannt. Damit wurde die sogenannte aktive Verfassungstreue zur Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst. Eine Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation genügte zur Begründung der Verfassungsfeindlichkeit.

Für eine große Anzahl von Menschen hatte das schwerwiegende Folgen. Bereits die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner oder die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen waren dem Staat zu radikal. Im Antrag der Linksfraktion ist dargelegt, dass der Radikalenerlass zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst führte.
Heute verbietet das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das AGG, eine Diskriminierung aufgrund der politischen Überzeugung. Berufsverbote greifen unmittelbar und direkt in die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG ein und unterliegen deshalb hohen verfassungsrechtlichen Hürden. Berufsverbote können einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellen.

(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Die Lehrerin Dorothea Vogt wurde aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der DKP aus dem Staatsdienst entlassen und später wieder eingestellt. Im September 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass dieses Vorgehen einen Verstoß gegen Art. 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstelle, also einen Verstoß gegen das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Versammlungsfreiheit.

Die Bundesrepublik wurde vom Straßburger Gerichtshof zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt. Allerdings bezog sich das Urteil nur auf bereits eingestellte Beamtinnen und Beamte und nicht auf Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst. Es wäre deshalb ein anständiger Zug der Bundesregierung und des gesamten Bundestages, sich für das Unrecht, das durch den Radikalenerlass an den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern begangen wurde, zu entschuldigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Noch ein Rückblick in die Geschichte. 1976 wurde der Radikalenerlass auf Bundesebene von SPD und FDP aufgehoben; auf Landesebene erst sehr viel später. Willy Brand selbst nannte den Radikalenerlass später einen Fehler seiner Regierung. Dieser Sinneswandel hatte sicherlich mit der damaligen sozial-liberalen Regierungskoalition zu tun.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Damals waren die Liberalen noch liberal! – Gegenruf des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Herr Gehrcke, da redet doch der Blinde von der Farbe, oder?)

Damals war die FDP eben noch eine rechtsstaatsliberale Partei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Auf ähnliche Werte kann man in der heutigen christlichliberalen Koalition leider nicht mehr hoffen. Wäre das nämlich so, würde die unsinnige Extremismusklausel der Familienministerin längst der Vergangenheit angehören – die Klausel, die staatliche Förderung für demokratische Organisationen ausschließt, wenn diese nicht die politische Haftung für ihre Partnerorganisationen übernehmen können oder wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das, was Sie da erzählen, ist ein völliger Unsinn!)

Als grüne Bundestagsfraktion begrüßen wir die Initiative der Linksfraktion. Auch wir wollen, dass Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen eingeleitet und dass die entsprechenden Unterlagen des Verfassungsschutzes über das Bundesarchiv für die Betroffenen und für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden.

Außerdem – das kann man nicht oft genug fordern – muss endlich die unsägliche Extremismusklausel der Familienministerin abgeschafft werden;

(Beifall bei der LINKEN)

denn diese Klausel stärkt nicht die Demokratie. Mit solchen Maßnahmen schwächt man – und Frau – die Demokratie.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Ganz schlechte Rede! Da sieht man wieder mal die dunkelroten Wurzeln der Grünen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8376 mit dem Titel „Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –

Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller anderen Fraktionen.