Reise nach Israel und Palästina

02.02.2012
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5. bis 12. Januar 2012
Bericht an den Präsidenten des Bundestages
Wertung und Schlussfolgerungen

1. Viele Gesprächspartner in Palästina und Israel glauben nicht mehr daran, dass Verhandlungen tatsächlich zu zwei Staaten führen werden. Das Vorgehen der jetzigen israelischen Regierung wird als Absage an die Zwei-Staaten-Lösung verstanden. Die Distanz zwischen Israel und Palästina wächst beinahe stündlich und ist mit Händen zu greifen. Das betrifft auch politische Akteure auf beiden Seiten.
2. Gleichzeitig sind Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung weder sichtbar noch logisch. Es spricht wenig dafür, dass, wenn es schon nicht einmal zu einer geregelten Staatsgründung kommt, Vereinbarungen denkbar werden, die ein gleichberechtigtes Leben von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Israels und Palästinenserinnen und Palästinensern aus den besetzten Gebieten in einem bi-nationalen Staat möglich machen. Zumal in einem solchen, unwahrscheinlichen Falle auch einen Zuzug von ca. 4 Mio. palästinensischer Flüchtlinge wahrscheinlich erscheint. Denkbar ist auf dieser Ebene nur eine Fortsetzung des Besatzungsregimes. Das wiederum ist nicht wünschenswert, moralisch und politisch inakzeptabel und sozial explosiv.
3. Weiter zugespitzt ist offensichtlich die innenpolitische Lage in Israel und auch in Palästina – dies allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen. In Israel mehren sich religiöse Verwerfungen zwischen gläubigen Jüdinnen und Juden, so genannten Reformorientierten und Orthodoxen, und die Auseinandersetzungen um demokratische Rechte nimmt einen wachsenden Stellenwert ein. Die israelische Occupy-Bewegung, angeführt von sehr jungen Studierenden schaffte es binnen kürzester Zeit, bei 7 Mio. Einwohnern, 500.000 Menschen zu Demonstrationen und Kundgebungen auf die Straßen und Plätze zu bringen. Israel verfügt über eine quirlige linke Szene von Kultur- und anderen Nichtregierungsorganisationen, weltweit anerkannten Literaten, Musikern, Malerinnen und Malern sowie eine mutige Bürgerrechtsbewegung. Auch Palästina ist eben unter den Bedingungen der Besatzung geprägt von vielfältigen Initiativen. Politisch muss damit gerechnet werden, dass die Regierung von Präsident Abbas eine Einheitsregierung mit der Hamas anstrebt, dass die Hamas in die PLO aufgenommen werden soll und dass zeitgleich, wenn es dabei bleibt, Präsidentschaftswahlen und Wahlen zu den Leitungsorganen der PLO stattfinden sollen. Alles zusammen genommen, wird das erneut das Verhältnis Israel und Palästina vor neue Herausforderungen stellen und in beiden Gebieten politische Umgruppierungen einleiten können.
4. Nicht verarbeitet sind vor allem in Israel die Umbrüche des „arabischen Frühlings“. Viele Menschen sind unsicher darüber, ob aus dem „arabischen Frühling“ nicht bereits ein „isla-mistischer Herbst“ geworden ist. Mit einem weiteren Blick haben Gesprächspartnerinnen und –partner in Israel und Palästina darauf aufmerksam gemacht, dass auch in Europa Revolutionen wie die französische Revolution mit einem Jahrhundertschritt noch immer Bewegungen, Werte und Denkweisen beeinflussen.
Für das Verständnis israelischer Politik, auch israelischer Regierungspolitik, auch und gerade dann, wenn man diese kritisiert, ist ein Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem unverzichtbar. Das Begreifen des Unbegreiflichen der industriellen Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden ist auch heute Bestandteil des kollektiven Bewusstseins, nicht unbedingt immer auf der Erscheinungsebene.



Programm (Treffen, Gespräche, Besichtigungen)

 

Donnerstag, 5. Januar 2012
Ankunft und Briefing durch den deutschen Botschafter in Tel Aviv, Herrn Michaelis, und den stellvertretenden Leiter der deutschen Vertretung in Ramallah, Herrn Jetzelsperger.

