Auch Leid bindet aneinander

26.04.2008
Printer Friendly, PDF & Email

Rede zur Veranstaltung der RLS 
(Text vorab – es gilt das gesprochene Wort) 

Es gibt Erlebnisse, die brennen sich in die Seele ein. Kurz nach dem Libanon-Krieg 2006 diskutierte ich mit israelischen Intellektuellen. Auf meine Kritik an dem israelischen Angriff konfrontierte mich ein Gesprächspartner mit einem Bild – das Bild des kleinen jüdischen Jungen mit der großen Mütze im Warschauer Ghetto, vor den Gewehrläufen der SS, die Hände hoch erhoben. Mein Gesprächspartner sagte: Weil das unsere Geschichte ist, werden die Kinder Israels nie wieder wehrlos sein.


Ich kenne das Bild. Die ganze Tragödie des Holocaust, der industriellen Vernichtung der Jüdinnen und Juden Europas bündelt sich für mich darin. Es ist ein Bild zutiefst verletzender Ohnmachtserfahrung, - eine Erfahrung, die das Alltagsbewusstsein der Jüdinnen und Juden prägt. Es ist ein Bild deutscher UND jüdischer Geschichte. Die Massenvernichtung der Jüdinnen und Juden durch den deutschen Faschismus ist die Wurzel der deutschen Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. 
In der UNO-Debatte zur Gründung des Staates Israel hat das Andrej Gromyko, der damalige sowjetische Außenminister, in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht:
„Sie wissen, dass es in Westeuropa kein einziges Land gab, dem es gelang, das jüdische Volk gegen die Willkürakte und Gewaltmaßnahmen der Nazis zu schützen. Die Lösung des Palästina-Problems, basierend auf einer Teilung Palästinas in zwei separate Staaten, wird von grundlegender historischer Bedeutung sein, weil eine solche Entscheidung die legitimen Rechte des jüdischen Volkes berücksichtigt.“
Man darf getrost unterstellen, dass die eigentlichen Beweggründe Stalins andere waren und die beschriebene Haltung der Sowjetunion nur eine vorübergehende war. Aber unabhängig davon nennt diese Rede doch alle wesentlichen Punkte: Die Massenvernichtung durch den deutschen Faschismus und die Unmöglichkeit, zum Teil auch Unwilligkeit europäischer Staaten, den bedrängten Jüdinnen und Juden zu Hilfe zu kommen, begründeten das Recht auf einen eigenen Staat Israel – und damit auch die Notwendigkeit, in Palästina zwei Staaten zu schaffen. 
Spätestens seit Auschwitz hätte die Linke verstehen müssen, dass der Zionismus mit seinem konkreten Ziel der territorialen Eigenständigkeit eine angemessene Antwort auf das fundamentale Bedürfnis des über Jahrhunderte verfolgten jüdischen Volkes nach Sicherheit war. Die Alternative, ein binationaler Staat des brüderlichen Zusammenlebens von Juden und Palästinensern war demgegenüber eine schöne, realitätsferne Utopie. 
Der Holocaust, antijüdische Kampagnen im sowjetischen Einflussbereich und ein latenter Antisemitismus in westlichen Staaten machten die Gründung des Staates Israel unverzichtbar, auch um den Jüdinnen und Juden in der Diaspora einen „sicheren Hafen“ zu garantieren. 
Zugleich war die Gründung des Staates Israel problematisch, weil in dem Land, das die Wiege der jüdischen Nation war, inzwischen ein anderes Volk lebte, mit nicht weniger Rechten auf dieses Land. 1947 lebten in Palästina fast 600.000 Jüdinnen und Juden und annähernd 1,6 Millionen arabische Palästinenser. Der erste israelische Außenminister Sharett (Arbeitspartei) hat es auf den Begriff gebracht: Die Gründung des Staates Israel löst zu Recht ‚ein Problem des einen Volkes, zugleich aber richtet er das andere zugrunde.’ 
Was für Jüdinnen und Juden Befreiung und Sicherheit war, die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben und insofern auf Moral und Recht gebaut, war zugleich für die palästinensische Bevölkerung unmoralisch und Unrecht. 
