

100 Jahre Zimmerwald - Kurt Pätzold: Sozialistinnen, Sozialisten und Frieden heute (RegenbogenTV)
Um mich nicht bei zeitraubenden Vorreden aufzuhalten und den Bogen über das Jahrhundert zu dem Ereignis zu schlagen, dessen Gedenken uns hier und heute zusammenführt: Bei der Zusammenkunft der Führer sozialistischer Parteien in dem Schweizer Ort Zimmerwald im Kanton Bern ging es um die Bestimmung einer Erfolg versprechenden Strategie und Taktik des Kampfes für den Frieden und eine Konferenz zur gleichen Thematik täte den Sozialisten ein Jahrhundert später nicht weniger not und gut. Denn es kann, schon ein Blick in die eigene Partei, beispielsweise die meine, bezeugt es, es kann von einer Übereinstimmung auf diesem Feld nicht die Rede sein.
Der erhebliche Unterschied der Situationen von einst und jetzt besteht aber darin, dass damals nach Inhalten, Zielen und Methoden des Friedenskampfes während eines europaweiten Krieges gesucht wurde und die Mehrheiten aller sozialdemokratischen Parteien in den kriegführenden Ländern auf die Positionen der Vaterlandsverteidigung übergelaufen waren. Der Krieg war 13 Monate alt und Deutschland hatte ihn verloren, wenn sich die militärische und zivile Führungsschicht des Kaiserreiches das wohl selbst auch noch nicht eingestehen wollte. Doch als die Marneschlacht im September 1914 nicht gewonnen wurde und Frankreich stand hielt, der Bewegungs- in den Stellungskrieg überging, russische Armeen in Ostpreußen eindrangen, war der modifizierte Schlieffenplan, mit dem das Kaiserheer in den Krieg gezogen war, erledigt. Ein Ersatzplan existierte nicht. Der Krieg würde sich nun verlängern und das Deutsche Reich über kurz oder lang die Überlegenheit derer anerkennen müssen, die es herausgefordert hatte.
Die Zimmerwalder wollten sich mit dieser Perspektive eines Jahre andauenden Völkermordens nicht abfinden. Geeint waren sie durch die Vorstellung und den Willen, den Krieg zu einem baldigen Ende zu führen. Was dafür zu tun war, das war ihre Frage und auf die gab es unter und zwischen ihnen keine übereinstimmenden Antworten. Die Meinungsunterschiede begannen mit der Frontstellung. Die gegen die Kriegstreiber und Kriegsinteressenten verstand sich gleichsam von selbst. Aber wie stand es mit denen, die an ihre Seite getreten waren, mit denen viele der Anwesenden doch nach wie vor in einer Partei waren? Musste der vollständige, also auch der organisatorische Bruch vollzogen werden? Mussten neue proletarische Organisationen gegründet, an die Stelle der offenkundig bankrotten II. eine neue III. Internationale gesetzt werden? Und weiter: Mit welchen Zielen sollte der Kampf gegen den Krieg geführt werden. Allein dem seiner raschen Beendigung und dem Verzicht auf Annexionen und Kontributionen in Friedensverträgen? Oder doch mit dem Bestreben, die gesellschaftlichen Zustände grundstürzend zu verändern und denjenigen die Macht zu entziehen, die den August 1914 zu verantworten hatten. Und dann und ganz praktisch: Sollten die Millionen Soldaten die Gewehr nur wegwerfen oder sollten sie die „umdrehen“ und aus dem Völkerkrieg Bürgerkriege machen?
Das Manifest auf das sich die Anwesenden nach ihren Beratungen vom 5. bis 8. September 1915 einigten, war ein Kompromiss. Die Autoren konstatierten, dass der Krieg aus dem Imperialismus hervorgegangen war. um Profite und den Besitz der Naturschätze des Erdballs geführt wurde und die Weltkarte nach den jeweiligen Ausbeutungsinteressen neu gestaltet werden sollte. Und dann forderten sie, „das Ringen um den Frieden aufzunehmen“. Welchen? Einen nicht imperialistischen, der niemanden vergewaltigte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker wieder herstellte und wahrte. Auch die Minderheit der Anwesenden, die mit Lenin für ein ungleich weitergehendes Programm sich ausgesprochen hatte, aber mit ihrem Vorschlag unterlag, stimmte für diesen Text, ohne von dem eigenen Standpunkt abzugehen. Es ist die Formierung dieser Minderheit, die unter der Bezeichnung Zimmerwalder Linke in die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung eingegangen ist, die das Treffen vor allem denkwürdig macht. Von ihr führte ein gerader Weg zum totalen Bruch mit den Opportunisten und Nationalisten, zur Gründung eigener Zusammenschlüsse, in die III. Intentionale, zu entschiedenen Kampfformen gegen den Krieg bis hin zum Versuch seiner Umwandlung in den Bürgerkrieg, der einzig den Bolschewiki gelang.