Ein besonderer Akzent bei diesem Briefing wurde auf die herausragende Rolle, die die deutsche Politik bei der israelischen Regierung und bei der palästinensischen Autonomiebehörde spielt gesetzt. Von den USA, vom amerikanischen Präsidenten gehen derzeit wenig Impulse für die Nahost-Politik aus. Auch von Russland, dem zweiten staatlichen Akteur im Nahost-Quartett, ist wenig zu spüren. Europa wird vor allen Dingen mit Blick auf die deutsche Politik wahr genommen. Daraus schlussfolgert, dass sich Deutschland in der Nahostfrage nicht zurückziehen kann, sondern aktiv, aktiver agieren muss.

Die Übernachtung in Beit Shmuel, dem internationalen Zentrum reformjüdischer Bewegungen lenkte schon die Aufmerksamkeit auf die Ausprägung religiöser Verhaltensweisen innerhalb des religiös-jüdischen Teils der israelischen Gesellschaft. Beit Shmuel ist auch das Weltzentrum reformjüdischer Bewegungen.


Freitag, 6. Januar 2012
Jerusalem

Bereits Führungen und Rundfahrten durch Jerusalem machen auf die zugespitzten Verhältnisse an der Grenzlinie zwischen West- und Ost-Jerusalem aufmerksam. Jerusalem könnte eine Zündschnur an dem Explosionsgemisch Naher Osten sein. Der Umgang mit den Heiligtümern der Weltreligionen und die gezielte Vertreibungspolitik gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern auch im Ostteil der Stadt sowie die grauenhafte Absperrung durch den die arabischen Viertel abschließenden Mauerbau schaffen ein bedrückendes Klima.

Für die deutsche Politik und die Förderung von gemeinsamen kulturellen und politischen Pro-jekten war der Besuch in den Senderäumen der israelisch-palästinensischen Radiostation „All for peace“ sehr wichtig. Die Direktoren, Mossi Raz und Frau Maysa Baransi-Seniora, stellten nicht nur die Programme der Station vor, sondern baten darum, im Deutschen Bundestag für eine Fortsetzung der Förderung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes einzutreten. Die israelische Regierung leistet keine Förderung. Der Radiosender „All for Peace“ sendet(e) seit mehreren Jahren aus Ramallah und Ostjerusalem. Ende 2011 wurde der in Ostjerusalem befindliche Sender geschlossen und damit alle von hier ausgehenden Sendungen in Hebräisch, Arabisch, Englisch und Russisch untersagt; der in Ramallah befindliche Radiosender sendet weiter, freilich nicht auf Hebräisch.


Samstag, 7. Januar 2012
Susiya (C-Area) und Hebron

Der Besuch in der Beduinensiedlung Susiya nahe Hebron hat mich tief erschüttert. In den so genannten „C-Zonen“, das ist der größte Teil des von Israel besetzten Westjordanlandes, sind die Palästinenserinnen und Palästinenser und erst recht die beduinische Bevölkerung völlig rechtlos. Alle Rechte liegen bei der israelischen Militärverwaltung. Nichts darf gebaut werden ohne Genehmigung des israelischen Militärs, kein Brunnen gebohrt, keine Schule betrieben, keine Zeltsiedlung aufrecht erhalten. Darüber hinaus bedrohen militante israelische Siedler die palästinensische Bevölkerung und das Militär schaut nach Möglichkeit weg. In dem Beduinengebiet Susiya wurde eine kleine Schule errichtet – ohne Genehmigung der Militärverwaltung. Sie soll jetzt abgerissen werden. Brunnen, die von der beduinischen Bevölkerung selbst gegraben wurden, sind zerstört worden, und das Wasser muss in kleinen Tanks über weite Wege und zu teuren Preisen herangeschafft werden. Auf der anderen Seite ist in Blicknähe ein Camp israelischer Siedler – illegal selbst nach den Bestimmungen der Besatzung – aber mit Strom- und Wasseranschluss.