Als Folge der israelischen Staatsgründung und des Krieges von 1948 wurden 750.000 arabische Palästinenser zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Eine Spirale von gegenseitiger Gewalt bis heute war die Folge. Das macht es unmöglich, die Komplexität des Konfliktes Israel – Palästina mit einem Gut-Böse-Schema zu erfassen. Auf beiden Seiten gibt es differenzierte Friedenslager, ausgleichsfähige Kräfte, aber auch Gruppierungen, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben und auf Gewalt setzen oder Gewalt nicht ausschließen. 
Der Holocaust, die Verbrechen des deutschen Faschismus und seiner Helfer, der Mitläufer und Weg-Seher, begründet das besondere, nicht auflösbare Verhältnis Deutschlands zu Israel. Den Preis für diese Staatsgründung jedoch entrichtete das palästinensische Volk. Aus ihrer Sicht war das, was ich als geschichtliche Notwendigkeit knapp beschrieben habe, Unrecht, Vertreibung, Demütigung und Fremdbestimmung. Dieser Widerspruch scheint unauflösbar, er ist organisch in den Entscheidungen selbst begründet. Israel und Palästina sind aneinander gekettet, kein Schritt des Einen ist möglich ohne Auswirkungen auf den Anderen. 
Juden, Araber, Palästinenser und andere Völker lebten über Jahrhunderte in dieser Region. Einer Region, die in der Geschichte immer wieder Austragungsort von Konflikten zwischen den Großmächten der Region war; die immer wieder von verschiedenen, auch europäischen Großmächten unterworfen und zum Schauplatz von Aufständen wurde. Bis diese Region in der Neuzeit zum Spielball europäischer Kolonialpolitik und imperialistischer Interessenpolitik wurde. Doch die staatsbildende Realität des Zionismus ist vor allem aus der europäischen Katastrophe, aus dem Holocaust hervorgegangen - und das ist deutsche Verantwortung. Diese deutsche Verantwortung für das einmalige Menschheitsverbrechen Holocaust nimmt die Linke an und will ihr politisch und moralisch gerecht werden. 
Die Nachkriegsentwicklungen, die Verhandlungen zwischen Adenauer und Ben Gurion standen von deutscher Seite aus nur zum Teil im Geiste dieser Konsequenz. In Deutschland West war die Erschütterung über die Verbrechen des Faschismus, die Schlussfolgerung „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ in der Öffentlichkeit ebenso vorhanden wie in Deutschland Ost. Gleichzeitig aber saßen hoch belastete Nazis oder Nazi-Mitläufer in hohen Staatsämtern, als Kanzleramtsminister zum Beispiel der Kommentator der Nazi-Rassegesetze Globke. Erinnert sei auch an den Ministerpräsidenten Filbinger, den späteren Bundespräsidenten Lübke, Bundeskanzler Kiesinger und so viele andere. Die Aufarbeitung der Verstrickungen und Mittäterschaften von Wehrmacht, Justiz, Medizin, Verwaltung, Außenpolitik in das Nazi-Regime war tabu. Unter dem langen Schatten des Kalten und des drohenden Heißen Krieges, der Blockbildung nach 1945, war die Entscheidung der Teilung Deutschlands prinzipiell getroffen und wurde durch die Einbindung von Ost- und Westdeutschland in die jeweiligen Paktsysteme manifestiert. Die Einbindung Westdeutschlands in das westliche System hatte Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und Israel zur zwingenden Voraussetzung. Ich behaupte nicht, dass diese die alleinigen Gründe waren, aber ohne Benennung der Widersprüche und geostrategischen Absichten wird nicht deutlich, wie weit der Weg zu tatsächlicher Annahme von Schuld, Aufklärung über Ursachen und Verbrechen des Faschismus und dann auf dieser Grundlage zu Verantwortung und Aussöhnung war und ist. 
