Im Westen nichts Neues

16.01.2013
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Im Westen nichts Neues (Wolfgang Gehrcke)

 

Es gilt, Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus konsequent entgegenzutreten. Eine nachhaltige Kultur des Friedens, der Demokratie und der sozialen Sicherheit liegt im Interesse der Bevölkerungen Frankreichs und Deutschlands. - Auch wenn diese Sätze nicht in der Erklärung stehen, sollten beide Parlamente doch in diesem Geiste zusammenarbeiten.

 

* * * * 216. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages am Mittwoch, 16. Januar 2013 TOP 1 – Vereinbarte Debatte

50 Jahre Elysée-Vertrag – Zusammenarbeit und gemeinsame Verantwortung für die Zukunft Europas


Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen Jahrhundertroman für Deutsche und Franzosen: Das ist Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Ich will Ihnen wenige Zeilen aus diesem Roman vorlesen; denn dort begründet sich die gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Remarque schreibt:

Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehen zwei Tage früher an die Front. Auf dem Wege passieren wir eine zerschossene Schule. An ihrer Längsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hohe Mauer von ganz neuen, hellen, unpolierten Särgen. Sie riechen noch nach Harz und Kiefern und Wald.

Diese Särge warteten auf die Soldaten, auf die Franzosen und auf die Deutschen.

Ich möchte, dass von unserem Parlament eine deutliche Botschaft ausgeht: „Nie wieder!“. Für dieses „Nie wieder!“ muss man aktiv zusammenarbeiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Eingegraben in mein Gedächtnis haben sich auch Gespräche mit meinem jüdischen, deutsch-französischen Freund, dem Kommunisten Peter Gingold. Von den Nazis verfolgt, nach Frankreich geflohen, kämpfte er in der Résistance gegen die deutsche Besatzung und somit für Deutschland. Peter Gingold hat in Frankreich eine hohe Auszeichnung erhalten, seine Tochter in Deutschland Berufsverbot. Auch das ist Teil der deutsch-französischen Geschichte, über die wir gemeinsam nachdenken müssen. Geschichte wird oft dargestellt als eine Geschichte großer Männer, seltener großer Frauen - warum eigentlich?

Wir können de Gaulle und Adenauer für den Élysée-Vertrag loben; doch zur Geschichte gemacht haben ihn Jugendliche, die Schlagbäume und Grenzpfähle einrissen, die sich ernsthaft mit der Vergangenheit auseinandersetzten oder offen für ihre Nachbarn waren. Die Menschen haben den Weg zur deutsch-französischen Freundschaft geebnet, und die Politik ist ihnen gefolgt. Ich finde das gut so.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie lebendig, können wir von sozialen Bewegungen und Arbeiterkämpfen in Frankreich lernen, von ihrem Geist des Widerspruchs und des Spotts über Autoritäten. Als Jugendlichen hat mich 1968 mitten im brodelnden Paris der Aufstand der jungen Generation, der Arbeiter und Intellektuellen mitgerissen. Er kam dann über den Rhein zu uns. Die ersten Anstöße für eine multikulturelle Gesellschaft kamen aus Frankreich, bevor sie auch uns einholte. Gelöst haben wir beide diese Aufgabe nicht.

Ich hätte in der Erklärung, die wir annehmen werden, gerne die Sätze gesehen: Es gilt, Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus konsequent entgegenzutreten. Eine nachhaltige Kultur des Friedens, der Demokratie und der sozialen Sicherheit liegt im Interesse der Bevölkerungen Frankreichs und Deutschlands. - Auch wenn diese Sätze nicht in der Erklärung stehen, sollten beide Parlamente doch in diesem Geiste zusammenarbeiten.

Wenn wir uns die Realität ansehen, dann erkennen wir, dass eine solche Verpflichtung angesichts der rechtsextremen Mordserie bei uns bitter notwendig ist. Zusammen mit meinen kurdischen und französischen Freundinnen und Freunden trauere ich über den bestialischen Mord an den drei kurdischen Politikerinnen in Paris. Auch diese gemeinsame Trauer muss zu unserer Geschichte gehören.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deutschland und Frankreich haben jeweils eine koloniale Geschichte. So etwas prägt die Kolonialmächte genauso wie die Unterdrückten. Noch immer berühren mich die wundervollen Gedichte, die Ho Chi Minh über Frankreich geschrieben hat, gegen das er doch kämpfte. Wie viele Französinnen und Franzosen, wie viele Deutsche waren solidarisch mit den Befreiungskämpfen in Algerien, Marokko, in Tunesien und Vietnam! Auch das ist etwas, was uns verbindet.

Umso betrüblicher ist es für mich und meine Fraktion ich sage das in voller Übereinstimmung mit der französischen Friedensbewegung und der französischen Linken , dass sich die französische Regierung zur Militärintervention in seiner ehemaligen Kolonie Mali entschlossen hat. Deutschland und Frankreich können viel gemeinsam leisten, aber bitte sehr zivil und mit immer weniger Waffen in dieser Welt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe mit Erich Maria Remarque begonnen und möchte Ihnen zum Schluss noch einen anderen für mich großen Deutsch-Franzosen zitieren. Karl Marx hat 1844 geschrieben, der deutsche Auferstehungstag werde durch das Schmettern des gallischen Hahnes verkündet. Vielleicht könnten wir Karl Marx heute in Gedanken sagen, dass der gallische Hahn zu der Wiederauferstehung des europäischen Gedankens, einer Europäischen Union des Friedens, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit, schmettern wird: Ein anderes Europa ist möglich! Ein solches anderes Europa wollen wir gemeinsam mit Frankreich erreichen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)