Kommunal- und Regionalwahlen in der Ukraine – Notizen

06.11.2015
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Am 25. Oktober fanden in 22 Regionen der Ukraine Kommunal- und Regionalwahlen (Bürgermeister, Stadt- und Bezirksräte) statt. Am 4. November sollten die offiziellen Wahlergebnisse vorliegen. Sie lagen nicht vor. Ein Grund für die Verzögerung soll das neue Wahlgesetz sein, das die Kiewer Regierung kurz vor der Wahl verabschiedete. Danach wurde bei der Wahl der Stadt- und Bezirksräte nicht mehr für einen Wahlkreis-Kandidaten abgestimmt, sondern für eine Parteiliste. Die Sitze in den Parlamenten werden dann proportional vergeben. Beabsichtigt war, mit dieser Neuregelung, vor allem im Süden und Osten der Ukraine, den Einfluss so genannter prorussischer Parlamentarier zu schwächen. Von Wahlbeobachtern ist zu hören, dass in den Wahlkommissionen das neue Wahlgesetz nicht rechtzeitig bekannt geworden und die Auswertung der Wahlergebnisse schwierig sei. Oleksandr Kljuschew von der Bürgerinitiative „Opora“, die einige tausend Beobachter in den Wahllokalen hatte, äußerte gegenüber dem Deutschlandfunk (4.11.15): „Die Wahlkommissionen vor Ort kannten es (das neue Wahlgesetz. S.R.) noch nicht ausreichend, sie haben das neue Gesetz noch während der Auszählung studiert. Sie mussten ihre Dokumente immer wieder überprüfen und frühere Beschlüsse zurücknehmen.“

„Kyiv Post“ meinte sogar, die Mehrheit der Ukrainer würde das neue Wahlrecht nicht verstehen. Es gibt Meldungen, wonach übergeordnete Behörden vielfach Auszählungsprotokolle aus Wahllokalen zur Korrektur zurückschickten. Nach Angaben des „Wählerkomitees der Ukraine“ sollen in Dnipropetrowsk etwa 80 Prozent der Protokolle nach Maßstäben des neuen Gesetzes korrigiert worden sein.

Bei den Kommunal- und Regionalwahlen ging es um die Wahl von rund 10.000 Bürgermeistern und 160.000 Abgeordneten in örtlichen und Regionalräten. Etwa 210.000 Kandidatinnen und Kandidaten sowie 142 „Parteien“ traten zur Wahl an. Die meisten dieser „Parteien“, die eher „Wahlgruppierungen“ genannt werden sollten, wurden erst kurz vor den Wahlen gebildet. Der Kommunistischen Partei war eine Wahlteilnahme verboten. In den Rebellengebieten Donezk und Luhansk wurden Kommunalwahlen in das Jahr 2016 verlegt. (Minsker Abkommen)

Etwa 30 Millionen Bürger waren wahlberechtigt. Rund 13,8 Millionen Bürger beteiligten sich an der Wahl, das waren mit 46,6 Prozent weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten. Bei den Kommunalwahlen 2006 lag die Wahlbeteiligung noch bei 59 Prozent, aber 2010 lag sie schon unter 50 Prozent und sank nun weiter ab.

Die Wahlbeteiligung sei im Südosten niedriger gewesen als im Zentrum und im Westen der Ukraine, so die vorläufigen Angaben. In 122 Kommunen der Ukraine, die nahe der Frontlinie zu den Rebellengebieten liegen, fanden keine Wahlen statt. Die fast 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass konnten ebenfalls nicht an den Wahlen teilnehmen. Ein besonderes Desaster ereignete sich, als am Wahlsonntag in der „Frontstadt“ Mariupol am Asowschen Meer, laut Poroschenko ein „Vorposten der Demokratie“, die Wahllokale geschlossen blieben. Angeblich gab es „Unstimmigkeiten“ bei den Stimmzetteln. 300.000 Wahlberechtigte konnten nicht wählen. Auch in Kramatorsk, ebenfalls im Westen des Donbass gelegen, wurde nicht gewählt.

Bei Umfragen vor der Wahl lag in Mariupol der Kandidat des Oppositionsblocks Silnaja Ukraina (Starke Ukraine) vorne. In dem Oppositionsblock sind Politiker stark vertreten, die bis zum Staatsstreich im Februar 2014 der regierenden Partei der Regionen angehörten und als „prorussisch“ gelten.

Die Bezeichnungen „prowestlich“ und „prorussisch“ sind nicht nur oberflächliche Beschilderungen und gerade deshalb so leicht eingängig, sie sind in den Propagandaschlachten scharfe Waffen. Am Wahlsonntag erklärte Präsident Poroschenko im Fernsehen: „Es ist sehr wichtig, dass in den Stadträten pro-ukrainische Koalitionen gebildet werden, damit wir dem Aggressor keine Chance geben, die Lage innerhalb des Landes zu destabilisieren.“ Diese Kriegssprache richtet sich gegen viele Kandidaten für Stadt- und Regionalparlamente sowie Bürgermeisterposten, die als „prorussisch“ gelten und von Poroschenko auch als „fünfte Kolonne Moskaus“ verunglimpft wurden.