Welche Verantwortung hat nun Deutschland, haben die Linken gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern, die für das Holocaust-Verbrechen und für das europäische Versagen einen bitteren Preis zu zahlen gezwungen sind? Wenn Deutschland grundlegend, unauflöslich mit Israel verbunden ist, zwingt schon die Logik, anzuerkennen, dass Deutschland ebenfalls verbunden ist mit dem Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser. Mit Israel durch das deutsche Menschheitsverbrechen - mit dem palästinensischen Volk durch die Folgen dieses Verbrechens. Diese Verbindung mag unterschiedlich von der Ausgangsbestimmung sein, in ihrer moralischen Dimension, ist aber dennoch existent. 
Den Weg, der Verantwortung gerecht zu werden, hat die UNO-Entscheidung von 1947 gewiesen: Die „Teilung Palästinas in zwei separate Staaten“ - Israel und Palästina. Ein Staat - Israel - wurde Realität. Der andere Staat - Palästina - steht noch aus. Und das seit 40 Jahren, wenn man den Krieg von 1967 als Einschnitt nimmt. Nur wenn in Umsetzung des UNO-Beschlusses zwei Völkerrechtssubjekte entstehen, wird der Weg zur Annäherung frei. Ohne Trennung mit allen Konsequenzen: Unabhängigkeit, staatliche Souveränität, wirtschaftliche Lebensfähigkeit usw. - wird eine Annäherung nicht möglich sein; so widersprüchlich sich diese These auch im ersten Moment anhören mag. Der Weg zur Annäherung führt über die Trennung.

Über Ratio und Irratio 
Mein Kollege und Genosse Gregor Gysi hat in seinem Referat Clausewitz zum Ausgangspunkt seiner Rede gemacht. Eine überraschende, erkenntnisleitende Eröffnung mit zustimmenswerten Erkenntnisschritten. Das ist durchaus nicht nur als intellektuelles Tableau von Beachtung, sondern auch geeignet, daraus praktische politische Schritte abzuleiten. Intellektuell reizvoll auch deshalb, weil ein überzeugter und entschlossener Antimilitarist wie Gregor Gysi auf einen preußischen Militärtheoretiker zurückgreift. Und er hat Recht – Marx, Engels, Lenin und auch Luxemburg haben Clausewitz rezipiert. Nur, Clausewitz’ Zeit kannte die Dimension von Massenvernichtungswaffen nicht, seine Zeit war die vor der Atombombe, deren Drohung auch im Nahen Osten heute eine Rolle spielt, ob noch als Drohung mit Blick auf Iran oder als Realität mit Blick auf Israel. Die neue, schreckliche Dimension eines Krieges mit Atomwaffen muss durch neues Denken erfasst werden. 
Clausewitz konnte den Krieg noch als Ratio, als Ultima Ratio, als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln analysieren und auffassen. Mit dem Eintritt in das Jahrhundert des Atomkrieges ist der Krieg von der Ultima Ratio zur Ultima Irratio geworden. So hat es zum Beispiel Willy Brandt in seiner Nobelpreisrede formuliert. Das heißt nicht, dass Kriegen keine politischen und ökonomischen Ziele inne wohnen. Kriege fallen nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht und sie haben – nicht immer, jedoch zumeist im vergangenen Jahrhundert wie auch heute - Wurzeln in einer gesellschaftlichen Ordnung, dem Kapitalismus. Diese theoretische Grundlage will ich anmerken und hinzufügen, die eigentlich interessante Frage des linken Diskurses wäre, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen, der Kapitalismus friedensfähig umgebaut werden könnte. 
Bekannt war die Form von Kriegen Staaten gegen Staaten, Bündnisse gegen Bündnisse. Diese Art Krieg gibt es bis in die Neuzeit. Hinzugekommen sind Guerillakriege und Kriegführungen, in denen Menschen ihr Leben als Waffe gegen anderes Leben einsetzen. Mehr und Mehr zielen Kriege gegen Zivilisten. Angst und Schrecken wird zur politischen Waffe. Hochrüstung bietet keinen Schutz gegen solche Kriegführung. Die Alternative, so zu werden wie der Gegner - Selbstmordanschläge oder gezielte Tötungen - und die Freiheit so zu schützen, dass sie verschwindet, ist abzulehnen. Erst, wenn das Leben für alle Menschen lebenswert ist - wirtschaftlich und kulturell - , erst, wenn die Würde des Menschen wirklich unantastbar ist, wird niemand mehr sein Leben als Waffe einsetzen oder gar einsetzen müssen. Der sogenannte Krieg gegen den Terror jedoch führt den Terroristen Stunde um Stunde neue Menschen zu. 