Ein wichtiger Kreuzungspunkt ist die palästinensische Stadt Hebron, in der einzelne Stadtteile durch militante Siedler, die von der Armee beschützt werden, besetzt sind. Die Innenstadt ist von der israelischen Armee abgesperrt worden, mit Kontrollposten durchsetzt und viele Straße so geteilt, dass palästinensische Bewohner dieser Viertel sich nur auf der einen Seite der Straße bewegen dürfen. Wer nicht in dem Viertel wohnt, erhält keinen Zugang, sondern muss weiträumig diese Gebiete umfahren oder umgehen. Ich wurde Augenzeuge einer Hochzeit, wo die Braut am Kontrollposten aussteigen musste, den weiteren Weg zu Fuß zurückgelegt hat und von ihren Gästen nur eine Handvoll mitnehmen konnte. Ich erlebte eine israelische Militärkolonne in der Altstadt, die in der beginnenden Dunkelheit mit auf die Fenster der Häuser gerichteten Maschinenpistolen und automatischen Gewehren durch ein arabisches Viertel marschierte. Das Furchtbare ist: so türmt sich auf alten Hass immer wieder neuer. Hebron ist eine Stadt, in der 1929 ein Pogrom viele jüdische Bürgerinnen und Bürger das Leben kostete, und in der am 29. Februar 1994 29 Palästinenser durch ein Attentat eines jüdischen Siedlers ums Leben kamen. Die Stadt Hebron ist durch internationale Programm attraktiv wieder aufgebaut worden, aber die Spannungen zwischen militanten Siedlern und der palästinensischen Bevölkerung prägen die Atmosphäre.


Sonntag, 8. Januar 2012
Ramallah

In Ramallah waren zwei sehr unterschiedliche Treffen herausragend:
Am Vormittag ein Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der palästinensischen Boykott-kampagne gegen Israel und am Abend das Treffen mit dem Leiter der palästinensischen Wasserbehörde, Minister Shaddad Attili, und dem deutschen Hydrogeologen Clemens Messerschmidt.

Meine Kritik und die Kritik der Fraktion DIE LINKE an der Boykottbewegung wurde von den Anwesenden zur Kenntnis genommen, aber nicht tatsächlich verarbeitet. Gleichzeitig wurde mir klar, dass die Erscheinung, die man in Deutschland oder Europa zur Boykottfrage wahrnehmen kann, mit der israelischen und palästinensischen Boykottbewegung wenig zu tun haben. Die palästinensische Boykottbewegung nimmt für sich in Anspruch, dass sie eine Form des gewaltfreien Widerstandes gewählt hat. Sie ist also nicht militant, sondern versucht, aus den Erfahrungen anderer Bewegungen heraus Schlussfolgerungen für ihre Situation umzusetzen. Das Musterbeispiel ist ein Rückgriff auf die Boykottbewegungen der Apartheidgegner in Südafrika. Für diese Bewegung ist Israel ein Apartheidstaat oder wenigstens schon weit auf diesem Wege vorangeschritten. Den Erfolg der Antiapartheidbewegung in Südafrika macht sie daran fest, dass Schwarze geschlossen gegen Weiße gekämpft hätten. Sie ist nur bereit, israelische Partnerinnen und Partner zu akzeptieren, wenn diese sich zu ebenso entschlossenen Formen des Protestes bekennen. Meine Kritik an dem Schwarz-Weiß-Bild wurde in diesem Gespräch nicht akzeptiert, sie lehnen Verhandlungsprozesse wie Oslo auf der Grundlage ihrer Erfahrungen ab.

Das Gespräch mit den Vertretern der Palästinensischen Wasserbehörde machte ein Kernproblem, deutlich: die völlig ungerechte Verteilung von Wasser in Israel und Palästina. Israel beutet die drei großen Wasserreservoirs des Westjordanlandes aus und das in mehrfacher Hinsicht. Ein Teil des Wassers wird über Wasserleitungen nach Israel verbracht und auch die Wasserverteilung im besetzten Westjordanland zwischen israelischen Siedlern und der palästinensischen Bevölkerung ist extrem ungerecht. Völlig katastrophal ist die Wasserversorgung für den Gaza-Streifen. In den Osloer Verträgen sind Regelungen zur Wasserverteilung enthalten. Diese werden von Israel nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat nach Auskunft unserer Gesprächspartner ausdrücklich und schriftlich darauf verzichtet, die Einhaltung dieser Verträge anzumahnen.

