Willkürliche Zerstörungen in der Westbank

16.03.2012
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Willkürliche Zerstörungen in der Westbank

Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.

 

Foto von der Schule in Sussya in den C-Gebieten, die ebenfalls von Abriss bedroht ist

Das Oslo-II-Abkommen von 1995 sieht als Interimslösung eine Aufteilung der Westbank, mit Ausnahme von Ostjerusalem, in drei Verwaltungsgebiete vor. Während die Palästinensische Autonomiebehörde vor allem in großen Städten zuständig für Sicherheitsfragen und öffentliche Verwaltung ist, werden fast zwei Drittel der Westbank, die so genannten C-Gebiete (62 % des Gebietes und ca. 6 % der Bevölkerung), vollständig von Israel kontrolliert. Die zahlreichen einzelnen Parzellen der so genannten A- und B-Gebiete liegen vollkommen isoliert innerhalb dieses durch Israel kontrollierten Gebietes. Die nahezu uneingeschränkte Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung in den „C-Zonen“, beispielsweise durch zahlreiche Straßensperren, erschwert die Lebensbedingungen und insbesondere die ökonomischen Aktivitäten der palästinensischen Bevölkerung der Westbank enorm. Zudem befindet sich ein Großteil des fruchtbaren Bodens und der natürlichen Ressourcen der Westbank in den von Israel kontrollierten Gebieten. Infrastrukturmaßnahmen in palästinensischen Gemeinden wie Stra-ßenbau, Errichtung von Wasser- und Energieanlagen, Wohn- und Versorgungsgebäuden sind auf Grund der äußerst restriktiven Genehmigungspolitik durch die israelische Verwaltung kaum realisierbar.

Dieser Zustand schränkt das Leben der zumeist beduinischen palästinensischen Bevölkerung enorm ein und behindert wirtschaftliche Entwicklung und Handel extrem. Daher betont auch die Weltbank, dass die negativen Auswirkungen der anhaltenden israelischen Kontrolle der so genannten C-Gebiete auf die wirtschaftliche Lage der palästinensischen Bevölkerung gar nicht überschätzt werden können (http://siteresources.worldbank.org/INTWESTBANKGAZA/Resources/WorldBankSep2010AHLCReport.pdf).
Nachhaltige Entwicklung ist den Palästinensern in den „C-Zonen“ nahezu unmöglich. Die israelische Verwaltung erkennt einen Großteil palästinensischer, zumeist beduinischer, Gemeinden nicht an. Regelmäßig werden Brunnen, Schulen, Häuser oder Anlagen zerstört, allein im ersten Halbjahr 2011 hat das UN-Menschenrechtsbüro 342 Fälle von Zerstörung palästinensischer Infrastruktur in den von Israel kontrollierten Gebieten gezählt.
Ein solches Vorgehen zielt auf eine weitere Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus den von Israel kontrollierten Gebieten der Westbank. Dies wird bei einem Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in den so genannten C-Gebieten deutlich: Die Zahl der Palästinenser ist dort in den vergangenen Jahren drastisch gesunken, beispielsweise im Jordantal, wo 1967 Schätzungen zufolge 200.000 – 320.000 Palästinenser lebten und deren Zahl aufgrund von Hauszerstörungen und Bauverboten bis heute auf gerade einmal 56.000 gesunken ist (http://euobserver.com/24/114879). Die Zahl der israelischen Siedler in den so genannten C-Gebieten hat sich dagegen seit den Oslo-II-Verträgen beinahe verdreifacht. Heute leben im C-Gebiet des Westjordanlands Schätzungen zufolge 310.000 israelische Siedler und 150.000 Palästinenser.
In einem aktuellen Bericht der EU-Botschafter wird daher eindringlich gewarnt, dass mit der anhalten Ausweitung der völkerrechtswidrigen israelischen Besiedlung der „C-Gebiete“ die Chance, eine Zweistaatenlösung herbeizuführen, rapide sinkt. Ein palästinensischer Staat ohne die heute von Israel verwalteten besetzten Gebiete wäre eine Sammlung geografisch nicht zusammenhängender Enklaven und daher kaum lebensfähig. Das Erreichen einer Zweistaatenlösung ist nach Auffassung des Berichts der EU-Botschafter untrennbar mit dem Schutz der Rechte der palästinensischen Bevölkerung in den „C-Gebieten“ verbunden.

