100 Jahre Oktoberrevolution – Ein Blick auf das Unmögliche

03.12.2017
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

„…daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei,
also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen,
von denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,
ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (…)
Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die
Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie,
welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt.“

Karl Marx zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

 

Den Menschen nicht nur zum höchsten Wesen zu erklären, sondern ihm diesen Platz zu erkämpfen, war und ist die Richtschnur revolutionärer Bewegungen - in jeglicher Hinsicht, politisch, ökonomisch, geistig, moralisch. Das war für die Bolschewiki auch der Antrieb für die Oktoberrevolution. Von einer kleinen Gruppe, auch weltweit im Exil verstreut, im stetigen Meinungsstreit, eroberten sie später nicht nur die Mehrheit in ihrer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, sondern sie ließen eine Welt erbeben.  John Reed, der US-amerikanische Publizist und Kommunist, beschreibt das in seinem Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Im Vorwort dazu stellt er am 1. Januar 1919 fest: „Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, gehört es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein Abenteuer zu nennen.“ Wie man sieht, hat sich an dem sogenannten guten Ton, auch unter Linken 100 Jahre später nicht viel geändert. John Reed weiter: „Ein Abenteuer war es und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch so leicht verstandenen Wünschen untergeordnet.“

Gewaltig und leicht verstanden – so müssen revolutionäre Ziele sein: gewaltig und leicht zu verstehen waren im Oktober 1917 die Losungen und Forderungen der Revolution: Schluss mit dem Krieg, Land und Brot, für das Recht der Völker auf freie Selbstbestimmung und für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Schon an dieser Stelle können wir im Rückblick auf die Praxis der Oktoberrevolution festhalten: Ideen/Losungen werden dann zur materiellen Gewalt, wenn sie elementare Bedürfnisse der Massen ausdrücken. Karl Marx hatte das theoretisch vorweggenommen als er viel interessanter (in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) schrieb: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“ Es war Lenins Genialität, Massenstimmungen aufzugreifen und in radikalen Forderungen zuzuspitzen. Das fehlt uns heute. 

Den klassenbewussten Teilen des Roten Oktober war klar, dass die Revolution ihren Ausgangspunkt zwar in Russland genommen hatte, jedoch von ihrem Wesen her eine antiimperialistische, eine internationale, weltweite Dimension haben muss. Insofern benutze ich den Begriff „Russische Revolution“ nur ungern. Den Revolutionären des Jahres 1917 war klar, dass ihre Revolution international werden muss, wenn sie Bestand haben soll. Sehnsuchtsvoll richteten sich ihre Blicke auf Deutschland. Von der Revolution in Deutschland, dem damals und heute wieder stärksten Land im imperialistischen Europa, erhofften sie sich, dass sie die Isolation der Oktoberrevolution durchbrechen würde. John Reed gibt in seinem Buch eine Rede der Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa wieder, für ihn die populärste und einflussreichste Frau in ganz Russland: „Alle Arbeiterrevolutionen der Vergangenheit sind niedergeschlagen worden, aber die gegenwärtige Bewegung ist international und darum unbesiegbar. Es gibt in der ganzen Welt keine Macht, die das Feuer der Revolution wieder löschen könnte. Die alte Welt bricht nieder, eine neue beginnt.“ Zur Tragik der Oktoberrevolution gehört, dass die Revolution in Deutschland nicht siegreich war, sie blieb aus. Das heißt nicht, dass die Revolution nicht in einem Land erfolgreich sein könne, sogar über einen längeren Zeitraum – siehe auch Kuba. Zur gleichen Zeit jedoch wird die Revolution ohnehin nicht auf dem ganzen Erdball siegen, allein schon wegen der Ungleichzeitigkeit imperialistischer Entwicklung. Doch allein, auf sich gestellt, bleibt jede einzelne Revolution fragil und verletzlich.