Wesentlich verändert seit Clausewitz’ Zeiten hat sich - abgesehen von der Möglichkeit, durch Massenvernichtungswaffen die gesamte Menschheit mehrfach auszulöschen - die Bedeutung der Medien für die Vorbereitung und öffentliche Rechtfertigung von Kriegen sowie die Verschleierung der wirklichen Kriegsgründe. 
Welche Schlussfolgerungen für die Lösung des Nahostkonfliktes, für das Verhältnis Israel - Deutschland ziehe ich daraus? 
Zuallererst eine scheinbar einfache: Wer mehr hat, muss mehr geben. Das ist Israel im Verhältnis zu Palästina. Israel ist die stärkste Militärmacht der Region. Israel verfügt über eine entwickelte Infrastruktur, eine starke Ökonomie, über Wasserressourcen und Häfen. Israel hat entwickelte politische Strukturen und ein demokratisch gewähltes Parlament. Es hat mächtige Verbündete wie die USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und vieles mehr. Weil Israel so stark ist, wäre es sinnvoll und erfolgverheißend, wenn es zum Motor eines Friedensprozesses geworden wäre. Das war höchst selten der Fall. Denn Israel hat alle wesentlichen Resolutionen der VN verletzt und wehrt sich, mit Vorschlägen mutig voranzugehen. 
Auf der anderen Seite ist die Lage der Palästinenserinnen und Palästinenser heute verzweifelter denn je: sozial katastrophal, wirtschaftlich zerrüttet, militärisch besetzt, Westjordanland und Gaza getrennt, die Westbank durch israelische Siedlungen zerstückelt. Mehr als 600 israelische Kontrollposten machen eine freie Bewegung im Lande unmöglich. Die Abriegelung des Gazastreifens führt zu einer humanitären Katastrophe. 
Die Palästinenserinnen und Palästinenser wussten immer, dass die Solidarität der arabischen Länder nie eine wirklich überzeugende war. Sie wussten, dass Machtinteressen eine erhebliche Rolle spielen, dass den palästinensischen Flüchtlingen auch in arabischen Ländern mit Vorbehalten begegnet wird. Die Tragik der innerpalästinensischen Kämpfe und Spaltungen bis an die Grenze des Bürgerkrieges hat die Situation weitgehend unbeherrschbar gemacht. 
Alle Friedensverhandlungen haben bisher in die Sackgasse geführt. Das Gefühl der Demütigung und der Ohnmacht dominiert, Rechtlosigkeit, Gewalt und Radikalisierung nehmen zu. Kaum jemand glaubt mehr an einen eigenen Staat, geschweige denn an einen gerechten Frieden. Was bleibt, ist ein trotziger Selbstbehauptungswille. Mustafa Barghouti, einer der bekanntesten palästinensischen Aktivisten, hat das so ausgedrückt: „Wir lebten vor 3.000 Jahren in diesem Land, was macht da eine Etappe von 100 Jahren, wo wir nicht über dieses Land verfügen.“ Eine Denkweise übrigens, die ich sinngemäß auch in Israel häufig getroffen habe. 
