Antisowjetismus und Ultranationalismus als Kit für zerfallende Gesellschaft

Ukraine "dekommunisiert" sich mit Gesetzen der Zerstörung
21.05.2015
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Wer die Hymne der russischen Föderation, das ist die Melodie der sowjetischen Hymne mit neuem Text, abspielt, kann jetzt in der Ukraine mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug bestraft werden. Ob bereits das Summen geahndet wird, ist bislang nicht bekannt. Aber wer den „kriminellen Charakter der totalitären kommunistischen und nationalsozialistischen Regime“ öffentlich leugnet, riskiert Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren. Mit einem Gesetzespakt treibt das Kiewer Regime jetzt seine „Dekommunisierung“ voran. Und wenn der Begriff des „sich neu Erfindens“ jemals auf etwas zutraf, dann auf das, was Präsident Poroschenko und die Konzern-Oligarchen mit diesen Gesetzen erreichen wollen: Eine erfundene Ukraine.

Seit Mitte Mai gelten die vier Gesetze mit den Titeln: „Über die Verurteilung des kommunistischen und des national-sozialistischen Regimes in der Ukraine und über das Verbot der Propagierung ihrer Symbole“, „Über den rechtlichen Status und das Gedenken an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“, „Über den Zugriff auf die Archive der Repressionsorgane des kommunistischen totalitären Regimes 1917/1991“ und „Über das Verewigen des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg 1939/1945“.

Die Gesetze „verurteilen“ die gesamte sowjetische Geschichte der Ukraine. Dabei hatte der ukrainische sowjetische Unionsstaat zu den Gründungsmitgliedern der UNO. Ab 1991 war er Ausgangsbasis für den neuen kapitalistischen Staat Ukraine. Dem Umsturz der Eigentums- und Produktionsverhältnisse folgte die Umwälzung des Geschichtsbildes. Offenbar halten die Kiewer Machthaber die Zeit für gekommen, das ukrainische geschichtliche Nationalbewusstsein vollständig ultranationalistisch zu prägen. Dieses richtet sich gegen andere Ethnien, gegen demokratische Auffassungen vom Nationalstaat, gegen eine allseitige kritische Geschichtsbetrachtung, gegen eine antikapitalistische Perspektive und insbesondere gegen Kommunisten. Kurz: Der gesetzlich verordnete Geschichtsrevisionismus in der Ukraine ist der ideologische Überbau zur Herrschaft der Konzern-Oligarchen.

Die Hetzjagd auf „Kommunistisches“ schließt ein: Symbole, Flaggen, Denkmäler und Gedenktafeln, Firmennamen, Hymnen… Der Kiewer Stadtrat arbeitet per Beschluss längst daran, bis zum „Unabhängigkeitstag“ am 24. August dieses Jahres von allen Bauwerken im Eigentum der Stadt und in der U-Bahn die sowjetischen Symbole zu entfernen. Nur von diesen ist die Rede, denn Nazi-Symbole erbte die heutige Ukraine nicht aus der Sowjetunion.

Die Hetzjagd ist nicht nur Schleifung baulicher Zeugen der Geschichte, sie befeuert die gesellschaftlichen Gegensätze, sie öffnet polizeilicher Willkür Tür und Tor und die Zensur behindert einen offenen demokratischen Dialog. Aus Sorge um diese Wirkungen der Gesetze hatten sich vor deren Inkrafttreten Wissenschaftler, Kulturschaffende und Juristen öffentlich kritisch geäußert, doch der Präsident setzte die Gesetze in Kraft.

Ein Motiv für diese Gesetze ist die Absicht, mit Hilfe des Antisowjetismus und Ultranationalismus die zerfallende ukrainische Gesellschaft ideologisch zu kitten. Die Wirtschaft stürzt weiter ab, im ersten Quartal sank das Bruttoinlandsprodukt im Vergleichszeitraum zum Vorjahr um etwa 17 Prozent. Der Geldwert zerfällt, die Massenkaufkraft sinkt rapide. Bergarbeiter aus dem Westen des Landes protestieren und fordern die Auszahlung ihrer Löhne, die ihnen seit längerem vorenthalten wurden. Die Mehrzahl der Kohlegruben des Landes liegt still. Die zahlreiche Belegschaft eines großen Rüstungsbetriebs wird auf Monate in den Zwangsurlaub geschickt, ohne Lohnzahlung. Viele Familien können die Wohnungsmiete nicht mehr zahlen.

In dieser wirtschaftlich verfallenden Bürgerkriegsgesellschaft braucht es kriegerische Helden. Helden, wie die Kämpfer der Freiwilligenbataillone, der Nationalgarde, kämpfende Soldaten, Helden, wie sie jetzt von amerikanischen und britischen Profi-Helden ausgebildet werden. Ihre Vorbilder sollen die „Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“ sein. Diese Kämpfer waren im 1. Weltkrieg mit der Reichswehr verbunden und führten einen grausamen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki. In der Zwischenkriegszeit bildeten sie nach dem Vorbild des italienischen Faschismus und unter Einfluss der NSDAP eine eigene faschistische Partei mit einem militärischen Arm, die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und die „Ukrainische Aufstandsarmee“ (UPA). In deren programmatischen Schriften und „Befehlen“ finden sich alle Grundelemente des Faschismus: „Volksgemeinschaft“ und „Nation“ als höchste Werte, dafür jederzeit sein Leben geben („Blut und Boden“); Feindschaft gegen andere Ethnien, insbesondere Feindschaft gegen Juden; gegen parlamentarische Demokratie; Antikommunismus u.a. Die OUN/UPA unter Führung von Bandera verbündete sich mit dem deutschen Faschismus, woran auch ein zeitweiliges Zerwürfnis wegen der ukrainischen nationalen Frage nichts änderte. Die OUN/UPA, Bandera und seine Kämpfer sind für unzählige, viele zehntausende Tote verantwortlich, für Massenmorde an Polen, Juden und Russen.

Das Gedenken an diese „Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine“ ist nun in die assoziierte Gemeinschaft EU-Ukraine eingebracht worden. Als 2010 der damalige ukrainische Präsident Viktor Luschtschenko den höchsten Titel „Held der Ukraine“ an Bandera verlieh, ging eine Welle der Empörung durchs Land und andere europäische Staaten. Das Europa-Parlament verabschiedete eine Protestresolution. Unter der Präsidentschaft von Janukowitsch entschied ein ukrainisches Gericht auf Annullierung der Titelverleihung.

Welche Antworten finden jetzt diese ukrainischen geschichtsrevisionistischen Positionen?

ran