8. Mai: Tag der Befreiung oder Tag des "langen Weges gen Westen"?

Berufen wir uns auf den verstorbenen Ex-Bundespräsidenten von Weizsäcker - Tag der Befreiung - oder den aktuellen Gedenkredner Prof. Heinrich-August Winkler?
08.05.2015
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Wolfgang Gehrcke

Ich bin maßlos enttäuscht und zornig über das, was in der Gedenkstunde des Bundestages gesagt und ebenso darüber, was nicht gesagt worden ist. Diese Gedenkstunde sollte aus meiner Sicht die Dankbarkeit seitens der Repräsentanten der deutschen Bevölkerung im Deutschen Bundestag für das ausdrücken, was die Alliierten und vor allem auch die Sowjetunion zur Befreiung Europas vom Faschismus geleistet haben.

Dass sich mein Vorschlag, die Vertreter der Alliierten, darunter auch der russische Präsident, einzuladen und im Gegenzug die russische Einladung für eine Teilnahme an der Siegesparade am 9. Mai in Moskau auf dem Roten Platz anzunehmen, nicht durchsetzt, hatte ich befürchtet. Was wir aber heute im Bundestag erhalten haben, war aus meiner Sicht erneut der Versuch, Geschichte umzuschreiben.

Ich will einige Punkte nachzeichnen.

Die zentrale Botschaft, die nach 1945 gegenwärtig war, die von den Befreiten aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Auschwitz, Dachau und vielen Orten des Schreckens mehr, ausging - Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus - strahlt in ihrer Klarheit weit über das hinweg, was der Bundestag am 8. Mai 2015 zur Kenntnis nahm und was ihm zur Kenntnis gegeben wurde. Der Gedenkredner, der Historiker Prof. Dr. Winkler, sprach unter anderem von einer „doppelten Aggression Hitler/Stalin“. Diese These ist nicht neu, sie war von Winkler und anderen bereits im sogenannten Historikerstreit (1986/87 in Deutschland-West) verfochten worden. Beide – Hitler und Stalin - hätten mit ihrem Überfall auf Polen die Grundlage für diesen Krieg gelegt. Die geschichtlichen Fakten sprechen aber eine andere Sprache.

Kein Wort im Bundestag zum Charakter des deutschen Faschismus, zur Harzburger Front, der Kooperation von Industrie, Rüstung, Militär und Nazipartei. Kein Wort darüber, dass systematisch in den Krieg geplant und gerüstet wurde. Nichts über das Bündnis der Deutschen Bank mit den Giftgasproduzenten für Auschwitz und dem deutschen Militär. Zwar sprach Prof. Winkler davon, dass Deutschland sich nicht selbst befreit hat, sondern befreit wurde. Doch gab es kaum ein Wort darüber, dass der deutsche Widerstand zu schwach war, die Nazi-Barbarei zu stürzen. All das kann man in der Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker aus dem Jahr 1985 nachlesen. Was wir heute im Bundestag erleben mussten, lässt uns weit hinter 1985 zurückfallen.

Es gehört zu den geschichtlichen Fakten, dass Deutschland Polen, Frankreich, Belgien und viele andere europäische Länder und am 21. Juni 1941 dann auch die Sowjetunion überfallen und verwüstet hat. 6 Millionen europäische Jüdinnen und Juden sind in einem beispiellosen Menschheitsverbrechen ermordet worden. Die Völker der Sowjetunion zahlten den hohen Preis von 27 Millionen Toten - auch um Deutschland und ganz Europa vom Faschismus zu befreien. Das einfache Wort „Danke“, auch gegenüber dem Osten, in seiner Schlichtheit und Klarheit, habe ich in dieser Gedenkstunde nicht vernommen.

Es ist wichtig, sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt auseinanderzusetzen, ihn zu kritisieren, doch der Ausgangspunkt des Krieges war er nicht. Die Botschaft 2015 – 70 Jahre nach der Niederwerfung des Hitlerfaschismus - ist nicht „der lange Marsch gen Westen“, sondern müsste die Rückkehr zur europäischen Entspannungspolitik sein.

Folgerichtig landete Prof. Winkler dann auch im gegenwärtigen Mainstream der Verurteilung Russlands und bei der Forderung nach einem besseren Umgang mit Polen und den baltischen Staaten. Diese Forderung alleine ist nicht zu kritisieren. Die Mahnung, keine Politik über diese Staaten hinweg und zu ihren Lasten zu praktizieren, durchaus berechtigt. Nur, ihre einseitige Betonung heute heißt übersetzt: Wir stimmen mit den Wünschen nach NATO-Präsenz, nach militärischer Aufrüstung überein und haben mehr als Verständnis für antirussisches Getöse. Kein Wunder, dass gegen Ende seiner Rede Prof. Winkler unter Beifall davon sprach, dass deutsche Geschichte kein Argument sei, sich weltweiten Militäreinsätzen nach dem Konzept Responsibility to protect zu entziehen. Darauf steuerte die Rede hinaus, dies war die Stoßrichtung - und das an diesem Tag.

Ein Land mit dieser Geschichte, wie sie Deutschland hat und tragen soll und muss, kann auch eine andere Schlussfolgerung ziehen:

Wir werden uns künftig dem Krieg verweigern. Für uns scheidet Militär als Mittel der Politik aus. Das wäre der kurze Weg zu ehrlicher Friedenspolitik.

Ich hatte gehofft auf zusätzliche Aufklärung, erhalten hat der Bundestag und hat die deutsche Öffentlichkeit einen falschen historischen Zusammenhang und Schlussfolgerungen, die besser in den Kalten Krieg als zu diesem Tag gepasst hätten, auch wenn einzelne Passagen der Rede vernünftig, akzeptabel klingen. Die Richtung insgesamt stimmte aber nicht.

„Tag der Befreiung“ war die Botschaft des Bundespräsidenten von Weizsäcker 1985. Die Frage, die ich mir und anderen im Vorfeld des 70. Jahrestages der Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus gestellt hatte, was wird die Botschaft der Bundesregierung und des Bundestags 2015 sein, ist nun beantwortet. Doch die Würdigung eines „langen Weges gen Westen“ ist zu wenig und aus meiner Sicht ungeeignet, die Probleme unserer Zeit zu lösen.

Enttäuscht und zornig grüßt

Wolfgang Gehrcke