Israel muss sich bewegen, muss eine aktive Rolle spielen. Es muss den Frieden, muss einen lebensfähigen Staat der Palästinenser wollen und dieses Wollen ausstrahlen. Ohne Veränderungen läuft Israel Gefahr, sich selbst zu verlieren. Denn: Seine Stärke besteht jetzt, mittelfristig ist sie höchst gefährdet. Sieben Millionen Bürgerinnen und Bürgern Israels stehen 300 Millionen arabischen Bewohnerinnen und Bewohner der Region gegenüber. Die demographische Entwicklung läuft gegen Israel, erstmals hatte Israel im Jahre 2007 ein Bevölkerungsminus von 30.000 Bürgerinnen und Bürgern. Die Konflikte in Israel selbst, zwischen jüdischen Zuwanderern unterschiedlicher Herkunftsländer, zwischen jüdischer Bevölkerung (rund 6 Millionen) und arabischen Israelis (ca. 1 Million), verschärfen sich. Die hohen Militärausgaben belasten die israelische Ökonomie erheblich und verringern die materiellen Voraussetzungen, um die sozialen Konflikte zu lösen. 
Neue regionale Hegemonialmächte, vor allem der Iran in Folge des US-Krieges gegen den Irak, bilden sich heraus. Und: Israel verliert an Ansehen und Unterstützung. Die Besetzung der palästinensischen Gebiete hängt Israel wie der berühmte Mahlstein um den Hals. Noch kann Israel aus einer starken Position heraus Frieden schließen. In einigen Jahren vielleicht schon nicht mehr. Bereits heute hat Israel weniger Sicherheit denn je. Ein palästinensischer Staat ist im Interesse der Palästinenserinnen und Palästinenser, aber ebenso im israelischen Interesse, im Interesse seiner Sicherheit, seiner wirtschaftlichen Entwicklung, seiner Demokratie und seiner moralischen Glaubwürdigkeit. 
Palästina muss rasch die Chance zur Konstituierung als Nation bekommen. Das geht nur über einen eigenen Staat, der auch über alle Attribute eines Staates verfügt: ein zusammenhängendes Staatsgebiet, eine Staatsbürgerschaft, klar bestimmte Grenzen, ein Staatsvolk, gewählte und dadurch zur Handlung legitimierte Autoritäten. Erst mit einem eigenen Staat wird Palästina zu einem völkerrechtlichen Subjekt. Alle Verantwortung trägt heute die Besatzungsmacht. Die palästinensische Autonomiebehörde ist so etwas wie eine Verwaltung mit beschränkter Haftung. Heute besteht noch die Chance, einen Staat Palästina mit gewählten Organen, mit einem Parlament und politischen Parteien zu erreichen, wobei die Kräfteverhältnisse derzeit unklar sind. Hier gibt es seitenverkehrte Gemeinsamkeiten: Durch Vertreibung, Auswanderung und Not verfügen beide Völker über einen hohen Anteil von Weltbürgern. Das kann für die Gestaltung von Frieden von großer Bedeutung sein. 
Die Chance zur Demokratie in einem palästinensischen Staat sollte Israel aktiv fördern, anstatt die konkurrierenden Gruppen in Palästina gegeneinander auszuspielen. Diese Taktik, mit der Israel seine vermeintlichen Gegner schwächt, ist kurzsichtig. Die Mehrheit der arabischen Staaten sind undemokratische Autokratien mit einem großen Mangel an Menschenrechten, insbesondere für die Frauen. Parlamente sind dort oftmals nur Scheineinrichtungen. Ein demokratisches Palästina könnte auch ein Impuls für eine Demokratisierung der ganzen Region sein. Auch deshalb war die Solidarität vieler arabischer Länder für Palästina oftmals sehr zögerlich. Heute wäre ein demokratisches Palästina vielleicht noch möglich. Was morgen ist, bleibt unbestimmt. Heute ist noch ein säkularer Staat Palästina möglich, ob morgen noch, ist ungewiss. 
Wenn es zur Gründung eines eigenen Staates Palästina kommt, wird der zunächst erreichbare Zustand der einer „Abwesenheit von Krieg und Gewalt“ sein. Das ist weit weniger, als wir unter Frieden oder gar gerechtem Frieden verstehen. Aber es ist auch weit mehr als das, was heute vorhanden ist. Nennen wir es friedliche Koexistenz. Ein solcher Zustand mit bewachten Grenzen, Grenzübergängen und Grenzkontrollen ist unbefriedigend, aber unverzichtbar, um Hass und Misstrauen abzubauen. Auf alten Hass auf beiden Seiten hat sich immer neuer Hass getürmt. Damit Vertrauen wachsen kann, braucht es Regeln, Zeit, Erfahrung und Mut; Mut auch zu einseitigen Schritten. Mut zu realistischen Schritten, die noch weit entfernt von dem erhofften strahlenden Ziel sind. 