Die Unterstützung durch das deutsche Entwicklungsministerium (BMZ) für viele "Wasserprojekte" geht aus Sicht unserer Gesprächspartner am Hauptproblem vorbei. Wohl wegen des israelischen Drucks geht es nicht mehr um Wassererschließung, sondern um die Erneuerung bzw. Ausweitung von Wassernetzwerken (die im Sommer meist leer bleiben) und um Wassersparmaßnahmen (für Palästinenser, nicht Israelis). Es würden also die falschen Projekte unterstützt bzw. gepusht.


Montag, 9. Januar 2012
Gespräche in der Knesset und im Außenministerium

Herr Nitzan Horowitz (Merez-Fraktion) – Herr Horowitz charakterisierte die Merez als sozialdemokratische Partei Israels. Für die Merez-Partei sei eine Friedenspolitik, die auf zwei Staaten orientiert, unverzichtbar. Merez sei an den sozialen Protestaktionen in Israel durch ihre Mitglieder beteiligt gewesen. Innerhalb des Parlamentes kooperiere man in vielen fragen mit Kadima und Chadasch.

Herr Shlomo Molla (Kadima-Fraktion) – Der Abgeordnete äthiopischer Abstammung gehört zu den profilierten Kadima-Mitgliedern mit erheblichem Einfluss in der israelischen Gesellschaft. Herr Molla akzentuiert insbesondere die Notwendigkeit der Zwei-Staaten-Lösung und macht darauf aufmerksam, dass, wenn es nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt, der jüdische Charakter des Staates Israel nicht haltbar sei. Zur Zwei-Staaten-Lösung gehört aus seiner Sicht, dass die Siedlungspolitik nicht so fortgesetzt werden kann, dass es eine israelische Reaktion auf den „arabischen Frühling“ geben müsse und dass ernsthaft über die Grenzen des palästinensischen Staates verhandelt werden müsse. Die Kadima-Partei sei gerade in Fragen der Zwei-Staaten-Lösung nicht mit der Netanjahu-Regierung einverstanden.
Innenpolitisch trat Herr Molla für die Aufnahme der Arbeit an einer Verfassung ein, die auch dem nichtjüdischen Teil der Bevölkerung Israels klare Rechte einräumt.
Israel sei enttäuscht über europäische Reaktionen auf das iranische Atomprogramm und werde auf keinen Fall zulassen, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen kommt. Um das zu verhindern, soll auch militärische Gewalt gegenüber dem Iran nicht ausgeschlossen werden.

Herr Hanna Swaid (Chadasch-Fraktion) – Herr Swaid charakterisierte Chadasch als eine arabisch-jüdische Partei, die einzige Partei in Israel, in der arabische und jüdische Mitglieder vollständig gleichberechtigt sind und die einzige Partei, die sich innerhalb der israelischen Gesellschaft für die Gleichberechtigung der arabischen Bürgerinnen und Bürger Israels einsetzt. Hanna Swaid charakterisierte die Außenpolitik von Chadasch entlang der Eckdaten der Genfer Initiative (67er grenze, Ost-Jerusalem als Hauptstadt des palästinensischen Staates, möglicher Gebietsausgleich, gerechte Verteilung von Wasser und anderen Naturressourcen, Akzeptanz des jeweiligen Verhandlungspartners auf der palästinensischen Seite). In der Flüchtlingsfrage machte Herr Swaid darauf aufmerksam, dass die Forderung nach vollständigem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nach Israel nicht realistisch sei und Vertreibung nicht durch neue Vertreibung ausgeglichen werden könnte. Er tritt für eine internationale Lösung der Flüchtlingsfrage ein, so dass palästinensische Flüchtlinge in den Ländern, in denen sie Aufnahme gefunden haben, Bürgerrechte erhalten sollen und dass Europa mehr palästinensische Flüchtlinge aufnimmt. Grundlage dafür muss aber sein, dass der israelische Staat die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser als Unrecht anerkennt. Den Flüchtlingen muss international eine Entschädigungsmöglichkeit eröffnet werden.