Bei allen Verdiensten und den vielen Opfern, die insbesondere von jenen Linken gebracht wurden, den Abbruch, das Ende des Krieges haben nicht sie in erster Linie erzwungen. Er ging in Westeuropa 1918 zu Ende, als die Kräfte des deutschen Heeres aufs äußerste erschöpft, immer mehr Soldaten kampfmüde und kampfunwillig geworden waren, das Vordringen der Armeen der Entente in das Reichsgebiet bevorstand, und nun auch die Generalität um Paul von Hindenburg, dem Chef der Obersten Heeresleitung (OHL) nach der raschen Beendigung des Krieges durch Waffenstillstandsverhandlungen rief, bestimmt vom Gedanken, für die Zukunft zu retten, was für sie zu retten war.
Die Welt wie sie heute beschaffen ist, entstand in weiten Teilen und mit ihren wesentlichen Charakteristika rund gerechnet vor einem Vierteljahrhundert, also etwa in den Jahren zwischen 1989 und 1991. Teile Mittel- und Osteuropas und der Norden Asiens bis an den Pazifik sind in konterrevolutionären Prozessen in kapitalistische Zustände zurückverwandelt worden. Damit wurde auch einer politisch-militärischen Blocke, die dem anderen viereinhalb Jahrzehnte gegenübergestanden hatte, Geschichte. Die Landfront des Kalten Krieges, die durch Mitteleuropa entlang der Grenze der beiden deutschen Staaten verlief, existierte nicht mehr. Die Truppen der Hauptmacht des Warschauer Vertrages begaben sich in ihr Land zurück.
Dass der Kalte Krieg der Geschichte angehörte, erschien vielen bei allem, was sie als verloren ansehen mussten, als Gewinn. Mehr noch: Geglaubt wurde, dass nicht nur eine lang währende akute Gefahr beendet wäre, sondern dass der alte Kontinent, wie kein anderer durch die Jahrhunderte von Kriegen, dem Dreißigjährigen, den Napoleonischen, dem Ersten, dann dem Zweiten Weltkrieg. geplagt, für alle Zukunft Kriege hinter sich gelassen habe. Das war ein schöner Traum.
Ein leichtes Erwachen gab es, als die europäischen Großmächte den Krieg gegen Jugoslawien begannen und ihn gegen einen bis zur Hilflosigkeit unterlegenen Gegner brutal führten. Mit diesem Krieg verbindet sich nicht nur der bundesrepublikanische Sündenfall. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war eine deutsche Armee, nicht in vorderster Reihe aber als Hilfskraft, wieder an einem Krieg beteiligt. Er war kurz und hat deutsche Gedächtnisse nicht lange strapazieret. Auch diese Teilnahme musste aber begründet werden wie alle so genannten modernen Kriege vorher von ihren den Teilnehmenden, vor allem vor der eigenen Bevölkerung. Da ist viel gelogen worden und wird es bis auf den heutigen Tag. Das Vaterland war zu verteidigen, seine Bürger zu schützen, dem feindlichen Angriff zuvor zukommen. Keine Lüge aber, welcher Vergleich auch immer herangezogen wird, war so unverfroren, ja so ungeheuerlich wie die des seinerzeitigen Bundesaußenministers, der die Bomben auf Serbien mit der Lüge rechtfertigte, es galt, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Dass der Mann das überstand, war ein Zeichen dafür, was in Deutschland einig Vaterland möglich war.
Hier ist nicht Ort noch Zeit die Geschichte der Kriege und Bürgerkriege im 21. Jahrhundert zu verfolgen. Geographisch reichen sie von Afghanistan bis Libyen. Da bleiben noch die in Mittel und Südafrika unbenannt. Da mochten die weitesten Teile Europas wieder erscheinen wie eine friedliche Insel. Und in der Tat konnten sich die Europäer weithin glücklich schätzen, fern von Kriegen zu leben. Wer würde nicht zu schätzen wissen, dass heute selbst die Siebzigjährigen Deutschen keinen Tag in einem Krieg gelebt haben. Das Problem besteht darin, dass sie das als selbstverständlich und als ein kostenloses Dauerabonnement ansehen. Und ein weiteres darin, dass diese Generationen sich in ihrer Mehrheit für die „Kriege der anderen“ nicht interessieren. Der von Goethe beschriebene deutsche Spießbürger – „wenn drunten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen“ – scheint unsterblich. Und er wird hierzulande erzogen und gepflegt. Unter der Losung „Jedem seine Chance“, die ohnehin verlogen ist, werden Individualisten erzogen, die sich nicht einmal um den eigenen Mitbürger scheren, geschweige denn um das Leben der Menschen weitab. Wie die neuesten Erfahrungen und Befragungen zeigen, funktioniert das bei etwa der Hälfte der Bundesbürger.
