Unser Marsch ist eine gute Sache...

60 Jahre Ostermarsch (8.4.2020)
08.04.2020
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Wolfgang Gehrcke

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

 

aus aktuellem Anlass wende ich mich wieder mit einem Ça ira an Euch. Für mich ist es ganz schön bitter, gerade am 60. Jahrestag der Ostermärsche nur virtuell mit Euch zusammenzukommen und nicht physisch. Es wäre in diesem Jahr auch mein 60. Ostermarsch gewesen. Meine Gedanken dazu habe ich aufgeschrieben.

 

1960 ging der erste Ostermarsch an vier Tagen von Hamburg-Harburg nach Bergen-Hohne – und ich war dabei. Ich war damals Jugendvertreter beim Hamburger Arbeitsamt und hatte mit anderen die „Junge Aktion gegen Atomtod – für ein kernwaffenfreies Deutschland“ ins Leben gerufen; sie engagierte sich von Anfang an im Aktionsausschuss der Ostermarschbewegung. Diese Idee hatten Konrad Tempel und seine spätere Frau Helga Stolle aus Großbritannien übernommen.

Das Ziel Bergen-Hohne hatte in erster Linie damit zu tun, dass auf dem dortigen Truppenübungsplatz die ersten in Westdeutschland stationierten US-Atomraketen erprobt werden sollten. Und es schwang ein Zweites mit, die Nähe zu Bergen-Belsen, jenem KZ, in dem mit Anne Frank 52 000 Menschen von den Nazis ermordet worden waren. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus gehörten zusammen.

Für mich führte der erste Ostermarsch zunächst zum Bruch mit meinem sozialdemokratischen Vater. Um mich an der Teilnahme zu hindern, hatte er mir meine Schuhe weggenommen. Durch die Hintertür aber konnte ich mich buchstäblich „auf die Socken machen“. Die nächste Folge kam mit einem Jahr Verzögerung, es war mein Ausschluss aus der SPD-nahen Jugendorganisation DIE FALKEN. Ich habe dann Kontakt zur illegalen KPD gesucht, was gar nicht so einfach war. Aber hoch konspirativ und begleitet von zwei Bürgen haben mich die Genossinnen und Genossen dann doch in ihre Reihen aufgenommen - mit Schuhen. 1968 trafen sich bundesweit Ostermärsche und die als „Osterunruhen“ bezeichneten Proteste nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. In Hamburg konnten mehrere tausend Teilnehmende der Märsche und Studierende mit ihren Blockaden drei Tage lang die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindern. Als einer der „Rädelsführer“ wurde ich festgenommen und zu fünf Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Doch zurück zum Jahr 1960: Der Kalte Krieg steuerte auf seinen Höhepunkt zu, der Kuba-Krise, in der ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion gerade noch verhindert werden konnte. In Deutschland hatte die SPD im Jahr zuvor ihr Godesberger Programm verabschiedet mit dem Ja zur Marktwirtschaft, zur Wiederbewaffnung und Westbindung. Um ihre staatstragende und regierungsfähige Rolle zu unterstreichen, fasste sie 1961 den Unvereinbarkeitsbeschluss von Mitgliedschaft in ihrer (ehemaligen) Studierendenorganisation SDS und der SPD. Von ihrer Partei verlassene ehemalige SPD-Linke kamen zur Ostermarschbewegung, in ihr fanden sich erfahrene Friedensaktive aus der Ohne-Mich-Bewegung, die die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik hatte verhindern wollen, und der Bewegung Kampf dem Atomtod, deren Massenkundgebungen 1958 noch eineinhalb Millionen Menschen mobilisierten. Und endlich trugen Mitglieder der verbotenen KPD die Ostermarschbewegung mit. Ihr Beitrag wird heute (wieder?) kaum gewürdigt, deshalb will ich einige wenige Namen nennen: Horst Bethge, Hans Rondi, Albert Berg, Horst Boje oder Hannes Stütz.

