Entspannungspolitik mit Russland

Christiane Reymann, Ostermarsch Ruhr, 20.04.2019
26.04.2019
Printer Friendly, PDF & Email
Christiane Reymann

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

ich finde es ganz toll, dass heute so viele hier in Düsseldorf für Frieden auf die Straße gegangen sind. Denn wir leben schon nicht mehr im Frieden. Gegenüber Russland gibt es von Deutschland aus einen Krieg der Worte, mit den Sanktionen einen Krieg der Wirtschaft und eine kreuzgefährliche Aufrüstung. Es ist Vorkrieg.

Den III. Weltkrieg hat Klaus Kleber am 04. April im ZDF schon einmal geübt, als er einen Jubelbeitrag zum 70. Jahrestag der NATO so anmoderierte, ich zitiere: „Guten Abend, zu Wasser und zu Luft sind heute Nacht amerikanische, deutsche und andere europäische Verbündete unterwegs nach Estland, um russische Verbände zurückzuschlagen, die sich dort, wie vor einigen Jahren auf der Krim, festgesetzt haben.“

Diese Moderation ist in höchstem Maß geschmacklos. Sie ist geschichtsvergessen, zeigt aber, wie weit inzwischen auch als „seriös“ eingestufte Medien, wie weit auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen gehen kann, wenn es nur gegen Russland und gegen Putin persönlich geht. Es kann sogar, in Worten, Truppen in Richtung Osten schicken.

Deutsche Soldaten in Richtung Russland...Da war doch mal was...Ich kann verstehen und respektieren, dass der deutsche Staat ein besonderes Verhältnis zum Staat Israel hat angesichts sechseinhalb Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden. Ihre Mörder kamen aus Deutschland. Doch gleiche „besondere Beziehungen“ müssten dann für Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelten angesichts 27 Millionen von Deutschen ermordeter Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion.

Leider ist der von Klaus Kleber als, wie er sagte, „Vision“ vorhergesagte Aufmarsch gegen Russland schon Wirklichkeit. Im Ergebnis der Osterweiterung ist Russland auf europäischem Boden von der NATO umzingelt. Deutschland hat das Oberkommando der explizit gegen Russland gerichteten „Schnellen Eingreiftruppe“ der NATO. Und im deutschen Ulm entsteht das Logistik-Zentrum der NATO in Europa, zuständig für die Organisation von Menschen und Material mit dem bevorzugten Ziel der Westgrenze Russlands. Für den deutschen Standort für diese Aufgabe spreche laut Kriegsministerin von der Leyen: Darin habe Deutschland sehr viel Erfahrung. Das kann man wohl sagen.

Deutschland entwickelt neue Waffensysteme, etwa Drohnen. Und jetzt wollen Frankreich und Deutschland einen gemeinsamen Flugzeugträger bauen. Flugzeugträger sind keine Waffen zur Landesverteidigung, sie dienen der Kriegsführung gegen andere, weiter entfernte Länder. Unser Grundgesetz verbietet nicht nur Angriffskriege, sondern stellt bereits die Vorbereitung von Angriffskriegen unter Strafe. Insofern gehört Annegret Kramp-Karrenbauer vor Gericht, noch bevor sie Bundeskanzlerin geworden ist.

Dieser Flugzeugträger soll offiziell 4,5 Milliarden Euro kosten. Nun kennen wir es von Rüstungsprojekten wie dem Starfighter oder dem Kampfpanzer Leopard: Wo der militärisch-industrielle Komplex schaltet und waltet, explodieren die Kosten - nicht notwendig um das 18-fache wie bei der Gorch Fock, aber um das drei- bis fünffache ganz sicher. Für den Flugzeugträger können wir also gut und gern 15 Milliarden Euro veranschlagen. Für diese 15 Milliarden habe ich eine bessere Idee. Mit ihnen kann der Wiederaufbau von Notre Dame großzügig unterstützt werden und es bleibt genug übrig, um die Kulturgüter, Schulen, Krankenhäuser, die Infrastruktur wieder aufzubauen, die Saudi-Arabien mit Hilfe deutscher und französischer Waffen im Jemen zerstört hat.