Dann kam aber der Bürgerkrieg in der Ukraine und das Eingreifen Russlands. Das war den Deutschen aus historischen und geographischen Gründen näher und der Unfall von Tschernobyl, der aber inzwischen auch fast dreißig Jahre zurückliegt, hatte diese Nähe in besonderer Weise veranschaulicht. Die bundesdeutsche Propaganda, die bei der Erklärung von internationalen Zusammenhängen immer kurz und einprägsam Bösewichte markiert, Saddam Hussein, Assad. Muammar al- Gaddafi, präsentiert in dieser Rolle nun Putin. Wer in den heutigen Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden einen Platz finden und einnehmen will, muss hingegen zu verstehen suchen, welche gesellschaftlichen Ursachen die Kriege von heute verursacht haben und ihre Fortdauer bewirken, welche Interessen in ihnen verfochten werden, wo Fronten verlaufen und das ist am gründlichsten verstanden, wenn man ihre Geschichte kennt.
Sie beginnt damit, dass zwar der Kalte Krieg der beiden Systeme 190/191 beendet war, die USA und ihre Verbündeten aber nicht willens waren, die NATO, die doch als Bündnis gegen den Sozialismus entstanden war, aufzulösen. Ja, sie begrenzten deren Einfluss- und Ausdehnungsbereich nicht einmal auf dem Stand des Jahres 1990, sondern rückten die sich erweitende Militärkoalition ostwärts vor und an die Grenzen Russlands. Sie stehen nicht an, vor diesen Grenzen mit ihren alten und neuen Verbündeten Militärmanöver abzuhalten. Zu welchem Zweck?
Das ist keine einfach zu beantwortende Frage Offenkundig ist, dass sie sich mit der bloßen Tatsache, dass Russland ein kapitalistisches Land geworden war, nicht begnügen. Entweder Du beugst Dich der US-amerikanischen Führungsrolle oder es wird gesorgt, dass Du in Deinem Inneren von der Macht verdrängt und durch Kräfte ersetzt wird, die das tun. Was in Kiew gelang, ein in diesem Falle antirussischen Regime an die Macht zu putschen, sollte unter anderem Vorzeichen in Russland wiederholt werden. Der Maidan auf dem Kreml. Das hat nicht funktioniert. Doch die Absicht und die Perspektive war in greifbare Nähe gerückt, eine Ukraine zu schaffen, die Teil der NATO werden würde, so dass von Estland über Lettland, Litauen und Polen keine Lücke mehr im Aufmarsch des Bündnisses vor den europäischen Grenzen Russlands existierte, ausgenommen die finnische.
Was also kann in den Köpfen der US-amerikanischen Führungsschicht vor sich gehen., die diese Politik planen und praktizieren? Der Imperialismus, den sie repräsentieren, hat im 20. Jahrhundert drei große Siege errungen, die von 1918, von 1945 und von 1990/91. Die historischen Situationen unterschieden sich, offenbar aber nicht deren Wirkung. Sie haben zu einer Weltmachtmentalität geführt, die sich mit der kurzzeitigen der hitlerfaschistischen Imperialisten jedenfalls messen kann, ja sie übertrifft. Was diese Geistes- und Gemütshaltung in der Welt inzwischen angerichtet hat, ist zu besichtigen. Dazu muss man neuerdings nicht nach Afghanistan, Israel, Syrien und Libyen reisen. Die Opfer finden sich hierzulande ein und wir diskutieren darüber, wie viele von ihnen doch auch die Slowakei und die Tschechei aufnehmen müssten. Und wie steht es mit dem Verursacherprinzip? Warum sagt niemand, die USA sollen ihre Kriegs- und Handelsflotte in die Häfen von Libyen, des Libanon und der Türkei schicken und die Elenden in ihr Riesenland transportieren und sie in ihm aufnehmen.