Die Ostermarschbewegung war und bleibt parteiübergreifend. Nur deshalb war sie in der Lage, das Gemeinsame in den Mittelpunkt zu stellen – auch wenn das eigentlich immer schwierig war. Ganz besonders aber 1962, im ersten Frühjahr nach dem Bau der Mauer, oder nach dem Einmarsch 1968 in Prag. Die Ostermärsche wurden zu einer Plattform, auf der unterschiedliche Traditionen der Politisierung und unterschiedliche soziale Schichten zusammenkamen. Sie wurden zu einer gesellschaftlichen Dialogbewegung und öffneten Türen zu alternativen gesellschaftlichen Vorstellungen, zu denen im Lauf der Jahre auch kommunistische gehörten. Das war nach dem heftigen Antikommunismus der Adenauerzeit und dem eigens herausgebildeten Antikommunismus der nach-Godesberg-SPD keineswegs selbstverständlich. Der alle verbindende Antimilitarismus selbst entwickelte sich weiter, erhielt namentlich durch die Proteste gegen den Vietnam-Krieg antiimperialistische Züge, nahm Kritik am Zusammenhang von Rüstungsproduktion und öffentlicher Armut, von Kriegen und Ausbeutung des globalen Südens auf, erkannte die Bedrohung des Planeten auch durch „friedliche“ Nutzung der Atomkraft, Stichworte: AKW Brokdorf oder Whyl.

Die Ostermärsche waren und sind zugleich eine Kulturbewegung. Der erste 1960 war noch ein Schweigemarsch, nicht zuletzt durch die Prägung von Helga und Konrad Tempel. Sie gehörten der religiösen Vereinigung der Quäker an, waren Pazifisten und sie wollten gewährleisten, dass niemandem Sprüche aufgedrängt würden, die er oder sie nicht teilte. Außerdem befürchteten sie wohl eine „kommunistische Machtübernahme“. Die fand nicht statt, aber die Übernachtungen in Scheunen oder Tanzsälen von Gaststätten hatten vor allem für junge Antimilitaristinnen und Antimilitaristen ihren eigenen Reiz als Orte der freien Liebe.

Anhand der Musik und der Lieder ist nachzuvollziehen, wie sich alternative Kultur im Lauf der Jahre wandelte. Das erste Ostermarschlied war noch einfach gestrickt in der zwingenden Logik von: „Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache ist.“ Naja, es ging dann noch weiter: „Wir marschieren nicht aus Hass und Rache, wir erobern kein fremdes Gebiet...Wir marschieren für die Welt, die von Waffen nichts mehr hält, denn das ist für uns am besten.“ Namhafte Künstlerinnen, Künstler haben die Ostermärsche geprägt und einige haben ihre Medienkarriere zugunsten der Friedensbewegung aufs Spiel gesetzt. Fasia Jansen etwa mit ihrem Song Strontium 90, Dieter Süverkrüp mit seinem Lied über den Kryptokommunisten oder Franz Josef Degenhardt mit seiner Aufforderung zur antimilitaristischen Arbeit in der Bundeswehr („Junge, wenn du stark genug bist: geh!“). Und tatsächlich nahmen dann an Ostermärschen auch Bundeswehrsoldaten in Uniform teil. Der damalige Chef des Militärischen Abschirmdienstes, Elmar Schmeling, und Generäle, erinnert sei an General Bastian, bildeten europaweit eigene Friedensformationen. Ohne die Ostermarschbewegung hätte es nicht die millionenfache Bewegung gegen die Notstandsgesetze und dann gegen die sogenannte Nachrüstung gegeben, ohne die Ostermärsche hätten sich nicht Künstlerinnen und Künstler für den Frieden zusammengeschlossen, auch nicht die vielen anderen Berufsgruppen von Ärztinnen und Ärzten, Hafenarbeitern, Juristinnen, Juristen, Lehrerinnen und Lehrern, Pastorinnen und Pastoren usw. usf. und nicht nach Tausenden zählende Städte, Gemeinde, Hochschulen, Institute hätten sich zu atomwaffenfreien Zonen erklärt.

Die Erfahrung dieser tiefen Verankerung in der Gesellschaft könnte heute helfen, wiederum eigene politische und kulturelle Formen für den jetzt immer noch so nötigen Kampf für Frieden, Abrüstung und internationale Zusammenarbeit zu finden.