Sondersitzung des Deutschen Bundestages zum Lissabon-Vertrag

27.08.2009
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In der Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 26. August haben die Fraktionen von CDU-SPD-FDP-Grüne ein neues Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag beschlossen. Der Hintergrund: Das Bundesverfassungsgericht hat das ursprüngliche Begleitgesetzt zum Lissabon-Vertrag zu Fall gebracht. Ein anderes Gesetz musste her. Vier Bundestagsfraktionen haben sich auf einen Text verständigt. Die Linke ist draußen. Wir wollen eine Änderung des Grundgesetzes, damit Volksabstimmungen endlich möglich werden - nicht nur, aber auch zu Europafragen.

In der Sondersitzung wurde das alte Spiel neu auf die Bühne gebracht: Der Kläger in Karlsruhe wird nicht belobigt, sondern als europafeindlich diffamiert. Besonders SPD und Grüne gefallen sich in diesem Gestus. Warum wird jede Kritik, auch grundsätzliche Kritik, an der EU als europafeindlich diffamiert?

 

Zum Vorwurf der Europafeindlichkeit

SPD und Grüne, stern und focus, Berliner Zeitung und FAZ sehen in der LINKEN europafeindliche Fundamentalisten und europafreundliche Realpolitiker miteinander im Streit. Die SPD präsentiert zusätzlich die ehemalige stellvertretende PDS-Vorsitzende und langjährige Europaabgeordnete, Sylvia-Yvonne Kaufmann als Kronzeugin für die Europafeindlichkeit der LINKEN. Die Delegierten des Europaparteitages der LINKEN hatten zuvor im Januar 2009 Sylvia-Yvonne nicht mehr auf einen sicheren Listenplatz gewählt.

Die LINKE ist EU-kritisch und das mit guten Argumenten. Wir wollen ein anderes Europa: ein demokratischeres Europa, ein sozialeres, ein friedlicheres und ein offeneres Europa. Aber unsere Kritik an Europa wird als europafeindlich diffamiert, so einfach lässt sich linke Kritik entsorgen. Wie früher zu Kaiser Wilhelms Zeiten, als die Sozialdemokraten als vaterlandslose Gesellen beschimpft wurden, weil sie gegen die Kriegsvorbereitungen des deutschen Staates waren.

Ein demokratisches Europa beginnt mit einer europäischen Verfassung, die die europäischen Bürgerinnen und Bürgern sich selbst geben. Das heißt mindestens, dass sie in Volksabstimmungen abgestimmt wird. Das heißt mindestens, dass der Entwurf für diese Verfassung in einem Konvent erarbeitet wird, in dem alle Regionen und gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind. In dem Frauen nicht eine Minderheit sind, sondern die Hälfte der Mitglieder, in der auch Jugendliche und Studierende, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung vertreten sind. Das heißt aber auch, dass es eine Phase für eine europaweite Diskussion des Dokuments geben muss. An dieser Diskussion müssen sich alle Europäerinnen und Europäer beteiligen können. Da europäische Politik auch weltweite Auswirkungen hat, würde ich sogar noch weitergehen und auf Diskussionsbeiträge von Menschen außerhalb Europas Wert legen.

Wir wollen ein Europäisches Parlament, das die europäische Regierung und die Kommission wählen kann. Bislang darf das Parlament nur die von den Staats- und Regierungschefs ausgehandelten Personen bestätigen! Wir wollen, dass das Parlament das Recht erhält, Gesetzesinitiativen einzubringen - wie das auch der Bundestag kann. Und wir wollen nicht zuletzt ein Parlament, das für alle Säulen der Europäischen Union zuständig ist, auch die Agrarpolitik und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Bisher muss das Parlament dazu gar nicht gehört werden, dabei gehen 40 Prozent des EU-Etats in die Agrarpolitik. Würde das umgesetzt, dann wäre Europa nicht nur demokratischer, sondern auch europäischer.

Wir sind dagegen, dass in dem Vertrag von Lissabon genau jene Wirtschaftspolitik fest geschrieben werden soll, die weltweit gerade so grandios scheitert. Gescheitert ist die Politik der Liberalisierung der Finanzmärkte, wie sie der Rat und die Kommission der Europäischen Union durchgesetzt haben. Gescheitert ist die Politik der Deregulierung der Arbeitsmärkte, die Privatisierung der sozialen Sicherheit und der Daseinsvorsorge.