Vielleicht wäre es ein erster Schritt, einen Vertrag - international garantiert - über Gewaltverzicht zu schließen. Israel und Palästina müssen sich aus dem berechenbaren Automatismus von Aktion und Reaktion befreien. Auf jeden Schritt der Hoffnung folgte bislang ein Anschlag oder Angriff und eine Reaktion, auf die wieder eine Aktion … und so weiter und so fort. Bei einer solchen Handlungsweise begibt man sich in die Hände von Extremisten. Einmal anders zu reagieren, Gewalt nicht mit Gewalt zu vergelten, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein hoffnungsvolles Zeichen der Vernunft, sich aus der Steuerung durch Extremisten zu befreien. 
Ich denke schon lange darüber nach, dass eine Analyse der Realitäten zum Urteil führen wird, dass Gewalt die Palästinenserinnen und Palästinenser ihrem Ziel, ein Ende der Besatzung zu erreichen, nicht näher gebracht hat; und dass der Einsatz israelischer Gewalt Israel nicht mehr, sondern weniger Sicherheit geschaffen hat. Aus der offensiven Gewalt auszusteigen oder wenigstens ein Gewaltmoratorium - das kann Türen öffnen. 
Auch könnten arabische Länder darüber nachdenken, ob nicht eine rasche diplomatische Anerkennung Israels ihre Verhandlungsposition jetzt mehr verbessert, als wenn sie diesen überfälligen Schritt auf das Ende von Verhandlungen vertagen. Ein solcher überraschender Schritt entwaffnet. Er wäre keine Entsolidarisierung, sondern verbessert die Ausgangslage für Verhandlungen. 
Wenn es Deutschland wirklich Ernst mit der Solidarität mit Israel ist, dürfen wir Israel Wertvolles nicht verweigern – unsere Kritik und unsere Hilfe, sich aus dieser Situation zu lösen, die für die Existenz Israels zu einer wirklichen Bedrohung geworden ist. Das geht nur von der ruhigen, festen Position aus, dass Deutschland in diesem Sinne ein verlässlicher Partner Israels ist. Viele Fragen, die ich angesprochen habe, werden in der israelischen und in der palästinensischen Gesellschaft engagiert diskutiert, warum nicht auch zwischen Deutschland und Israel? Mit großer Bewegung habe ich solche Gedanken in dem Offenen Brief von Dr. Meir Margalit an die deutsche Bundeskanzlerin gelesen. Er kritisiert Angela Merkel ob ihrer Rede vor der Knesset, weil diese Rede Israel das Wichtigste verweigert hat, was Deutschland geben müsse: Hilfe, sich aus der heutigen Situation zu befreien.
„Ich würde Sie gerne darauf hinweisen, Frau Merkel, dass die Mehrheit der Israelis eingesteht, dass die Besetzung untragbar ist und uns nicht weniger Schaden zufügt als den Palästinensern. Jedoch fehlt der israelischen Regierung die Kraft, die einzige Operation durchzuführen, die unser Leben retten kann: die Entfernung des Tumors, der sich „(besetzte) Gebiete“ nennt. Durch diesen Tumor bluten wir ununterbrochen, und er macht uns von Tag zu Tag schwächer. (…) Jedoch mit Hilfe unserer europäischen Freunde gibt es eine Chance, Ruhe und Frieden für beide Völker zu erreichen.“ 
Oder was Dr. Reiner Bernstein, Dr. Micha Brumlik und Prof. Grell gemeinsam mit vielen anderen der deutschen Friedensbewegung empfehlen:
„Man kann Antisemitismus nicht mit Islamophobie heilen. (…) Das gilt auch für deutsche Friedensgruppen. Wenn es ihnen Ernst ist um den Frieden, dann sollten sie ihre Partner auf beiden Seiten des Konflikts zu Schritten des Ausgleichs ermutigen und sie politisch wie praktisch unterstützen. Diese Unterstützung wird nur wirksam sein, wenn sie dabei ihre moralisch-pädagogischen Impulse zügeln.“
Auch die Linke wird in einer Zeit tiefer Umbrüche zu einer realistischen Politik nur dann kommen, wenn sie mit tradierten Auffassungen bricht. Für Linke kann nicht gelten, dass der Zweck die Mittel heiligt. Für uns gilt auch nicht, dass der „Feind unseres Feindes“ unser „natürlicher“ Verbündeter sei. Ebenso denken wir, dass die Beseitigung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse mit Waffengewalt keine Zukunft hat. Der Geschichte der antiimperialistischen Kämpfe können wir entnehmen, dass nationale Befreiungsbewegungen oftmals auf Gewalt bauten und nicht in Emanzipation sondern in Autokratien mündeten. 
