Ça ira Nr. 165: Was Deutsche von Russen lernen können (23.05.2018)

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Erkundungen aus Wolgograd/Stalingrad, Astrachan, Moskau


Vielleicht sollte die Überschrift besser lauten: Was Deutschland von Russland lernen kann. Ich meine aber beides: Die Menschen und die Politik. Ich wundere mich, dass diese Frage in den großen Leitmedien überhaupt nicht gestellt wird. Auch in der deutschen Außenpolitik taucht sie nicht auf. Ich bin aber überzeugt, dass Russland mehr ist als der Sündenbock für Alles und Jedes. Im russischen Alltag habe ich nach Erfahrungen und Erkenntnissen gesucht, die bemerkenswert oder gar nachahmenswert sein könnten. Meine Erkundungstour führte mich nach Moskau, Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, und Astrachan.

Einen Nebeneffekt, für mich jedenfalls, dieser Reise war der Stellenwert, die Vorfreude auf die Fußfallweltmeisterschaft. Ich habe in Russland niemanden getroffen, dem dieses Ereignis gleichgültig ist.  Nicht alle Menschen dort werden Fußballfans sein, aber sie sind beseelt davon, dass Spielen verbindet. Diesen Geist geben sie der Weltmeisterschaft. Russland ist gastfreundlich, seine Türen sind weit geöffnet, selbst die russischen Fans sprechen nicht davon, wer gegen wen spielt, sondern wer mit wem. Eine kleine Nuance, aber nicht zuletzt dem Oberbürgermeister von Wolgograd, Andrej Kossolapow, so wichtig, dass er den Dolmetscher entsprechend verbesserte.

In Wolgograd, ehemals Stalingrad, ist die Geschichte des zweiten Weltkrieges lebendig. Und das nicht nur, weil die eindrucksvolle Statue der Mutter Heimat überall sichtbar ist. Kein Flecken Erde ist hier nicht mit Blut getränkt. Kaum eine Familie, die nicht mehrere Tote zu beklagen hatte. Die Erinnerung an sie, ihre Fotos, werden am 9. Mai, dem Tag des Sieges, mitgeführt, nichts ist vergessen und niemand ist vergessen. Daraus erwächst ein unbedingter Wille zu Frieden und Verständigung, ausdrücklich und gerade auch mit Deutschland. So war auch das Spiel der U-18-Nationalmannschaften am 8. Mai, dem Tag der Befreiung Europas vom Faschismus, mehr als ein normales Fußballspiel. Es war ein deutliches Zeichen für ein Miteinander, das möglich ist – und Freude bereitet. Das kann Deutschland von Russland lernen. Wolgograd ist in Russland ein Zentrum der Volksdiplomatie. Im Oktober wird dort wieder der Austausch von Partnerstädten und gesellschaftlichen Organisationen unter dem Motto „Dialog an der Wolga“ stattfinden.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es so, als ob in Europa das Zusammenleben von „Einheimischen“ und „Neubürgern“ ebenso spannungsgeladen ist wie die Koexistenz unterschiedlicher Religionen oder kultureller Prägungen. Deshalb wollte ich herausfinden, wie der Vielvölkerstaat Russland mit diesem Problem umgeht. Astrachan ist dafür ein Beispiel. Hier leben zusammen Russen, die Mehrheitsbevölkerung, Kasachen, Tataren, Kalmücken, Aserbaidschaner, Armenier, Tschetschenen, Ukrainer, Juden. Ein Viertel der Bevölkerung sind Muslime. Astrachan ist eine gewaltfreie, kulturell offene Stadt. Dieser Ausgleich im Inneren erleichtert den Ausgleich nach außen. Der Rayon Astrachan ist die einzige russische Gebietskörperschaft mit einem eigenen Außenminister. Er ist vor allem für die Zusammenarbeit der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres verantwortlich. Das sind so unterschiedlich verfasste Staaten und Gesellschaften wie Russland, Aserbaidschan, Iran, Kasachstan, Turkmenistan. Sie verstehen das Kaspische Meer als gemeinsames Binnengewässer für das sie gemeinsam Verantwortung tragen – für seinen Erhalt, seine Verkehrswege, seine Nutzung. Dabei gibt es ungeklärte Fragen, aber keine kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern den Willen, zu Lösungen im Konsens zu kommen. Ich frage mich, ob nicht auch die Anrainerstaaten des Mittelmeeres gut beraten wären, das Mittelmeer als ihr Gemeinsames, sie Verbindendes zu betrachten. Das gilt auch für die Ostsee. Jedes auf seine eigene Art und Weise. Erinnert sei an die Ostsee-Friedenskonferenzen, mit denen für Entmilitarisierung und Zusammenarbeit geworben wurde. Aus Astrachan in Russland nehme ich mit: Auch sehr unterschiedlich verfasste Staaten und Gesellschaften können friedlich koexistieren, sie können aber noch mehr: friedlich zusammenarbeiten.

Russland gibt schrittweise immer weniger für Rüstung aus. In den letzten zwei Jahren wurde sein Militärhaushalt schon um mehr als 10 Prozent reduziert. Russland wird sich nicht erneut in die Lage des „Totrüstens“ treiben lassen. Das hat Wladimir Putin in seiner ersten Rede nach den erneut unterstrichen. Daran ändert auch nichts, dass er zugleich über neue Waffensysteme spricht. Für Russland heißt zurzeit weniger Geld für Rüstung nicht einseitige Abrüstung, sondern der Rüstungshaushalt folgt einer strikt auf Verteidigung ausgerichteten, einer defensiven Militärstrategie.  Deutschland hingegen hat sich an das Ziel der Nato, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Rüstung auszugeben, gebunden, das heißt in naher Zukunft: 70 Milliarden für Rüstung. Zum Vergleich: Die russischen Militärausgaben betragen jetzt 64 Milliarden Dollar und sie sollen sinken. Russland als Großmacht gibt dann weniger für Militär aus als Deutschland, die USA ohnehin, aber auch als Staaten wie Indien oder Saudi-Arabien. Aus Moskau haben wir die Erkenntnis mitgebracht: weniger für Rüstung, mehr für Soziales ist möglich.

Warum erscheint eigentlich die deutsche staatliche Außenpolitik nicht lernwillig und lernfähig? Der neue Außenminister Heiko Maas spielt sich vielmehr als Zucht- und Lehrmeister auf. Am deutschen Wesen ist die Welt noch nie genesen. Wir haben also dringenden Änderungsbedarf.

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