Für Rüstung und Militär haben die NATO-Staaten viel Geld übrig – weil unsere Sicherheit bedroht sei: von Russland. Schon im Jahr 2002 unterstrich Nicolas Burns, US-Botschafter bei der NATO mit Gespür für Geschichte ausgerechnet am 09. Mai, in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion der „Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus“. An jenem 09. Mai 2002 bezeichnete also NATO-Botschafter Burns Russland als potenzielles Ziel von Atomwaffen und den Südkaukasus und Zentralasien als Interessengebiet der USA. Auch laut jüngstem deutschen Bundeswehr-Weißbuch ist Russland nicht mehr Partner, sondern potenzieller Gegner.

Schauen wir uns die Fakten zur angeblichen Bedrohung durch Russland an. Die NATO-Staaten geben derzeit 960 Milliarden Dollar pro Jahr für die Rüstung aus, das ist 15 mal so viel wie Russland. Russland hat seinen Rüstungshaushalt in den vergangenen Zwei Jahren laut SIPRI um 20 Prozent gesenkt und ist jetzt bei 66 Milliarden Dollar angelangt, das sind 59 Milliarden Euro. Deutschland steckt derzeit 47 Milliarden Euro in die Rüstung, bis 2025, wenn zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Kriegswirtschaft fließen, werden es 85 Milliarden sein.

Von der Bundesregierung fordern wir: Hört endlich auf mit dem Säbelrasseln gegenüber Russland. Macht uns die Russen nicht zum Feind!

Vergleichen wir mal die Militärstützpunkte im Ausland. Davon hat die USA 1000 – gerundet. Aktiv sind, je nachdem, wo die USA ihre Interessen gefährdet sehen, etwa 750. Sie verteilen sich auf 100 Länder und sind ständig bestückt mit 250 000 Soldatinnen und Soldaten. Russland hat zwei Militärstützpunkte in Syrien, zwei in Vietnam und 13 in ehemaligen Sowjetrepubliken. Und weil wir eben von Flugzeugträgern gesprochen haben: Die USA hat 20, Russland einen.

Wir fordern von den Medien, namentlich von den öffentlich-rechtlichen, die wir ja bezahlen: Liefert endlich Fakten statt Feindbilder. Solange sie es nicht tun, müssen wir die Gegenöffentlichkeit sein, wir müssen sagen, was ist. Wir müssen herausfinden und verbreiten, warum wer welche Bedrohungsszenarien aufbaut und welche Bedrohungslügen in die Welt setzt.

Das Feindbild Russland wurde so weit getrieben, dass jetzt sogar ein Atomkrieg in Europa droht. Nachdem die USA den INF-Vertrag zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen gekündigt hat, ist er auch für Russland obsolet geworden. Die USA sehen einen Vertragsbruch Russlands in dessen SSC-8-Raketen. Aber warum hat sie dann das Angebot des Kremls zur internationalen Überprüfung jener Raketen nicht angenommen? Warum ist Washington wortlos über das Angebot von Präsident Medwedjew hinweggegangen, gemeinsam ein globales Raketenabwehrsystem aufzubauen? Jetzt haben die USA ihr ganz eigenes System in Rumänien stationiert, bald auch in Polen.

Teil der US- und dann der NATO -Strategie war und ist der atomare Erstschlag. Die Sowjetunion und Russland hatten bislang keine Erstschlags-Strategie. Wenn nun die NATO ihren atomaren Erstschlag ausführt, soll das US-amerikanische Raketenabwehrsystem den russischen Zweitschlag abwehren. So nährt es die Illusion, ein Atomkrieg sei führbar und gewinnbar. Das senkt die Schwelle zum Ersteinsatz von Atomwaffen enorm. Und noch weiter wird sie gesenkt durch die Entwicklung von „kleinen“ Atomwaffen, die „nur“ die Vernichtungskraft der Bomben von Hiroshima und Nagasaki haben. Die sollen als Gefechtswaffen am Boden eingesetzt werden, wohl von den neuen Panzerarmeen der NATO.