Heute mag es als politischer Fehler erscheinen, so die These von einigen um die LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung herum, den Zarismus gewaltsam gestürzt zu haben. Besser wäre es gewesen, bei der Februarrevolution zu bleiben und deren parlamentarischen Pfad zu vollenden. Wobei ungelöst bleibt, dass die Kerenski-Regierung ja den Krieg weitergeführt hat. Georg Lukàcs schrieb diese Haltung (in seinem Artikel Lenin und die Fragen der Übergangsperiode) „sozialdemokratischen Theoretikern“ zu, die es als einen Fehler bezeichnet hätten, „das kapitalistische Regime in den großen Oktobertagen gewaltsam zu stürzen.“ Lukàcs weiter: „Große historische Entscheidungen, revolutionäre Entschlüsse werden niemals in Studierzimmern von `Gelehrten` `rein theoretisch` ausgeklüngelt. Sie sind im Gegenteil Antworten und Alternativen, die von einem in Bewegung geratenen Volk in der Wirklichkeit … den Parteien und ihren Führern aufgedrängt werden. Die konkreten Situationen, in denen die Entscheidungen gefällt werden mussten, wurden (in Russland 1917) vor allem vom ersten imperialistischen Weltkrieg geschaffen.“

Die Oktoberrevolution war also nicht zuletzt das Ergebnis des konsequenten Kampfes gegen den Krieg. Sie war eine anti-Kriegs-Revolution, aber anders, als die Mehrheit der linken Sozialdemokraten Europas auf der Zimmerwalder Konferenz gedacht hatte, die auf einen konsequenten Pazifismus setzte. Lenin hingegen hatte bereits in Zimmerwald vorgeschlagen, den Kampf um die Beendigung des Krieges mit dem Sturz kapitalistischer Herrschaft zu verkoppeln. Das war das Ziel der russischen Revolutionäre. Heute ist das Verhältnis revolutionärer Bewegungen zur Friedensbewegung aus vielen guten Gründen ein anderes. Pazifismus und gesellschaftliche Veränderungen schließen sich gegenseitig nicht mehr aus. Und auch Teile des Bürgertums bis hinein ins Militär sind für eine Friedenspolitik gewinnbar. Diese Veränderung hat viele Gründe. Einer davon ist: Es gibt die Atombombe und die kann den ganzen Planeten zerstören. Krieg wird nicht mehr hauptsächlich mit dem „Kanonenfutter“ der arbeitenden Klassen geführt, sondern mit alle und alles bedrohenden Zerstörungspotenzialen. Diese Entwicklung hat Willy Brandt erfasst, als er sagte: Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden. Auch wenn Willy Brandt nicht die Friedensbewegung zum Bürgertum und umgekehrt geöffnet hat, ist doch der Gedanke, dass der Kampf um den Frieden die zentrale Frage auch in unseren Zeiten ist, völlig richtig. Ich denke an die großen Bewegungen für Frieden in Westdeutschland, die auch Soldaten und Offiziere einschloss, und ich denke auch an die Soldaten, Offiziere und Generäle der NVA, die sich immer als Soldaten für den Frieden verstanden haben.

Warum, so frage ich mich, sind wir als LINKE so zögerlich im letzten Wahlkampf mit zentralen Forderungen der Friedensbewegung umgegangen, wie jener nach einer guten Nachbarschaft zu Russland, nach drastischer Abrüstung, der Schließung der US-amerikanischen Stützpunkte in Europa oder mit der Forderung, US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa abzuziehen. Warum vergaßen wir, die Forderung nach einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, wieder zum Thema zu machen, kurzum: warum haben wir uns nicht deutlicher als Abrüstungspartei zur Wahl gestellt? Im Roten Oktober war der Weg der Bolschewiki zur Umwälzung der Verhältnisse in Russland der konsequente Kampf zur Beendigung des Krieges. Wenn die LINKE ernsthaft die politischen Verhältnisse in Deutschland und Europa verändern will, ist unser Nein zu Aufrüstung, zu Aggressionen, Nein zu Angriffskriegen (wie gegen Jugoslawien) nicht zur Disposition zu stellen. 