Linke müssen ihre Kritikfähigkeit gegenüber Befreiungsbewegungen wie gegenüber der eigenen Bewegung wahren. Das war in der Vergangenheit oftmals nicht der Fall. Gerade in Zeiten der Blockgespaltenheit fiel es Linken schwer auszusprechen, dass Befreiungskriege und -kämpfe häufig auch „Stellvertreter-Elemente“ der Großmächte beinhalteten; dass Waffenhandel nicht nur „im Westen“ existent war und dass es oft auch um geostrategische Ansprüche ging – auf beiden Seiten. 
Der Nahe und Mittlere Osten ist – auch dadurch, dass die Region reich an Erdöl- und Erdgasvorkommen ist – der schwierigste Konfliktherd unserer Zeit. Verschiedenste Konfliktpotenziale treffen aufeinander: Die US-Besatzung des Irak, die bereits hundert-tausende Opfer gefordert hat und bisher zu vier Millionen Flüchtlingen führte. Die Gefahr, dass die Staatlichkeit des Irak auseinander bricht und es infolgedessen zu einem selbstständigen kurdischen Gebiet bzw. Staat kommen wird, was die Türkei nicht akzeptieren wird. Bekannt sind die Auseinandersetzungen mit dem Iran und seinem Atomprogramm. Auch hier kann niemand ausschließen, dass aus Sanktionen militärische Operationen der USA und Israels gegen den Iran werden. Syrisches Territorium wie die Golan-Höhen ist noch immer von Israel besetzt. Der Libanon steht erneut, wie vielfach schon in seiner Geschichte, an der Schwelle eines Bürgerkrieges. Die innenpolitischen Verhältnisse in Saudi-Arabien, Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Jordanien lassen den Begriff Demokratie einfach nicht zu. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um den Zusammenhang mit Zentralasien bis zu Afghanistan einerseits und zu Nordafrika bis hin zum Sudan zu erkennen. Ein Pulverfass, wo eine bedachte oder unbedachte Handlung ausreicht, um es zur Explosion zu bringen – mit weltweiten Folgen. 
Nicht alle diese Konflikte wurzeln in dem Konflikt zwischen Israel und Palästina, aber sie entzünden sich daran ständig neu. Ohne die Lösung dieses Konfliktes werden andere Krisenherde nicht zu löschen sein. 
Notwendig ist eine Demilitarisierung des Nahen Ostens und notwendig sind internationale Garantien für die Sicherheit Israels, aber auch der anderen Staaten der Region, einschließlich des Iran. Erst dann wird der Iran bereit sein, sein Atomprogramm zu stoppen, und dann erst wird Israel bereit sein, seine Atomwaffen zur Disposition zu stellen. Alle Staaten und Kräftegruppen, einschließlich der Hamas und der Hisbollah, müssen in einen solchen Dialog einbezogen werden. Diese Auffassung beginnt, sich immer weiter durchzusetzen – international und auch im Deutschen Bundestag. Für die Linke sind weder Hamas noch Hisbollah politische Partner, Dialog aber heißt nicht Sympathie. Drohungen und Gewalthandlungen gegenüber Israel müssen zurückgewiesen werden. Zum Dialog gehört auch harte Auseinandersetzung. Nur die reale Stärke dieser Organisationen und die Erfahrung, dass Isolierung zu Radikalisierung führt, sprechen für den Weg des Dialogs. „Frieden schließt man mit seinen Feinden, nicht mit seinen Freunden“, haben uns Freunde aus der israelischen Friedensbewegung mit auf den Weg gegeben. Im langwierigen Prozess der Aussöhnung wird die Rolle der Fraueninitiativen in der Region von unschätzbarem Wert sein. 
