


Kundgebung zum 65. Jahrestag der Befreiung - MdB Wolfgang Gehrcke am 8. Mai 2010 in Seelow
Kriege fallen nicht vom Himmel, sie beginnen nicht einfach. Kriege werden gemacht und vom Zaune gebrochen. Kriege enden auch nicht einfach, sondern Kriege rauben vielen Menschen Leben, Gesundheit, Würde und Glück. Die Rote Armee und die Armeen der Antihitlerkoalition haben dem furchtbaren Krieg ein Ende gesetzt.
Nie wieder Krieg!
Rede des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke,
außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE
Der Name Seelow macht Angst. Seelow, das ist auch ein Ort des Todes. Ein Ort, an dem viele Soldaten der Roten Armee kurz vor Berlin ihr Leben ließen. Ihnen verdanken wir die Befreiung vom Faschismus. Auch heute ist die erste Botschaft: Der 8. Mai 1945 war und ist Befreiung, nicht Kapitulation oder Niederlage oder, wie es oftmals verschämt heißt, Ende des 2. Weltkrieges. Kriege fallen nicht vom Himmel, sie beginnen nicht einfach. Kriege werden gemacht und vom Zaune gebrochen. Kriege enden auch nicht einfach, sondern Kriege rauben vielen Menschen Leben, Gesundheit, Würde und Glück. Die Rote Armee und die Armeen der Antihitlerkoalition haben dem furchtbaren Krieg ein Ende gesetzt.
Befreit hat die Rote Armee nicht nur die Sowjetunion, befreit hat die Rote Armee die vom Faschismus unterjochten Länder in Osteuropa, im Baltikum, befreit wurden Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei. Befreit wurde auch Deutschland. Deutschland hat nicht die Kraft gefunden, sich selbst zu befreien. Viele Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer hatten für dieses Ziel ihr Leben gelassen. Befreit wurden die Menschen aus den Konzentrationslagern, den Zuchthäusern und Gefängnissen. Befreit wurden Demokratinnen und Demokraten, befreit wurden Sinti und Roma, befreit wurden Kriegsgefangene und befreit wurden Jüdinnen und Juden, gerettet vor der Vernichtung. Die Armeen der Antihitlerkoalition, die Rote Armee, trafen auf ihren Wegen nach Berlin auf Berge hingemordeter Menschen, auf eine Brutalität, wie sie die Welt bis dahin noch nicht erlebt hatte. Die Rote Armee stoppte den Holocaust. Auch dafür muss ihr gedankt werden. 27 Millionen Menschen der Sowjetunion verloren ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus, lasst uns das nicht vergessen!
Befreit wurde Deutschland, alle Menschen, die in diesem Lande lebten und leben. Ich denke, wir sollten nicht vergessen, dass wir es in Deutschland mit Tätern, Mitläufern, Opfern und Widerständigen zu tun hatten und haben. Auch über den Gräbern gibt es keine Verständigung mit den Tätern, mit den Verantwortlichen des Faschismus – und darf es nie geben. Faschismus ist keine Meinung, Faschismus ist ein Verbrechen!
Der Kampf um die Köpfe der einst Verführten konnte und kann nur dann erfolgreich geführt werden, wenn die Opfer, die der Faschismus zu Nummern machte, ihre Namen zurück erhielten und auch die Namen der Täter genannt werden. Wer über 1945 redet, darf über 1933 nicht schweigen. Nicht schweigen darf man über die deutsche Rüstungsindustrie, die den Krieg gewollt und vorbereitet hat. Nicht schweigen darf man über die IG Farben, in deren Fabriken das Giftgas zur Vernichtung der Menschen in den KZ’s produziert wurde. Nicht schweigen darf man über die Verbrechen der Wehrmacht in den besetzten Gebieten, nicht schweigen darf man über die Mordprogramme deutscher Ärzte an behinderten Menschen. Nicht schweigen darf man über Versuche an Menschen in den Konzentrationslagern und nicht schweigen darf man über die Deutsche Bank, die den Krieg von Hitler finanzierte und an ihm verdiente. In der Bundesrepublik schrieb einmal der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, der auch ein enger Freund und Berater von Konrad Adenauer war, ‚Was gut ist für die Deutsche Bank, ist gut für Deutschland.‘ Andersherum: Was gut war für die Deutsche Bank, war vernichtend für Deutschland.
Aber es gab auch immer das andere Deutschland, das der deutschen Intellektuellen, deren Bücher verbrannt worden waren, der deutschen Maler und Bildhauer, deren Werke als entartet aus der deutschen Kultur entfernt werden sollten, der deutschen Arbeiterbewegung, der Kommunisten und Sozialdemokraten, die gegen den Faschismus kämpften, der Christen, der Demokraten im deutschen Bürgertum und in der deutschen Wehrmacht. An vielen Orten, wo der Faschismus sich eingenistet hatte, war auch der Widerstand vorhanden.
Gerade heute, wenn man sich die Bilder vor Augen führt von neuen und alten Nazis, weiß man, dass das Vermächtnis des deutschen Widerstandes „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ noch immer nicht eingelöst ist. Bert Brecht hatte Recht, wenn er warnte: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! – das müssen wir einlösen. Faschistische Parteien und Organisationen wie die NPD müssen verboten werden und Deutschland darf sich nicht an Kriegen beteiligen. Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt, Deutschland führt Krieg am Hindukusch. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen und Krieg ist nicht die Ultima Ratio, wie immer wieder behauptet wird. Krieg ist die Ultima Irratio! Diese Erkenntnis, die nach 1945 die Politik prägte, müssen wir uns zurück erobern, wenn wir Befreiung nicht verspielen wollen.
Zur Befreiung gehört der Kampf um die historische Wahrheit. Zur historischen Wahrheit gehört es eben, auszusprechen, dass die Sowjetunion die größten Opfer gebracht hat, Europa zu befreien. Das muss ausgesprochen werden, ohne ein ABER dahinter zu setzen! Es widerspricht der historischen Wahrheit, wenn Opfer und Täter gleichgesetzt werden. Es widerspricht der historischen Wahrheit, wenn immer wieder Vergleiche der Sowjetunion mit dem Hitlerfaschismus gezogen werden. Es widerspricht der historischen Wahrheit und Erfahrung, wenn in Europa auch heute noch gegen Russland gerüstet wird. Europa braucht keine Armeen, die gegeneinander stehen. Europa braucht auch keine Atomwaffen! Die Atomwaffen aus Deutschland müssen abgezogen werden. Europa braucht kein Raketenabwehrsystem, dass ungleiche Sicherheit, also Unsicherheit produziert. Sicherheit in Europa kann keine Sicherheit gegeneinander, sondern nur Sicherheit miteinander sein. Sicherheit miteinander wollen wir politisch herbeiführen und praktisch leben. Wenn heute über Verständigung gesprochen wird, bedarf es Treffen von möglichst vielen Menschen, eines Jugendaustausches, kultureller Zusammenarbeit und bedarf es einer demokratischen Erinnerungskultur. Zur demokratischen Erinnerungskultur gehören Orte wie Seelow, und wenn ich eingangs von einem Ort des Todes sprach, ist Seelow zu einem Ort geworden, eben Tod zu verhindern, weil Verständigung versucht und gefunden wird.