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

wenn wir über 100 Jahre Oktoberrevolution nachdenken, genügt also nicht ein Blick zurück, er muss auch viele aktuelle Entwicklungen aufnehmen oder zumindest bemerken. Einige davon will ich gleich noch ansprechen. Doch vorweg eine Bemerkung, sie ist mir wichtig: Wir können nicht über die Jahrhundertrevolution reden und über die Fehler dieser Bewegung, über unsere Fehler schweigen. Die Handlungen von Kommunistinnen und Kommunisten haben auch viele Menschen von uns abgestoßen. In unserer eigenen Bewegung haben Genossinnen und Genossen großes Leid erfahren, sie haben ihre Kraft, ihren Glauben oder gar ihr Leben verloren. Auch daran will ich erinnern. Dazu schreibt Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ und Franz-Josef Degenhardt singt in seinem Lied „Komm an den Tisch unter Pflaumenbäumen“: „Vorsicht ist unsere Träume geschlichen, die Maultrommel spielt nicht mehr.“ So schmerzlich es ist, aber wir lernen auch aus Leid, Fehlern und Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen worden sind.

Zurück zum Anfang der Oktoberrevolution: Um Frieden zu bekommen, hat die junge Sowjetmacht die beispielhaften Verträge von Rapallo und Locarno abgeschlossen und in ihnen schon damals die heute noch immer brennend aktuelle Forderung „Land für Frieden“ verwirklicht. Es lohnt sich, die Reden der russischen Regierung im Völkerbund und – mit einem gewaltigen zeitlichen und politischen Sprung - in den Gründungsjahren der UNO nachzulesen. Besonders der antikoloniale Grundzug der sowjetischen Außenpolitik ist ein Ergebnis auch der Oktoberrevolution.

Im ersten Jahr der Revolution wechselten die Volkskommissare für Auswärtige Angelegenheiten rasch. Auf Trotzki folgten Adolf Joffe und Karl Radek. Georgi Tschitscherin hielt sich dann schon bis 1923, sein Nachfolger war Maxim Litwinow. Von ihm stammt die Idee einer Volksdiplomatie. Nicht die Regierungen allein, auch die Völker sollten Subjekte der Außenpolitik sein. Volksdiplomatie begegnet uns heute wieder, gerade auch im Zusammenhang mit dem deutsch-russischen Verhältnis. Der Gedanke hierbei: Wenn es zwischen den Staaten knirscht und hakt, dann sind die Völker gefragt. „Völker“ ist im konkreten Beispiel vielleicht etwas hochgegriffen, aber die Kontakte zwischen Kommunen, Hochschulen, Regionen, Bewegungen sind die möglichen Keimzellen eines neuen deutsch-russischen Vertrauensverhältnisses.

Der Rote Oktober hat den Weg zu einem neuen Verhältnis der Völker zueinander zumindest als Problem erkannt. Ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Russland würde es uns auch möglich machen, aus den Erfahrungen des Vielvölkerstaates für das Heute zu lernen. Dazu einige Beispiele: Der Sowjetkongress verkündete das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung. Erstens seien Gleichheit und die Souveränität der Völker Russlands unveräußerlich und zweitens gelte ihr Recht „auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates“.

Aktuell gewinnt die Debatte darüber, ob sich neue Staaten durch Lostrennung bilden dürfen, eine ungeheure Dynamik. Denken wir nur an die Debatten in Spanien um den Status Kataloniens und der Basken, an den Kosovo, den Übergang der Krim an Russland, denken wir an Transnistrien, Südossetien oder Abchasien, an die Wünsche und Forderungen der Kurdinnen und Kurden zur Bildung eines eigenen kurdischen Staates durch die Abtrennung von Gebieten aus der Türkei, Iran, Irak und Syriens, denken wir an den künftigen Status der Ostukraine oder an die schottische Selbständigkeitsbewegung. Gerade weil wir wissen, wie willkürlich und von Machtinteressen bestimmt in großen Teilen der Welt Grenzen gezogen worden sind, ist es mit der schlichten Verteidigung bestehender Grenzen als Teil des Völkerrechts nicht getan. Umgekehrt kann aber auch ein Ja zur leichtfertigen Veränderung von Grenzen zu Gewalt und Kriegen führen. Das widerspräche zudem dem Abschlussdokument der KSZE-Konferenz, in dem die bestehenden Grenzen in Europa als unverletzbar beschrieben werden. Meine Schlussfolgerung: Grenzveränderungen sind inzwischen zu einem gesamteuropäischen, ja weltweiten Problem geworden. Grenzen als unveränderlich zu erklären, kann dem Selbstbestimmungsrecht der Völker widersprechen, sie zu verändern, kann eine Machtbalance aus dem Lot bringen. So eigenartig es im Zeitalter der Globalisierung erscheinen mag: Wir müssen das – in Anführungszeichen – „Grenzregime“ des Völkerrechts überprüfen. Was wir auf keinen Fall dulden ist, dass das Selbstbestimmungsrecht pauschal als separatistisch, nationalistisch und mithin reaktionär abqualifiziert wird.