Die Hasstiraden gelten namentlich den bisher regierenden Bürgermeistern der Millionenstädte Charkiw und Odessa, beide ehemals Politiker der Partei der Regionen. Der Bürgermeister von Charkiw, Kernes, war ein erklärter Gegner des Staatsstreiches vom Februar 2014. Seit einem faschistischen Attentat auf ihn ist er querschnittsgelähmt. Er wurde bereits im ersten Wahlgang am 25. Oktober mit deutlicher Mehrheit gewählt. In Odessa erfuhr der Deutsch-Ukrainer Alexander Borowik, Kandidat des aus Georgien eingeflogenen Gouverneurs Michael Saakaschwili, mit 30 Prozent der Stimmen eine deutliche Niederlage. Der Kandidat des Oppositionsblockes, der bisherige Bürgermeister Gennadi Trachanow, erhielt etwa 50 Prozent der Stimmen. Er gehörte früher zur Antimaidan-Partei „Rodina“.  In Kiew muss der Bürgermeister Witalij Klitschko (Block Poroschenko) in die Stichwahl. Er liegt allerdings laut Befragungen vorne und hat Chancen auf seine Wiederwahl.

Zum Wahlablauf insgesamt ließen OSZE-Wahlbeobachter mitteilen, die Wahl habe trotz Mängeln „demokratischen Standards entsprochen“. Was war damit wohl gemeint? Selbst die deutschen Medien, die parteiisch für die Kiewer Koalition sind, erwähnten in ihren Berichten vom Wahlkampf die verbreitete Korruption, den „Stimmenkauf“. Kandidaten nutzten die elende Lage vieler Menschen aus und lockten zu Wahlveranstaltungen mit Ausgabe von Lebensmitteln oder Medikamenten. Das Komitee der ukrainischen Wähler sprach von 1500 registrierten „Unregelmäßigkeiten“. Das Finanzierungssystem der Parteien war undurchsichtig, denn das neue Gesetz über eine transparente Parteienfinanzierung, unter Einfluss der EU beschlossen, fand bei diesen Wahlen keine Anwendung. Offensichtlich standen in den wirtschaftlich wichtigsten Regionen die Wahlen unter massivem Einfluss des Großkapitals („Oligarchen“) und der Kämpfe zwischen ihren verschiedenen Fraktionen. Und das war den Wählern mehr oder weniger auch klar, Genannt seien nur der Block Poroschenko und in Dnipropetrowsk der  Oligarch Kolomojski, dessen Geschäftsfreund Boris Filatow dort als Bürgermeister kandidiert.

Ein sehr scharfes Urteil über die Wahlen kam von Jurij Bojko, Vorsitzender des Oppositionellen Blocks der Ukraine: „…diese Wahlen (seien. S.R.) die schmutzigsten und kompliziertesten in der Geschichte des Landes“ gewesen. Viele Indizien sprechen dafür, dass die soziale Basis für die Wahlverweigerung der Mehrheit der Wahlberechtigten und die Stimmenverluste der Regierungskoalition darin besteht, dass seit der letzten Parlaments- sowie Präsidentenwahl die wirtschaftliche Misere zunahm und die schreierische Ankündigung eines Kampfes gegen die Korruption ins Leere lief. Die drohende Staatspleite konnte zwar mit Hilfe des USA-Kapitals hinausgeschoben werden, aber abgewendet ist sie nicht. Die Kiewer Regierung muss im Dezember 3 Milliarden Dollar an Russland zurückzahlen, weigert sich aber die Verpflichtungen zu erfüllen. Kurz, alle grundlegenden Probleme der Wirtschaft, der innerstaatlichen Demokratie, der Politik gegenüber den Rebellengebieten in der Ostukraine und der Beziehungen zu Russland sind ungelöst.

Nach bisherigen Mitteilungen soll der Block Poroschenko „Solidarnist“ die meisten Sitze in den Regional- und Kommunalparlamenten erhalten haben. Bei den Wahlen zu den Stadträten und Regionalparlamenten entfielen auf die Kandidaten des Blocks Poroschenko etwa 18 Prozent der Stimmen. Jazenjuk war mit seiner Partei bei den Wahlen nicht angetreten. Deren potentielle Stimmen sollten zum Block Poroschenko kommen. Zugleich fürchtete Jazenjuk, dass eine Wahlteilnahme seinen rapiden Vertrauensverlust offenbaren würde. Woraus sich auch immer die Stimmen für den Block Poroschenko rekrutierten, mit den 18 Prozent Stimmenanteil blieb der Block hinter den Ergebnissen der Parlamentswahl von 2014 zurück. Bisherige Angaben zu den Wahlen zeigen als weitere Tendenzen: Stimmengewinne für den Oppositionsblock, Stimmengewinne für die Partei von Julia Timoschenko, aber auch Stimmengewinne für faschistische Parteien.

Nach den Wahlen setzt sich die Verelendung großer Teile der Bevölkerung fort. Und die Banderas von heute drohen mit dem nächsten Umsturz.

S.R.

 

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