Die Vorstellung von Schlag und Gegenschlag ist bedrückend und kreuzgefährlich. Wir fordern von der Bundesregierung, aus dieser Logik auszusteigen. Keine Modernisierung von US-Atomraketen auf deutschem Boden, stattdessen Abzug aller Atomraketen. Deutschland muss endlich den UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen unterzeichnen.

Zum Thema „Russland bedroht uns“ wird die Ukraine-Krise und der Krim-Konflikt ins Feld geführt. 2014 eskalierte in der Ukraine der innen- und außenpolitische Konflikt um ihren EU-und späteren NATO-Beitritt. Mit Hilfe extremer Rechtskräfte wurde der gewählte Präsident weggeputscht. Teil dieses Putsches gegen Parlament und Regierung war der damalige Bundesaußenminister Steinmeier, der diese rechtslastige Opposition mit seinem Auftritt auf dem Maidan unterstützte. Im Ergebnis weiterer Konflikte gaben sich die Rayons Donezk und Lugansk selbst die Autonomie, die ihnen die Zentralregierung verwehrt – und es herrscht Krieg.

Es gibt aber eine Roadmap zum Frieden, das ist das Minsker Abkommen. Deutschland ist mit Frankreich und Russland Signatarmacht. Wir fordern von der Bundesregierung, endlich nicht weiter zu zündeln, wie zuletzt in Merkels unerträglichen Wahlkampfhilfe für einen korrupten und militaristischen Oligarchen, sondern konstruktive Schritte zur Umsetzung des Minsker Abkommens zu gehen – zusammen mit Russland und Frankreich.

Stichwort Krim-Krise: Die Perspektive eines NATO-Beitritts der Ukraine ließ in Russland die Alarmglocken läuten. Wilfried Scharnagl, ehemals Chefredakteur des Bayernkurier, schrieb dazu sinngemäß: Jedem war klar, Russland konnte es nicht hinnehmen, dass ein US-amerikanischer General in Sewastopol die Schwarzmeerflotte der NATO befehlen würde. Zu Zeiten Gorbatschows wurde allenthalben sein „neues Denken“ bejubelt. Dessen Kern aber war, in jedem politischen Schritt die Interessen des Gegenübers resp. Gegners mit zu denken. Das ist in der Krim-Frage nicht geschehen. Stattdessen werden die US- und Sanktionen der EU fortdauernd so lange verlängert, bis Russland die Krim geräumt habe. Das wird nicht geschehen. Sanktionen also bis zum Sankt-Nimmerleinstag?

Manche sind zwar gegen die Sanktionen, meinen aber: Russland habe mit der Annexion der Krim das Völkerrecht ebenso gebrochen wie die NATO im Jugoslawien-Krieg. Vielleicht lohnt ein zweiter Blick auf diese Gleichsetzung: Im Jugoslawien-Krieg wurden die Staatsgrenzen des ehemaligen Jugoslawiens verändert durch 78 Tage Bombardement, in denen die NATO- Luftarmada tausende Männer, Frauen und Kinder tötete und uranhaltige Munition mit Langzeitfolgen bis heute einsetzte. Auf der Krim wurden die Grenzen ohne Gewalt verändert. Ist das quantitativ etwas anderes. Es gibt auch einen qualitativen Unterschied: In Jugoslawien wurde die Bevölkerung nicht gefragt, ob sie bombardiert werden möchte, auf der Krim wurde sie gefragt, ob sie zu Russland gehören möchte. Man kann die Legitimität des Referendums und seinen Verlauf kritisieren, aber selbst die Kritikerinnen und Kritiker haben keinen Zweifel, dass damals das Ergebnis pro-Russland ausgefallen wäre. Hinzu kommt: Das Völkerrecht kennt das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker UND das Prinzip, dass Staatsgrenzen nur mit der Zustimmung des bisherigen Staates verändert werden dürfen. Diese beiden Prinzipien aber können in Widerspruch geraten –aktuell etwa im Konflikt Spanien-Katalonien. Deshalb gibt es unter Völkerrechtlern unterschiedliche Auffassungen zum Charakter des Krim-Konflikts: Die einen sagen, das war eine Annexion, also eine unstatthafte Aneignung der Krim durch Russland, die anderen sagen, das war eine Sezession, also eine von der Bevölkerung vorgenommene Lostrennung von der Ukraine.