Die Fraktion DIE LINKE. hat eine ständige Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten vorgeschlagen. Sie soll unter dem Dach und Schirm der Vereinten Nationen arbeiten. Was wir für die staatliche Ebene vorschlagen, wollen wir auch durch die Zivilgesellschaften voranbringen - Dialogkonferenzen zwischen arabischen, palästinensischen, israelischen und europäischen Friedenskräften. Dies sollte der Kurs unseres Landes sein. Die Bundesregierung hat das Nahost-Quartett (EU, Russland, USA und UNO) wieder zusammengebracht, das war wichtig. Die Konferenz von Annapolis wird zu recht höchst skeptisch gesehen – und dennoch muss sie genutzt werden. 
Die Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes muss auf zwei wesentlichen Brückenpfeilern ruhen: Frieden und Sicherheit für Israel und Frieden und Gerechtigkeit für Palästina. Vorschläge zur Konfliktlösung liegen seit langer Zeit auf dem Tisch. Am meisten ausgearbeitet sind sie zum Beispiel in der „Genfer Initiative“:
Es wird auf der Grundlage der Beschlüsse der UNO, das heißt auf Grundlage der Grenzziehung von 1967, zwei selbstständige lebensfähige Staaten entstehen. Diese erkennen einander völkerrechtlich an, verzichten auf Gewalt und unterbinden Gewalt gegeneinander. Die Grenzen und der Gewaltverzicht werden gegenseitig und international garantiert und durchgesetzt. Ein Gefangenenaustausch ist unverzichtbar.
Die israelischen Siedlungen im Westjordanland werden geräumt, ein gegenseitiger Gebietsaustausch ist möglich. Die Grenzen werden geregelt für Menschen - immerhin arbeiten Tausende Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel - und für Waren durchlässig gemacht.
Ost-Jerusalem wird die Hauptstadt des palästinensischen Staates. Es wird eine Internationalisierung des Zugangs zu den Heiligtümern der Weltreligionen in Jerusalem vereinbart.
Vereinbarungen sind ebenfalls über die Verteilung von Wasser, der wichtigsten Naturressource in der Region, zu treffen.
Schwierig zu regeln ist die Flüchtlingsfrage. Immerhin handelt es sich um rund 1,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge. Ein Rückkehrrecht nach Israel, wie es viele Palästinenser fordern, würde die Bevölkerungszusammensetzung des israelischen Staates mit gegenwärtig rund 7 Millionen Bürgerinnen und Bürgern grundlegend verändern. Das aber wird von israelischer Seite nicht akzeptiert. Die Lösung, die plausibel erscheint, ist die Anerkennung, dass den Palästinenserinnen und Palästinensern Unrecht geschehen ist; Entschädigungszahlungen an die Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Gewährung von Niederlassungsfreiheit in arabischen Ländern und in Europa. Hier ist die EU zur Hilfe gefordert.

Liebe Freundinnen und Freunde, 
in diesem Konflikt wird immer wieder Zuordnung und Entscheidung gefordert. Ich spreche für Frieden in der Region, Gewaltlosigkeit und Vernunft und in diesem Sinne für Israel und für Palästina. Dafür werbe ich um Unterstützung – in Gesprächen, auf Veranstaltungen und Kundgebungen, ebenso im Bundestag. Es gibt dafür Unterstützung und es gibt Kritik. Die Kritik allerdings meist nicht für das, was ich sage, sondern dafür, wo ich es sage. Ich werde es dennoch auch weiter so halten. Bitte verstehen Sie das.

Schlagwörter