Während sofort nach der Oktoberrevolution Militärformationen aus dem alten Europa im Bündnis mit nationalistischen Kräften in der Ukraine, Finnland, auf der Krim den Bürgerkrieg begannen und vom Süden Russlands vordrangen, begann zeitgleich die neue Regierung Russlands, der Rat der Volkskommissare eine Diskussion über die Veröffentlichung aller Verträge des Zarismus anzustoßen. Am 08. November 1917, einen Tag nach dem Sturm auf das Winterpalais, erklärte Lenin: „Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab, sie erklärt, dass sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volk zu führen und geht unverzüglich dazu über, alle Geheimverträge zu veröffentlichen.“ Keine Geheimdiplomatie in der revolutionären Regierung – das war und ist heute noch eine großartige Vorstellung, auch wenn die Sowjetmacht sie nicht eingelöst hat und die Sowjetunion unter Stalin dann selbst Geheimverträge, so zur Teilung Polens, abgeschlossen hat. Wäre es nicht eine gute Forderung der Partei DIE LINKE, alle heutigen Geheimverträge Deutschlands, inklusive der „Besatzungsverträge“ mit den USA, öffentlich zu machen? Das würde umso mehr gelten für DIE LINKE in einer Regierung.

Wenn wir mit dem Abstand von 100 Jahren über die Oktoberrevolution nachdenken, nehmen wir nicht nur den einen revolutionären Akt in den Blick, sondern wir versuchen die lange geschichtliche Welle zu begreifen, die von der Oktoberrevolution ausgelöst wurde. Zur Revolution gehört auch die Konterrevolution. Dieser Janusköpfigkeit ist unausweichlich, solange der Imperialismus ein Weltsystem ist. Den Interventionskriegen hielt die Oktoberrevolution stand, doch sie hatte ihre größte Bewährungsprobe noch vor sich, das war der Sieg über den faschistischen Angriffskrieg und die Befreiung Europas vom Faschismus. Wer über 1917 nachdenkt, kann 1945 nicht ausblenden. Als dieser Krieg als ein militärischer Krieg endlich zu Ende war, ging er unter der Drohung der Atombombe geradewegs über in den Kalten Krieg mit seinen feindseligen Blockbildungen und Stellvertreterkriegen.  Eine Phase der Ruhe, der Abrüstung hat die Sowjetunion nicht gehabt bzw. sich nie verschaffen können.

Die Oktoberrevolution war das Fanal für Revolutionen in vielen Teilen der Welt und hat bis heute nationale Befreiung inspiriert. Die Oktoberrevolution und die Revolution in China waren Zwillinge – allerdings höchst unterschiedliche. Mit der Oktoberrevolution und ihrer Strategie der Befreiung der Völker des Ostens schlug auch die Stunde der Freiheit für kolonial unterdrückte und ausgeplünderte Völker in Asien, Afrika und Lateinamerika. Stellvertretend für sie alle will ich an vier Menschen erinnern: Patrice Lumumba, der erste frei gewählte Präsident des Kongo, erschlagen von einem rassistischen Mob unter Mittäterschaft der ehemaligen Kolonalmacht Belgien; an Ho Chi Minh, der im Kampf gegen die französische Kolonialmacht und den US-amerikanischen Imperialismus sein Land Vietnam in die Freiheit führte und gleichzeitig wunderbare Gedichte geschrieben hat; an Salvador Allende, den klugen und warmherzigen Lehrer des chilenischen Widerstands gegen die Verdammnis des lateinamerikanischen Kontinents, ein Hinterhof der USA, freigegeben zur Ausbeutung durch die United Fruit Company, zu bleiben und selbstverständlich an den vor wenigen Monaten verstorbenen Fidel Castro.

