Vor 50 Jahren: Erstes Weißbuch der Bundeswehr Militarismus als Konstante

04.02.2019
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

Am 11. Februar 1969 erschien erstmals das »Weißbuch zur Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland«, das seitdem in unregelmäßigen Abständen erscheint zur jeweils aktualisierten Militärstrategie – sie wird bis heute »Verteidigungsstrategie« ge­nannt. 1969 geschah das zum ersten Mal, und das markierte eine der Etappen im Verhält­nis von Bundeswehr und Gesellschaft.

Die erste Etappe war zugleich der tiefste Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschich­te, das war die Wiederbewaffnung mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Westin­tegration der Bundesrepublik Deutschland. 1969 markiert das Weißbuch eine zweite Etap­pe, in der mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« der Versuch unternommen, Mili­tär und Gesellschaft aus der Entgegensetzung zu einem Miteinander zu verbinden. Die dritte Etappe endlich beginnt mit dem Jugoslawien-Krieg 1999 und der neuen NATO-Strate­gie aus dem selben Jahr (fortgeschrieben 2010), die nun auch offiziell die NATO – und in ihr die Bundeswehr – nicht mehr nur der Verteidigung verpflichtet sieht, sondern den An­spruch erhebt, auch jenseits des Wendekreis des Krebses, »out of area«, in der ganzen Welt die eigenen Interessen militärisch durchzusetzen.

In den ersten Jahren nach dem Schock des verlorenen Weltkriegs und der noch wachen Er­innerung an die Schrecken des Krieges gab es weder im Osten Deutschlands noch im Wes­ten so etwas wie eine Militärstrategie, sondern nur eine Absage an jegliches Militär und jeglichen Militarismus. Das war die Zeit als der spätere Verteidigungsminister und CSU-Vorsitzende Franz Joseph Strauß wie ein Prediger drohte, dass jedem Deutschen die Hand abfallen solle, der wieder zum Gewehr greift. Doch diese Etappe währte nur kurze Zeit. Schon bald setzte, ausgehend von Bonn und vor allem den USA, die Wiederbewaff­nung der Bundesrepublik Deutschlands ein. Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Staatssekretär Glob­ke – ein hochbelasteter Nazi – sicherten bereits im Vorläufer der Bundeswehr, dem »Amt Blank« ab, dass die künftige westdeutsche Armee Nazigeneräle und -offiziere wie ein Staubsauger aufsaugen konnte, ebenso wie das Auswärtige Amt, der  Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst. Mit der offiziellen Gründung der Bundeswehr nur zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Westintegration der Bundesrepublik und damit zu­gleich die Blockspaltung Deutschlands besiegelt. Wer sie verhindern oder überwinden wollte, wurde als »Kommunist« ausgegrenzt und diffamiert. An diesem »Vorwurf« war durchaus etwas dran: Anders als fortdauernd behauptet, orientierten die SED im Osten und die KPD im Westen zunächst auf ein einiges Deutschland. Ein neutrales und entmilita­risiertes Deutschland hatte auch die Sowjetunion 1952 in der sogenannten Stalin-Note zur deut­schen Einheit der Bundesregierung und den westlichen Alliierten angeboten. Das wur­de abgelehnt. Konrad Adenauer wollte entsprechend seines berühmt-berüchtigten Aus­spruchs »lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb«. Und Franz Josef Strauß konnte seine Hände behalten. Er wurde mehrfach Minister in der Regierung Adenauer, zugleich war er Rüstungslobbyist für neue Waffensysteme und Propagandist für den deutschen Griff zur Atombombe.

Wie kein Zweiter verkörperte General Adolf Heusinger (1897-1982) die Kontinuität der mi­litaristischen Traditionen. Er war in vier deutschen Armeen: Im ersten Weltkrieg als Leut­nant der Infanterie, er wurde Offizier der Reichswehr, operativer Kopf in Hitlers General­stab und Stratege des »Unternehmens Barbarossa«, dem Überfall auf die Sowjetunion und Vernichtungs­krieg. Im Nachkriegs-Westdeutschland wurde er zum obersten Mili­tär der neugegründeten Bundeswehr.

»Begrenzter Krieg«

Diese Traditionslinien und die Verbrechen der deutschen Armee wurden in der Revolte von 1968 erstmals in Westdeutschland in einer relativ breiteren Öffentlichkeit thematisiert. Nicht zuletzt darauf reagierte die damalige Große Koalition mit jenem ersten Weißbuch, 1969 herausgegeben von CDU-Verteidigungsminister Gerhard Schröder. Es entwirft mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« das Bild einer Armee, die nicht neben der Ge­sellschaft existiert, sondern deren Teil sei. Ganz in diesem Sinn wird im Weißbuch die »Verteidigungsstrategie« der Bundeswehr für die Öffentlichkeit darlegt – zudem als Rechtferti­gung für die Rüstungsausgaben.

Die Entwicklung deutschen Militärpolitik ist recht gut anhand des ersten und der folgen­den Weißbücher nachzuvollziehen. Sie beschreiben auch die jeweiligen Schritte der Aufrüs­tung. Beide sind verkoppelt mit der jährlichen »Münchener Sicherheitskonferenz«, die eine internationale Bedeutung gewonnen hat. Früher hießen diese Zusammenkünfte »Wehrkun­de-Tagung«.