Herr David Rotem (Fraktion Israel Beitenu) – Herr Rotem gehört als Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten zum rechten Flügel seiner Partei und Fraktion. Herr Rotem vertrat die Auffassung, dass es rechtens sei, in den besetzten Gebieten Siedlungen aufzubauen und dass diese Siedlungen mit allen Mitteln, auch mit militärischen Mitteln, abzusichern sind. Israel Beitenu würde das auch künftig zur Linie der Regierungspolitik machen und sei nicht daran gedacht, einzelne Siedlungen zur Disposition zu stellen.

Gespräch mit Daniel Ayalon, stellvetretender Außenminister Israels (Israel Beitenu)
Daniel Ayalon charakterisierte die israelische Strategie in der Nahostfrage wie folgt: Israel strebe Sicherheit und Anerkennung durch die arabischen Staaten an und sei bereit, den Palästinensern Unabhängigkeit und Souveränität ihres Staatswesens zu bieten. Dieses strategische Ziel ist mit Sicherheit nicht der Kernpunkt der Auseinandersetzung, sondern der Kern der Auseinandersetzung ist der Weg, der dahin führen kann. Herr Ayalon lehnt den Gang des palästinensischen Präsidenten zu den Vereinten Nationen grundsätzlich ab. Ein Friede müsse zwischen Israel und Palästina ausgehandelt werden und könne nicht Gegenstand von internationalen Entscheidungen sein. Die UNO sei latent araberfreundlich und Israel-feindlich. Um die israelische Position zu einem palästinensischen Staat zu beschreiben, benutzte Herr Ayalon das Bild einer Katze, die Katze sei Israel und der Schwanz demzufolge Palästina. Es mache keinen Sinn, den Schwanz viermal abzuschneiden, sondern man müsse mit einem mutigen Schlag es mit einem Mal regeln.
Wenn man dieses Bild übersetzt, ist das eine Position „Alles oder Nichts“. Ich habe Herrn Ayalon darauf aufmerksam gemacht, dass eine Katze ohne Schwanz ihre Bewegung nicht mehr steuern könne und es sei genau mein Eindruck der israelischen Politik, dass diese schon längere Zeit nicht mehr wisse, wohin sie steuert.
Herr Ayalon betonte, dass er persönlich Wert darauf legt, dass die Beziehungen zur Partei DIE LINKE in Deutschland verbessert werden und gab mir den Rat, dass DIE LINKE in Israel nicht nur mit ihren (linken) Partnerparteien, sondern auch mit der Regierung das Gespräch suchen sollte.

Besuch in Yad Vashem
Der Besuch in der Holocaust-Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem hat mich erneut tief erschüttert. in keinem Programm deutscher Parlamentarier, die Israel besuchen, darf ein solcher Besuch fehlen.


Dienstag, 10. Januar 2012
Gespräche in Ramallah und Tel Aviv

Höhepunkt war das Gespräch mit Yasser Abed Rabbo, Generalsekretär der PLO. Abed Rabbo macht darauf aufmerksam, dass man den so genannten „arabischen Frühling“ nicht aus einer Momentaufnahme heraus beurteilen dürfe. Europa hätte fast 200 Jahre gebraucht, um die geistige Größe der Französischen Revolution in sich aufzunehmen. Die europäische Kolonialgeschichte im Nahen Osten ist abgelöst worden durch eine kurze Phase starker panarabischer Bewegungen, an deren Ende viele Diktaturen in unterschiedlichen Formen standen. Die westlichen Staaten haben sich mit diesen Diktaturen arrangiert, weil sie unterstellten, dass diese Stabilität für westliche Interessen im Nahen Osten garantieren würden. Die Entwicklungen, wie schwierig sie auch im Detail sein mögen, sind nicht mehr zurück zu drehen, weil viele Menschen in der Region sich ihrer eigenen Kraft bewusst geworden sind. Abed Rabbo, der als einer der Architekten der Genfer Initiative, und – voran gegangen – gemeinsam mit Arafat und Abbas der Oslo-Verhandlungen gilt, ist sehr skeptisch, was den Fortgang des Verhandlungsprozesses mit Israel angeht. Sein Fazit: ‚Wir haben alles gegeben und nichts erhalten.‘
Die palästinensische Autonomiebehörde wird den Schwerpunkt ihres politischen Agierens auf das weitere Vorgehen in der UNO legen und den innerpalästinensischen Aussöhnungsprozess voran treiben. Es sei geplant, mit der Hamas zu einer realen Übereinkunft für eine Einheitsregierung zu kommen und die Hamas zu bewegen, der PLO beizutreten. Von außerordentlicher Bedeutung seien die Präsidentschaftswahlen in Palästina einschließlich Gaza sowie die Wahlen zu den Leitungsorganen der PLO, wenn die Hamas der PLO beigetreten ist. Yasser Abed Rabbo bat darum, dass die Betreuung von Marwan Barghouti und anderen inhaftierten Abgeordneten des Palästinensischen Legislativrates durch deutsche Abgeordnete fortgesetzt wird.