Auch um Westeuropa machten revolutionäre Bewegungen, trotz der Dominanz der USA, keinen Bogen. Denken wir an die Partisanenbewegungen in Griechenland, Italien und Jugoslawien, die Teile ihres Landes selbst vom Faschismus befreit haben; erinnern wir uns an Wahlergebnisse der italienischen Kommunisten unter Togliatti und Enrico Berlinguer von 34 Prozent und die gemeinsame Regierung von Sozialisten und Kommunisten Anfang der siebziger Jahre in Frankreich, das Ende des Faschismus in Spanien und die Nelkenrevolution in Portugal, die das Salazar-Regime stürzte und Angola, Mozambique in Guinea-Bissau endlich vom Kolonialismus befreite.  Alle diese Erhebungen wurden – einschränkend muss gesagt werden: Mehr oder weniger – getragen von großen Volksbewegungen, manche ihrer Programme waren beflügelnder als die dann folgende kleinmütige Praxis. Aber wenigstens bis Ende der 1980’er Jahre flackerte der Geist des Aufruhrs in Westeuropa immer wieder auf -  in Kooperation, aber auch im Widerspruch zur Politik der Sowjetunion und der europäischen sozialistischen Länder.

Ich erinnere mich, dass ich im Mai 1968 in Paris bei den Massenaktionen von Studierenden und Arbeitern war. De Gaulle hat zwar Panzer auffahren und die berüchtigte Nationalgarde von der Leine gelassen, er selbst aber war abgetaucht. Ich dachte, jetzt hat die Revolution begonnen. Und, wie man heute weiß, De Gaulle dachte das auch. In Italien, ebenso wie in Frankreich und auch in der Bundesrepublik standen immer NATO-Geheimarmeen parat. In Italien war Gladio bereit, mit Attentaten, so dem Mord an Aldo Moro, die linke Bewegung zu spalten und einen Wahlsieg der Kommunisten zu verhindern. Für den Fall, dass ... lagen die Putsch-Pläne der NATO schon bereit. Dem US-Imperialismus waren eben die schwarzen Obristen und die Geheimloge P2 näher als demokratische Volksbewegungen. 2018 ist das fünfzigste Jahr nach den großen Aktionen in den kapitalistischen Zentren Westeuropas.  Uns steht also eine erhebliche Debatte um die 68’er bevor. Nicht Fischer und Schröder sind Inbegriff der 68’er. Die 68’er waren zwar nicht die Kinder des Roten Oktober, aber sie sind nicht denkbar ohne die lange Welle, die 1917 in St. Petersburg ausgelöst wurde.

Wir müssen uns anstrengen und viel mehr dafür tun, dass nicht andere uns unsere Geschichte rauben und ein Zerrbild von ihr im Gedächtnis der Menschheit verankern. Ohne die fortdauernde Aneignung und Wiederaneignung der Geschichte würden wir langsam das Gedächtnis verlieren. Doch ohne Erinnerung keine Zukunft. Dass das nicht nur ein Spruch ist, haben wir in den Jahrzehnten seit 1989 drastisch erfahren. Die herrschende Klasse muss auf das Ende der Geschichte setzen, sie muss einen endgültigen Schlussstrich ziehen wollen unter die Oktoberrevolution und alle ihre Folgen. Denn jegliche Erinnerung an, jegliche Kenntnis von revolutionären Erhebungen im Allgemeinen und ihren Taten im Einzelnen entzieht der herrschenden Klasse ihre Daseinsberechtigung und die Unterdrückten schöpfen Mut aus dem: Wir haben es gewagt!  

Wolfgang Gehrcke,
unter Mitarbeit von Christiane Reymann