Der Spiegel von 1969 nannte das Weißbuch des von dem Blatt als »Wehrführer« bezeichne­ten Schröder einen »bemerkenswerten Beitrag zum allgemeinen Unsinn«[1] und weiter: »Zwei Jahre lang schrieben unter Federführung von Kapitän zur See Rolf Steinhaus Füh­rungsstäbler auf der Bonner Hardthöhe an dem erstmals erschienenen Wehr-Report, mit dem der Verteidigungsminister im Wahljahr allen Deutschen Sicherheit und Selbstvertrau­en suggerieren wollte. Das um- und umgeschriebene 97-Seiten-Papier geriet ihm zu einer Soldaten-Fibel, die bestenfalls für jene Lieschen Müller interessant ist, deren Verlobte in der Bundeswehr dienen (FDP-Wehrexperte Fritz-Rudolf Schultz)«.

Vielleicht unterschätzte der Spiegel das Pamphlet. Denn in ihm wird der Feind beschrie­ben, der Deutschland und die NATO bedrohe, das seien »die politischen Absichten der Sow­jetunion … und die offensive Struktur ihrer Streitkräfte«[2] und es wird erläutert, wie und warum sich die NATO von dem seit 1956 gültigen Konzept der »massi­ven Vergeltung« ver­abschiedet habe und jetzt die »flexible response«, im Weißbuch über­setzt mit »angemesse­ne Reaktion«, verfolge. Sie gäbe der politischen Führung die Möglichkeit zu einem »Be­grenzten Krieg als der wahrscheinlicheren Form einer bewaffne­ten Auseinandersetzung ... ohne die massive Vergeltung im Falle eines allgemeinen Krie­ges infrage zu stellen.«[3] In ei­ner Fußnote wird erklärt: »Unter einem Begrenz­ten Krieg wird ein nach politischer Zielset­zung, Raum oder eingesetzten Kräften begrenzt gehaltener bewaffneter internationaler Konflikt verstanden, der den selektiven Einsatz nu­klearer Waffen nicht ausschließt.« Ein Atomkrieg von deutschem Boden mit US-amerikani­schen Sprengköpfen wird ganz bewusst und deutlich einkalkuliert und beschrieben als: »Der deutsche Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung würde materiell und psychologisch entscheidend beeinträchtigt werden, wenn die deutschen Streitkräfte nicht in der gleichen Weise zu kämpfen in der Lage wären wie die des potentiellen Gegners und wie die der Ver­bündeten. – Die Ausstattung unserer Verbände mit Trägermitteln für nukleare Waffen be­deutet keine Verfügungsgewalt über Nu­klearwaffen. Die verbleibt bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.«[4]

Aufrüstung bis heute

In diesen Fragen unterscheidet sich das aktuelle Weißbuch der Verteidigungsministerin Ur­sula von der Leyen kaum von ihrem Vor-Vorgänger. Nur dass jetzt nicht mehr die Sowjet­union, sondern Russland als Gegner gesehen wird. Zur Atombewaffnung ist die Verteidi­gungsministerin unbescheidener. Wie ehedem Franz Josef Strauß hat sie eine deutsche atomare Bewaffnung im Hinterkopf, will sie aber im Rahmen der NATO als deutsche Teilha­be an Atomwaffen durchsetzen. Das Feindbild Sowjetunion resp. Russland, Aufrüstung und Gedankenspiele um einen (indirekten) Griff Deutschlands zu Atomwaffen bildet die Kon­stante der Weißbücher von 1969 bis heute. »Abrüstung bis auf Null« ist die Konstante der Friedensbewegung. Die Partei DIE LINKE sollte programmatisch als Erstes den kategori­schen Verzicht auf Atomwaffen, das Verbot ihrer Stationierung auf deutschem Boden for­dern und das Konzept einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa verfolgen, das der pol­nische Außenminister Adam Rapacki 1957 der UNO-Vollversammlung präsentiert hatte.  

Das Friedensgebot des Grundgesetzes und des Völkerrechts, das laut Artikel 25 des Grundgesetzes Bestandteil des deutschen Rechts ist, wird Stück für Stück in Rechtsprechung und Gesetzen und in der Praxis Schritt für Schritt, beginnend mit der deutschen Be­teiligung am Jugoslawien-Krieg, ausgehebelt. In der obersten Leitung der Bundeswehr hat einzig ein General versucht, eine nicht auf Gewalt ausgerichtete Militärpolitik durchzuset­zen. Das war Harald Kujat, General mit sozialdemokratischer Grundeinstellung, der sich als Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Militärausschusses der NATO strikt am Grundgesetz orientierte, das die Bundeswehr auf eine Verteidigungsarmee be­grenzt.

Nachsatz:

Im Gegensatz zur Bundeswehr, die ungebrochen an die Traditionen des deutschen Milita­rismus anknüpfte, bezog sich die Nationale Volksarmee der DDR auf das Nationalkomitee Freies Deutschland, wozu im weitesten Sinn auch das (missglückte) Hitler-Attentat vom 20. Juli gehört, und auf Befreiungskriege. Ihre Generäle hatten ihre militärischen Erfahrun­gen im Spanischen Bürgerkrieg oder im Kampf gegen den Hitlerfaschismus gesammelt. Die NVA war die einzige deutsche Armee, die nie einen Krieg geführt hat. Soldaten sehen sich, anders als Wolfgang Biermann textete, eben nicht alle gleich.

 

Dieser Artikel ist zuerst in den Nachrichten der Kommunistischen Plattform erschienen.

 


[1]  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45794021.html.

[2]  Weißbuch 1969 zur Verteidigungspolitik der Bundesregierung, S. 12 – Das Weißbuch steht nicht im Netz.

[3]  Ebd., S. 18 f.

[4]  Ebd., S. 19.