Ein Beispiel für die von der israelischen Zivilverwaltung betriebene völkerrechtswidrige Zerstörung der Lebensgrundlage der palästinensischen Bevölkerung ist der angekündigte Abriss von Solar- und Windkraftanlagen in den so genannten C-Gebieten. Das Auswärtige Amt förderte nach eigenen Angaben in dem in den „C-Gebieten“ gelegenen Dorf Susyah südlich von Hebron ein Pilotprojekt der israelischen NRO Comet-ME zum Bau von kleinen Wind- und Solaranlagen. Dieses Projekt verbesserte nach Angaben des AA die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung enorm, indem Zugang zu Elektrizität beispielsweise für Beleuchtung und Kühlung von Milchprodukten bereitgestellt wurde. In der Folge stellte das AA knapp 600.000 Euro für weitere Wind- und Solarprojekte von Comet-ME und medico international in den „C-Gebieten“ für eine Basis-Ökostromversorgung zur Verfügung. Nun ist zu befürchten, dass Israel diese vom AA mitfinanzierten Öko-stromanlagen abreißt. So ist laut Zeitungsberichten beispielsweise die Anlage in Tha’lah und den umgebenden Dörfern von Zerstörung bedroht. Mitte Februar dieses Jahres zerstörten Bulldozer bereits die Behausung einer palästinensischen Familie und Viehunterstände. Dabei wurden auch 15 Lämmer unter dem Schutt begraben (http://www.haaretz.com/print-edition/features/israel-demolishes-west-bank-villages-as-jewish-outposts-remains-untouched-1.413875).

Ein weiteres Beispiel ist die geplante Enteignung des Projekts „Tent of Nations“ der evangelischen Palästinenserfamilie Nassar. Das „Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel“ (EAPPI) zur gewaltfreien Hilfe und Unterstützung der Menschen in den besetzten Gebieten im Westjordanland und in Ostjerusalem dient dazu, Menschen im Alltag zu begleiten und gewaltfreie Aktionen von Israelis und Palästinensern zu unterstützen. Mit dem Motto „Wir wehren uns dagegen, Feinde zu sein“ zieht das Begegnungs- und Kulturzentrum Freiwillige und Unterstützer aus der ganzen Welt an. Laut EAPPI sei am 15.2. 2012 eine „Land Confiscation Order“ des Staates Israel im „Tent of Nations“ eingetroffen. Es droht eine Enteignung und Räumung des Landes, das sich im Eigentum Nassars befindet.


Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Solar- beziehungsweise Windprojekte wurden mit finanzieller Hilfe des AA durch medico und Comet-ME in den so genannten C-Gebieten realisiert (detaillierte Auflistung)? Wie hoch ist das finanzielle Engagement des AA in diesen Projekten?

2. Trifft es zu, dass die israelische Zivilverwaltung so genannte „Stop-Work“-Anordnungen über vom AA finanzierten Solar- beziehungsweise Windprojekte in den „C-Gebieten“ verhängt hat? Wenn ja, welche vom AA finanzierten Projekte sind hiervon betroffen (detaillierte Auflistung)?

3. Trifft es zu, dass aufgrund bestehender so genannter „Stop-Work“-Anordnungen der israelischen Zivilverwaltung eine Abrissverfügung für die vom AA finanzierten Solar- beziehungsweise Windprojekte in den „C-Gebieten“ zu befürchten ist? Wenn ja, welche vom AA finanzierten Projekte sind hiervon betroffen (detaillierte Auflistung)?

4. Welche Maßnahmen wurden seitens der Bundesregierung ergriffen, um die vom AA mitfinanzierten Wind- und Solaranlagen vor einem möglichen Abriss zu bewahren?

5. Welche Bemühungen unternimmt die Bundesregierung, um die geplante Enteignung des Projekts Tent of Nations zu stoppen und zu gewährleisten, dass das international anerkannte Begegnungs- und Friedensprojekt weiter ungehindert seine Arbeit durchführen kann?

6. Welche weiteren Projekte der deutschen und europäischen EZ in den „C-Gebieten“ sind aufgrund bestehender „Stop-Work“-Anordnungen bedroht (detaillierte Auflistung)?

