Hochmut kommt vor den Fall

Rede vor dem Brandenburger Tor am 16. März 2022
20.04.2022
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Wolfgang Gehrcke

Liebe Freundinnen und Freunde,

 

wenn wir ehrlich sind: Es reißt einen auseinander. Und man muss sich bekennen zu der eigenen Zerrissenheit, um zu wissen, was und wie man möglicherweise etwas verändern kann.

Ich war zusammen mit Andrej Hunko mehrfach in der Ukraine. Wir konnten mit einer Spendenaktion den Wiederaufbau eines schon 2015 von den Kiewer Truppen zerstörten Kinderkrankenhauses in der Nähe von Donezk, in Gorlowka, unterstützen. Und es quält mich, dass genau an diesen Stätten die Menschen heute wieder leiden und das Kinderkrankenhaus wieder zusammengeschossen wurde. Das ist das, was man stoppen muss, und das müssen wir zusammen tun. Und deswegen können wir auch offen über unsere Zweifel reden.

Ich erinnere mich, dass wir in Odessa mit dem Abgeordneten der Kiewer Regierungspartei – er war übrigens von der Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert oder stand in deren Sold – gesprochen hatten. Der hatte an seinem Schreibtisch die Attrappe einer Maschinenpistole hängen. Ich habe gefragt: Ist das euer politisches Angebot? Was wollt Ihr eigentlich? Seine Antwort lautete: "Wir wollen einen Maidan auf dem Roten Platz." Das haben die bis heute nicht aufgegeben. Und das ist genau das, was man heute nicht braucht.

Wir brauchen Waffenstillstand. Als ersten Schritt Waffenstillstand. Und wer Waffenstillstand will – das muss man auch immer wieder den Abgeordneten meiner Fraktion sagen –, wer Waffenstillstand will, darf keine Waffen in diesen Krieg liefern, weil man sonst zur Kriegspartei wird und nicht zu einem Waffenstillstand beitragen kann. Das muss man diskutieren können im Land und auch im Parlament. Ich hoffe, dass man davon lebhaft Gebrauch macht und dass dieses Aufrüstungsgebot von 100 Milliarden Euro, die in Rüstung verpulvert werden sollen, gestoppt wird.

Man muss jetzt in den Haushaltsberatungen NEIN sagen; wie schon Wolfgang Borchardt gemahnt hat: Sagt Nein! Ich rufe den Abgeordneten im Bundestag zu: Wenn Ihr aufgefordert werdet, diesem Aufrüstungsprogramm zuzustimmen, sagt NEIN. Nein. Das langt auch erst einmal.

Heute vor 100 Jahren wurde Egon Bahr geboren. Das ist sein Geburtstag heute: 100 Jahre. Und vielleicht könnte die Sozialdemokratische Partei auch ein bisschen von Egon Bahr wieder lernen, dass man – wenn man in solchen Konflikten vermitteln will – auch vermittlungsfähig sein muss.

Ich trauere auch um meine Freunde in Russland. Ich habe die Frage des großen russischen Schriftstellers Jewgenij Jewtuschenko "Glaubst Du, die Russen wollen Krieg?" immer mit NEIN beantwortet. Und dabei bleibe ich auch heute. Die Russen wollen keinen Krieg. Und dieser Krieg muss beendet werden; auch mit unserer Hilfe, wenn es denn notwendig ist.

Wenn ich das zum Schluss noch sagen darf: Hochmut kommt vor den Fall! Der Hochmut in diesem Land gegenüber Russland macht es unfähig zu einer vernünftigen Vermittlung. Wir haben eine Verantwortung. 27 Millionen ermordeter Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion mahnen uns, eine andere Politik gegenüber Russland an den Tag zu legen. Das geht nicht so weiter in dieser Art und Weise, wie man denkt, mit diesem Land umgehen zu können.

Euch bitte ich, liebe Freundinnen und Freunde, Genossinnen und Genossen, wenn ich mir diese Anrede erlauben darf, schaut kritisch hin, was hinter den Kulissen passiert ist und passiert. Glaubt Ihr, die Russen wollen Krieg? Nein, die Russen wollen keinen Krieg. Die Russen wollen Frieden und Gleichberechtigung.