Raketenabwehrsystem Patriot in die Türkei?

22.11.2012
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von Alexander S. Neu

1. Was sind Patriot-Raketen?

Das Luftabwehrsystem „Patriot“ ist ein bodengestütztes-Luftabwehrsystem. Es dient der Bekämpfung von Flugzeugen, Marschflugkörpern und Raketen. Seine Reichweite variiert in Abhängigkeit des jeweiligen Lenkflugkörpers (der eigentlichen Rakete). Dass im Gespräch stehende Patriot-System für die Türkei besteht aus dem sogenannten PAC-3-Lenkflugkörper.

2. Wofür können sie eingesetzt werden und wofür nicht?

Die PAC-3-Lenkflugkörper des Patriot-Systems sind ausgelegt, um Flugzeuge, Marschflugkörper und sogar ballistische Raketen zu bekämpfen. Artellerie- und Mörsergeschosse hingegen sind nicht mit dem System nicht bekämpfbar.

3. Was will die Türkei mit diesem Waffensystem?

Offiziell will die Türkei ihren Luftraum vor feindlichen Flugkörpern aus Syrien schützen.

4. Ist die Türkei militärisch bedroht?

Nein! Ein konkretes Bedrohungsszenario für die Türkei mit vorhersagbarer Eintrittswahrscheinlichkeit eines Angriffs ist seitens der Bundesregierung bislang nicht bestätigt worden. Es ist auch aus der Ratio der syrischen Regierung wenig nachvollziehbar, warum sie eine weitere Front – hier gegen die Türkei eröffnen sollte, ist die syrische Regierung doch weitgehend mit der Bekämpfung der Aufständischen „ausgelastet“.
Die Bundesregierung verweist jedoch auf eine abstrakte Bedrohungswahrnehmung der Türkei, wonach die syrische Regierung im Falle ihres Kollaps‘ irrational handeln könnte. Das syrische Militär verfüge über diverse Raketen kurzer und mittlerer Reichweite, die dann gegen die Türkei eingesetzt werden könnten, so die Argumentation.
Abstrakte Bedrohungsgefühle sind jedoch eben keine konkrete Bedrohung. Wollte man abstrakte Bedrohungswahrnehmungen zur Grundlage militärischen Handelns machen, müsste man weltweit Abwehrsysteme errichten.

5. Bedroht die Türkei andere Staaten militärisch?

Die Türkei bedroht zwar ihrerseits nicht direkt andere Staaten der Region. Jedoch ist die Türkei auch keine stabilisierende Kraft in der Region. Die Türkei verfolgt sehr aggressiv ihre eigenen Interessen in der Region: Ihre wiederholten militärischen Interventionen im Nord-Irak gegen die Kurden sowie die vielfältigen Unterstützungsformen der syrischen Aufständischen tragen nicht zur Stabilisierung und der diplomatischen Konfliktlösung bei. Die Türkei ist an einem sog. Regime Change zu Gunsten der Moslembrüder in Syrien sehr interessiert. Daher unterstützt sie die Aufständischen, was eine direkte Einmischung und Parteinahme in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates bedeutet.

6. Auf welche Rechtsgrundlagen beruft sich die Türkei?

Bislang beruft sich die Türkei nicht auf Artikel 5 des NATO-Statuts, der den Angriff auf einen NATO-Staat feststellen und die verteidigungskollektiven Mechanismen in Gang setzen würde.

7. Gibt es Entscheidungen des Weltsicherheitsrates? (die Feststellung, dass der Weltfrieden gefährdet sei, obliegt ausschließlich dem Weltsicher-heitsrat)

Es existiert keine UN-Sicherheitsratsresolution, die eine Gefährdung des türkischen Staatsgebietes feststellen und/oder eine Stationierung der Patriot-Systeme thematisieren würde.

8. Welche politische Botschaft liegt in der deutschen Entscheidung, die Waffensysteme und Personal zu entsenden?

Auf den ersten Blick, liegt darin die Botschaft, dass Deutschland ein zuverlässiger NATO-Bündnispartner sei, der dem Anliegen des türkischen NATO-Partners nachkomme. Dieser Ansatz wird durch die Bundesregierung auch stets so artikuliert.

Eine andere Wirkung der Verlegung der Patriot-Systeme jedoch ist, dass die Türkei ggf. ihre massive Einmischungspolitik gegenüber Syrien vertiefen und damit die Spannungen mit Syrien noch eskalieren könnte, da das türkische Territorium vor möglichen Vergeltungsangriffen Syriens geschützt würde.
Auch könnte die türkische Regierung sich in ihrer völkerrechtswidrigen Einmischungspolitik durch die Solidaritätserklärung in Form der gelieferten Patriot-Systeme bestärkt fühlen.

9. Wie ist in Libyen eine Flugverbotszone eingerichtet worden und was folgte danach?

In Libyen wurde mit der Sicherheitsratsresolution 1973 nicht nur eine Flugverbotszone eingerichtet, sondern die Resolution ermächtigte die NATO „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen,(…), um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete (…) zu schützen (…).
Die NATO-Staaten begannen mit der Errichtung der Flugverbotszone, erweiterten dann die Angriffe auf militärische Infrastruktur und Truppen am Boden und setzten schließlich Spezialtruppen am Boden zur Unterstützung der Aufständischen ein, um den auch von ihr angestrebten, nicht jedoch von der Resolution gedeckten, Regime Change zu realisieren. Der Bürgerkrieg in Libyen einschließlich der NATO-Operation hat verschiedenen Quellen nach über 50.000 Menschen das Leben gekostet.

10. Gibt es Beweise oder Indizien, dass die türkischen Absichten auf eine Flugverbotszone in Syrien zielen?

Die Bundesregierung behauptet, die Türkei sage verbindlich zu, das Luftabwehrsystem Patriot nicht zu verwenden, um auf syrischem Staatsgebiet eine Flugverbotszone für syrische Flugzeuge oder Raketen zu errichten.
Auch wolle die Bundesregierung den reinen territorialen Verteidigungszweck des zu liefernden Patriot-Systems selbst festlegen – ggf. sogar in einem Bundestagsmandat.

Auf der anderen Seite macht die Stationierung des Patriot-Systems keinen Sinn, betrachtet man das abstrakte Bedrohungsgefühl als unzureichende Begründung.
Es sei denn, man beabsichtigt eine grenznahe Stationierung, um weit in den syrischen Luftraum hinein wirken zu können, d.h. eine Flugverbotszone von türkischem Gebiet aus in Syrien zu erzwingen.
Türkische und russische Medien berichten genau über diese Absicht: Die Stationierung der Patriot-Systeme solle der Einrichtung einer Flugverbotszone im Norden Syriens dienen. Die Errichtung einer Flugverbotszone ohne eine diese legitimierende Sicherheitsresolution wäre ein faktische Kriegserklärung an Syrien und somit eindeutig völkerrechtswidrig.
Die Stationierungsorte der Patriot-Systeme können Hinweise auf deren Aufgabe geben. Werden die Patriot-Systeme viele Kilometer tief im türkischen Gebiet stationiert, dienen sie wohl eher dazu, dem abstrakten Bedrohungsgefühl etwas entgegenzusetzen. Werden die Patriot-Systeme hingegen nahe an der Grenze zu Syrien stationiert, decken sie in ihrer Wirkkraft Teile des syrischen Gebietes ab, womit die militärische Fähigkeit zur Errichtung einer Flugverbotszone gegeben wäre. Die militärische Fähigkeit sagt jedoch noch nichts über die politische Absicht jenseits der offiziell erklärten aus. Das Verhalten der Türkei muss weiter beobachtet werden.