Zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie

25.04.2006
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Prof. Wolfgang Abendroth, Wissenschaftler, Revolutionär und marxistischer Theoretiker zum 100. Geburtstag
Ohne Abendroth ist die Herausbildung einer unabhängigen Neuen Linken in der Bundesrepublik undenkbar. Mit seiner Arbeit als Hochschullehrer für politische Wissenschaft hat er unzählige Studenten, Lehrer, Gewerkschafter an die Grundlagen marxistischen Denkens herangeführt. Die großen außerparlamentarischen Bewegungen der Bundesrepublik – Friedensbewegung, Kampf gegen die Notstandsgesetze, Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, die Studentenbewegung – sind indirekt und auch direkt von ihm mit beeinflusst worden. Seine Arbeiten zur Verfassung und zur Arbeiterbewegung sind für die Linke und weit darüber hinaus von großer Bedeutung. Es ist für die Linke hohe Zeit, Prof. Abendroth neu und wieder zu entdecken. Die neue Linke verfügt nicht über viele geschichtliche Persönlichkeiten vom Format Abendroths, die identitätsstiftend sein könnten.


Es ist mehr als nur die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Menschen, liebenswürdig, freundlich, hilfsbereit; an einen unerhört gebildeten Menschen mit großen politischen und persönlichen Lebenserfahrungen, die er freigiebig weitergab. Abendroth war ein Mensch, der trotz aller bitteren Niederlagen nicht resignierte, der sich nicht fürchtete, aus einer Minderheitenposition – und in der befand er sich sein Leben lang – zu agieren; der die Einheit der antikapitalistischen Kräfte und Bewegungen suchte, keinerlei Berührungsängste hatte und großzügige Toleranz Andersdenkenden entgegenbrachte; und der doch unkorrumpierbar und kompromisslos war in der entscheidenden Frage: Wie hältst du es mit dem Kapitalismus? 

Wenn von einem Vermächtnis gesprochen werden soll, das er uns „Nachgeborenen“ hinterließ, dann besteht dieses auch in seiner „Verfassungstheorie“. Ein spröder Begriff. Kaum vorstellbar, dass er mit lebendiger, die gegebenen Machtverhältnisse verändernde, gar umwälzende Politik zu tun haben könnte. Doch genau darauf wird abgezielt. 

Im Mittelpunkt dieser Verfassungstheorie steht – grob gesagt - die Erkenntnis:

Die demokratischen Verfassungsrechte sind das Ergebnis von Klassenkämpfen, vor allem der Arbeiterbewegung. Sie entstehen als Kompromiss zwischen den Klassen und markieren die „Waffenstillstandslinie“ der divergierenden gesellschaftlichen Kräfte zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Auf diesem Territorium findet der Klassenkampf statt, in der Bundesrepublik Deutschland zumeist von Oben. 

In Krisenzeiten, so Abendroths historischen Erfahrungen, versucht das monopolkapitalistische Herrschaftssystem, demokratische Rechte zumindest abzubauen oder gänzlich zu liquidieren. Das gelingt umso leichter, wenn die formale Demokratie nicht in sozialer Demokratie verankert ist. 

Für die andere Seite, die der Arbeiterbewegung und sozialen Bewegungen, bietet die demokratische Verfassung die Voraussetzung, durch politischen Kampf die soziale Demokratie zu erweitern. Indem sie ihre demokratischen Teilhaberechte in allen Sphären der Gesellschaft, auch der wirtschaftlichen, erkämpfen und wahrnehmen. Das Grundgesetz ist offen und muss offen gehalten werden für gesellschaftliche Veränderungen, ist wirtschaftspolitisch neutral und lässt prinzipiell einen politischen Weg zum Sozialismus zu. Ein anderer Weg, so Abendroths Überzeugung, würde den Weltfrieden gefährden. Diese Transformation ist aber erst möglich, „wenn die Massen deren Notwendigkeit eingesehen und zu ihrer eigenen Sache gemacht haben“. 

Abendroth bezieht sich in seiner Antwort auf diese entscheidende Frage auf Marx. Der hatte analysiert, dass das die gesamte Gesellschaft durchdringende Kapitalverhältnis nicht nur die abhängig Beschäftigten von den Ergebnissen ihrer Arbeit entfremdet, sondern dass die von den Menschen hervorgebrachten Produkte, gesellschaftlichen Organisationen und Ideen dem Kapitalverhältnis unterworfen werden, im Interesse und zur Mystifizierung der Herrschaft der Mächtigen. Abendroths Schlussfolgerung: 

„Solange diese Lage besteht, wird also die Aufgabe bestehen bleiben, den Menschen dadurch zum Herren seiner eigenen Geschichte zu machen, dass er diese Entfremdungs- und Verdinglichungserscheinungen erkennt und auflöst. Das ist jedoch das Grundproblem marxistischen Denkens …“ 

Als Kind hat er den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution und die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts mit wachem Blick wahrgenommen, geschärft durch die Diskussionen in seiner politisch aktiven, sozialdemokratischen Familie. Als Jugendlicher trat er dem Kommunistischen Jugendverband bei. Seitdem hat er die Entwicklung der Politik innerhalb der Arbeiterbewegung mitgeprägt – in KPD, KPO, SPD, den Gewerkschaften und schließlich, nach dem Ausschluss aus der SPD 1961, parteilos in der Neuen Linken; lehrend und lernend, schreibend, diskutierend, sachlich kritisierend und von Herzen polemisierend, als antifaschistischer Widerstandskämpfer, als Häftling der Nazis, als „Überläufer“ zum griechischen Widerstand, als Kriegsgefangener der Engländer und Lehrer in einer ägyptischen „Wüstenuniversität“, als Pädagoge, Hochschullehrer, Jurist, Richter, Wissenschaftler, Berater. 

Das Erwachen der Kolonialvölker und den Zusammenbruch des Kolonialsystems hat er miterlebt und mit großer Sympathie und Hoffnung begleitet. Die Niederlagen der Arbeiterbewegung durch den Sieg des Faschismus hat er buchstäblich am eigenen Leib erfahren wie auch den Niedergang marxistischen Denkens im Kalten Krieg: Antikommunismus auf der einen Seite, auf der anderen Stalinismus und Dogmatismus, vor dessen Zugriff er 1948 aus der sowjetischen Besatzungszone floh. 

In Abendroths Verfassungstheorie flossen nicht nur seine wissenschaftlichen Studien, sondern alle diese Lebens- und Kampferfahrungen als Revolutionär 
ein.

Linke Politik hat an solchen grundsätzlichen Erkenntnissen anzusetzen: bei der unverzichtbaren politischen Bildungsarbeit, bei der Bestimmung 
tagespolitischer Nahziele, die sich auf das gesellschaftspolitisches Fernziel, den Sozialismus, zu beziehen haben. In den Auseinandersetzungen darüber, wie das zu erreichen ist, „werden sich dann immer wieder Denkanstöße in Richtung auf Wiederentwicklung von Klassenbewusstsein“ entwickeln. An dieser optimistischen Überzeugung Abendroths soll festgehalten werden.