7. In welcher Höhe hat die deutsche und europäische EZ seit 1995 projektgebundene Mittel in den „C-Gebieten“ bewilligt, die aufgrund fehlender Genehmigung seitens der israelischen Verwaltung nicht eingesetzt werden konnten oder können?

8. Wie hoch sind die durch israelische Abrissmaßnahmen entstandenen Schäden an deutschen oder europäischen EZ-Projekten in den so genannten C-Gebieten seit 1995?

9. Trifft es zu, dass der deutsche Außenminister Guido Westerwelle im Rahmen seiner Israel-Reise im Februar 2012 den israelischen Premierminister, den Verteidigungsminister sowie den Außenminister ersucht hat, die so genannten „Stop-Work“-Anordnungen aufzuheben (http://www.haaretz.com/print-edition/features/israel-demolishes-west-bank-villages-as-jewish-outposts-remains-untouched-1.413875)?

10. Trifft es zu, dass nach dem Ersuchen des deutschen Außenminister Guido Westerwelle im Rahmen seiner Israel-Reise im Februar 2012 an den israelischen Premierminister, Verteidigungsminister sowie Außenminister, die so genannten „Stop-Work“-Anordnungen aufzuheben, weitere Anordnungen verhängt wurden (http://www.haaretz.com/print-edition/features/israel-demolishes-west-bank-villages-as-jewish-outposts-remains-untouched-1.413875)? Wenn ja, für welche Projekte?

11. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Palästi-nenser in den so genannten C-Gebieten laut eines Berichts (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/02/10.
mondeText.artikel,a0003.idx,1) der EU-Botschafter (EU Heads of Mission) aufgrund ihrer wachsenden Isolation einer stärkeren Unterstützung hinsichtlich Infrastrukturprojekten wie Straßen, Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser durch die EU bedürfen?

12. Wie hoch sind die bewilligten Mittel der deutschen staatlichen EZ im Westjordanland seit 1995 (bitte aufschlüsseln nach Investitionen in den so genannten A-, B- bzw. C-Gebieten)?

13. Wie bewertet die Bundesregierung, vor dem Hintergrund des Do-Not-Harm Ansatzes, die Auswirkungen der Investitionen der deutschen EZ in den so genannten A- und B-Gebieten des Westjordanlands auf die Bevölkerungsentwicklung in den so genannten C-Gebieten?

14. Welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der von den EU-Botschaftern geforderten stärkeren Unterstützung der Palästinenser in den so genannten C-Gebieten sind seitens der Bundesregierung geplant?

15. Wie schätzt die Bundesregierung die Schlussfolgerung aus dem EU-Bericht zu den C-Gebieten ein, die EU müsse gezielt in Wirtschaft, Entwicklung und Lebensbedingungen der Palästinenser in den „C-Gebieten“ investieren, hinsichtlich der Auswirkungen auf das Eintreten der Bundesregierung für eine zwischen den beiden Seiten ausgehandelte Lösung des permanenten Status mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung?

16. Welche politischen Schritte sind nach Auffassung der Bundesregierung nötig, um der von den EU-Botschaftern beschriebenen Gefahr, die die gegenwärtige Entwicklung in den so genannten C-Gebieten für eine zwischen den beiden Seiten ausgehandelte Lösung des permanenten Status mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung darstellt, entgegenzuwirken?

17. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass das humanitäre Völkerrecht für die besetzten Palästinensergebiete als Ganzes und für die C-Gebiete im Besonderen gilt, da letztere unter direkter israelischer Verwaltung und Jurisdiktion stehen und dass Israel nach dem humanitären Völkerrecht als Besatzungsmacht die Verantwortung für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse der unter Besatzung lebenden Bevölkerung trägt und dazu verpflichtet ist, die Besatzung so zu administrieren, dass die gesamte lokale Bevölkerung davon profitiert?

18. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass sich eine Militärbesatzung gemäß des humanitären Völkerrechts kein Land durch Gewalt und Drohung aneignen und keine eigene Bevölkerung in diesen Gebieten ansiedeln darf, dass sie vielmehr Einrichtungen und Dienstleistungen zur Deckung des humanitären und des Grundbedarfs schützen und entsprechende Arbeit begünstigen muss?

Berlin, den 16. März 2012

Dr. Gregor Gysi
und Fraktion DIE LINKE.