Das führt zu der Frage, was Friedensbewegungen heute in Deutschland zu fordern und zu tun hätten, was sie tun können.. Das erste ist und bleibt die Aufklärung über die Ursachen der Kriege und gefahrdrohenden Spannungen. Und da kommt keine Friedensbewegung um die Kennzeichnung der Rolle des amerikanischen Imperialismus herum und darauf sich durch die hirnlose Anklage, darin drücke sich Antiamerikanismus aus, nicht schrecken und disziplinieren lassen. Es muss klar ausgesprochen werden, mit wem die Bundesrepublik da verbündet ist und dass sie dieser ihrer Bündnisverpflichtung beispielsweise durch die provokatorischen Manöver nachkommt und mehr noch und fortlaufend durch ihr Schweigen Schweigen zur Politik der Führungsmacht. Dabei ist es der Staatspropaganda gelungen, diese deutsche Republik als einen ewigen Friedenstifter darzustellen, personifiziert in einem Außenminister, der von Gespräch zu Gespräch eilt, von Konferenz zu Konferenz und überall erklärt, dass man sich doch vertragen müsse und dass dazu notwendig sei, miteinander zu reden. Die >Frage von Krieg und Frieden wird ausschließlich zu einer Frage von gutem Willen von Politikern und zu einem Problem ihrer Fähigkeit erklärt, Krisen zu managen. Das hätte die von 1914 nicht gekonnt, und deshalb seien sie und die Menschen in einen Weltkrieg geraten. Die erste Aufgabe der Friedensbewegung besteht folglich daran, den Nebel zu lichten und zu beseitigen, der vor das Verständnis der Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand gelegt wird. Das allein ist eine Berserkerarbeit.
Auf diesem Wege ist – damit eben verbunden, eine zweite in Angriff zu nehmen. Die Voraussetzungen von Erfolgen ist natürlich die Kombination der großen Zahl. Ohne Massen und deren Druck ist auf politische Entscheidungen kein Einfluss zu gewinnen. Das geht nicht ab, ohne dass vor allem mit den nachwachsenden Generationen über Humanität und Solidarität gesprochen und deren Erziehung zum Egoismus eine Alternative entgegengesetzt wird. Und es verlangt nicht weniger die Formulierung von überzeugenden und zugleich erreichbaren Zielen. Das beginnt, das war ein Prinzip von Friedensbewegungen zu allen Zeiten, der Katalog von Forderungen mit Richtung auf das eigene Land. Wie wäre es, wenn es in der Bundesrepublik ein oder zwei Zeitungen gäbe, die Tag für Tag auf der ersten Seite einfach den Betrag angeben würde, den dieser Staat für die Bundeswehr, ihren Erhalt, ihre Ausrüstung und ihren Einsatz ausgibt? Woran die Frage zu knüpfen wäre: Wer bedroht uns eigentlich? Dann würden viele der täglichen Diskussionen über die Aufwendungen des Staates und die Verweigerung von Staatsausgaben eine lebendigeren Inhalt gewinnen.
Die Friedensbewegungen hierzulande könnten doch fragen: Warum schweigt sich diese Bundesregierung, die sich der Abschaffung der Atom getriebenen Elektrizitätswerke rühmt und das mit Gründen, nichts, um sich international gegenüber den acht Staaten, die Atomwaffen besitzen, darunter mehrere ihrer Verbündeten, für eine konsequente atomare Abrüstung einzusetzen? Und da ist da das weite Feld der deutschen Waffenproduktion und ihres Exports. Es gab in der Geschichte wiederholt Kriege, die nicht mit dem Sieg der einen oder anderen Seite endeten, sondern mit der Erschöpfung der einander Bekriegenden, ihrer Menschen und ihres Materials. Die Waffenlieferanten allein hätten die Möglichkeit heutige Kriege zu verkürzen und gleichsam auszutrocknen. Es könnte eine Aufgabe der Friedensbewegung sein, die Waffenproduzenten und Kriegsgewinne, denn das sind sie doch, namhaft zu machen. Wandel zu schaffen ist da ohne Konversionsprogramm schwer genug, fürchten doch Arbeiter und Angestellte um ihre Arbeitsplatz und stellen sich so oder so auf die Seite der großen Profiteure:
Liebknecht, der als Gefangener in Zimmerwald nicht teilnehmen konnte, schrieb den dort Versammelten einen Brief. Aus ihm stammt der auffordernde Satz: „Wie’s zu kämpfen gilt, muss festgelegt werden.“ Das eben könnte unseren Debatten Wegweiser sein.