In Tel Aviv diskutierte ich mit Frau Prof. Naomi Chazan, ehemalige Knesset-Abgeordnete und jetzt Präsidentin des New Israel Fund, über die aktuellen Entwicklungen und die Debatten zu Situation der Demokratie in Israel. Frau Chazan gehört zu den auch für deutsche Verhältnisse interessanten Demokratieforschern aus Israel. Sie äußerte sich sehr kritisch, was den gegenwärtigen Abbau demokratischer Rechte in Israel angeht und riet der linken Bewegung in Deutschland, sich doch offensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, was wahre Freunde Israels auszeichne. Ihre Demokratiekonzeption für Israel sei auch mit einem verfassungsgebenden Prozess verbunden, in dessen Ergebnis sich Israel als „Staat seiner Staatsbürger“ definieren müsse.

Bei einem Treffen mit Herrn Dov Khenin (Chadasch-Frktion) schlug Herr Khenin vor, dass sich die Linke in Deutschland offensiver auch auf einen theoretischen Debattenprozess einlassen solle. Die Linke in Israel sei in der Defensive, dies müsse aber nicht so bleiben. Er verwies auf die Massendemonstrationen der sozialen Bewegungen und auch auf sein eigenes Beispiel: Herr Khenin hatte als Kandidat des Bündnisses „A City for all“ für das Bürgermeisteramt in Tel Aviv im Jahre 2008 35 Prozent der Wählerstimmen erreicht.

Ich habe Frau Prof. Chazan und Herrn Khenin zu einem baldigen Besuch in Deutschland und auch im Bundestag eingeladen.


Mittwoch, 11. Januar 2012
Gespräch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Initiativen:
Frau Stav Shaffier und Herr Jonathan Levy (soziale Protestbewegung)
Frau Rina Shapira (FORA – feministische Organisation russischsprachiger Einwanderer)
Herr Thabit Abu Ras (Association for Environment Justice in Israel/Adalah)
Herr Janiv Bar Ilan (alternative Gewerkschaft Koach La-Ovdim)

Israel verfügt über eine sehr rege und sehr reichhaltige nichtparlamentarische Bewegung. Zum Beispiel wurden die großen Sozialproteste, beginnend um die Wohnungsfrage, von Studentinnen und Studenten in Gang gebracht und erreichten binnen weniger Tage eine halbe Million Menschen. Israel hat bekanntlich 7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
Aus den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern außerparlamentarischer Bewegungen hat sich bei mir der Eindruck gefestigt, dass das größte innenpolitische Problem Israels in der Verbindung von sozialer Balance, Verteidigung demokratischer Rechte und Gestaltung des Verhältnisses zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürgerinnen und Bürgern besteht. Für die parlamentarische Arbeit in Deutschland ist ein Kontakt und die intensivere Beschäftigung mit der außerparlamentarischen Bewegung in Israel aus meiner Sicht von großer Bedeutung.


Ich danke den Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und Ramallah für die intensive Unterstützung in Vorbereitung der Reise, insbesondere auch für die vielen Kontakte, die mir die Kolleginnen und Kollegen ermöglicht haben.
Mein Dank gilt auch dem deutschen Botschafter in Israel, Herrn Michaelis, und dem stellvertretenden Leiter der deutschen Vertretung in Ramallah, Herrn Jetzelsperger, für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.


Berlin, 27. Januar 2012

 

Wolfgang Gehrcke