Wir als Friedensbewegung müssen uns nicht zwischen diesen beiden Polen entscheiden. Wichtiger ist es, Lösungen für diesen Krisenherd zu finden – und dafür gibt es Beispiele. Als der Alleinvertretungsanspruch der Bonner Republik für ganz Deutschland mit der gleichzeitigen nicht-Anerkennung der DDR jegliche Verständigung mit den osteuropäischen Staaten blockierte, fanden Willy Brandt und Egon Bahr einen weisen Ausweg: In Verträgen wurden die Meinungsunterschiede zum völkerrechtlichen Status der DDR eingangs genannt, dann aber folgten konkrete Vereinbarungen etwa zu Visafragen, gemeinsamen Verkehrswegen etc.

Wir fordern von der Bundesregierung endlich eine Rückkehr zur Verständigung mit Russland statt Konfrontation! Wir fordern: Weg mit den Sanktionen gegen Russland. Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Visafreiheit.

Christa Wolf lässt in ihrer gleichnamigen Erzählung Kassandra fragen: Den Beginn des Krieges kann man kennen – doch wann beginnt der Vorkrieg? In Europa hat er längst begonnen. Doch wann? 2014 mit der Ukraine-und Krim-Krise? 1999 mit dem Jugoslawien-Krieg? Oder schon 1989 mit dem zwei-plus-vier-Vertrag zur deutschen Einigung? Alles hat damit angefangen, Russland aus dem Aufbau einer europäischen Friedensordnung hinauszudrängen. Das war nach 1945 der Fall, als namentlich die USA die Blockbildung des Kalten Krieges befeuerten, und das war nach 1989 der Fall, als die kurze hoffnungsfrohe Welle einer gesamteuropäischen Friedensordnung durch die NATO-Osterweiterung zunichte gemacht wurde.

Damit der Vorkrieg nicht in einen Krieg umschlägt, muss diese falsche Weichenstellung korrigiert werden. Deshalb müssen wir die Militarisierung der EU umkehren. Wir brauchen keine EU, die den Alleinvertretungsanspruch für ganz Europa erhebt. Europa endet nicht an den Außengrenzen der EU und NATO, Russland gehört zu Europa. Wir müssen raus aus der NATO, denn die NATO ist ein Kriegsbündnis. Das kann man nicht zivilisieren. Ein Austritt aus der NATO ist übrigens nicht so schwer. Laut NATO-Vertrag muss dazu lediglich eine Kündigungsfrist von einem Jahr eingehalten werden – das ist nicht mehr als in einem seriösen Mietvertrag.

Um vom Vorkrieg zum Frieden zu kommen, brauchen wir in der Friedensbewegung Vielfalt, Respekt vor Unterschieden und unbedingt Solidarität. Und wir brauchen viele. Die Vielen beginnen mit Einzelnen. Jede und jeder von Euch ist wichtig. Gemeinsam können wir den langen Atem entwickeln, den wir brauchen für die Wende vom Vorkrieg zum Frieden.

Schlagwörter