Die gegenwärtige europäische Wirtschaftspolitik quasi in den Verfassungsrang zu heben, ist genau so ein Verbrechen gegen zukünftige Generationen wie die Schuldenbremse im Grundgesetz. Zukünftige Generationen müssen selbst entscheiden können, welche Wirtschaftspolitik und welche Wirtschaftsform sie wollen. Wer das ausschließen will, schließt Demokratie aus.

Wir sind für ein sozialeres Europa. Wir sind dagegen, dass soziale Standards für den freien Wettbewerb und die sog. Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands richtet gerade den eigenen Binnenmarkt zugrunde. Wir sind für eine Politik, die das Ziel hat, gleiche soziale Standards in ganz Europa auf hohem Niveau anzustreben. Und wir sind gegen eine Politik, die Sozialdumping begünstigt, wie das die gegenwärtige EU-Politik tut.

Wir sind dafür, dass in einer europäischen Verfassung ein Sozialstaatsgebot wie im Grundgesetz verankert wird und die sozialen Grundrechte der Vereinten Nationen übernommen werden. Wir sind dagegen, dass die EU die Grundrechtscharta der Vereinten Nationen nur im Rahmen der Europäischen Verträge anerkennen will. Die Grundrechtscharta inklusive der sozialen Rechte muss bedingungslos anerkannt werden.

Eine Mehrheit der europäischen Regierungen befürwortet den Irak-Krieg und ist daran beteiligt. Aber dieser Krieg ist ein völkerrechtswidriger Krieg. Wir sind für ein friedliches Europa. Wir treten ein für die Auflösung der NATO und für eine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik, ein kollektives, gesamteuropäisches System der Sicherheit unter dem Dach der OSZE und der UNO. Grundlage muss der vollständige Verzicht auf Nuklearwaffen und nukleare Teilhabe sein. Und: Wir bekämpfen das Aufrüstungsgebot des Vertrags von Lissabon, der die einzige verfassungsrechtliche Regelung in der Welt wäre, die zur Aufrüstung verpflichtet. Auch deshalb sind wir gegen den Vertrag von Lissabon. Diese militärpolitische Strategie ist – und das kommt hinzu – Ausdruck einer europäischen Außenpolitik, die auf Sicherung „unserer“ Märkte und „unserer“ Rohstoffe ausgerichtet ist, die ja gar nicht uns gehören, sondern in anderen souveränen Staaten liegen. Diese Politik der Dominanz über andere Interessen wird mit politischen und wirtschaftlichen Druckmitteln ausgeübt, aber die Diskussion geht in bestimmten Zirkeln schon in die Richtung militärischer Dominanz. Die deutsche Regierung spielt dabei eine wesentliche und vorwärts treibende Rolle. Dieser Politik gilt es Einhalt zu gebieten. Dafür gehen wir mit Tausenden gemeinsam auf die Strasse und dafür kämpfen wir im parlamentarischen Raum.

Wir sind nicht zuletzt für ein offeneres Europa. Wir finden uns nicht damit ab, dass die EU ihre Außengrenzen abriegelt und Menschen, die auf Nussschalen die EU erreichen wollen, im Mittelmeer zu Tausenden ertrinken und es zu einem Meer des Todes machen. Es sind jene Menschen, die am stärksten unter dem globalen Wirtschafts- und Finanzsystem leiden, für das die herrschende europäische Politik eintritt. Freizügigkeit, die gerne gegenüber den Ländern des realen Sozialismus gefordert wurde, wird nun viel radikaler von den EU-Staaten unterbunden. Tote an der Grenze zwischen BRD und DDR wurden im Kalten Krieg dazu benutzt, die DDR ein Unrechtssystem zu nennen. An den Grenzen der EU sterben jährlich mehr Menschen als je an der DDR-Grenze. Das macht die DDR im Rückblick nicht besser, sagt aber Schlimmes über das Rechtssystem Europas aus.

Unsere Kritik der europäischen Politik bezieht sich nicht nur auf die europäischen Institutionen wie die Kommission und den Rat, wir kritisieren auch die europäische Politik der anderen Parteien und der Bundesregierung. Und was wären wir für eine Opposition, wenn wir uns das verbieten lassen wollten? Unsere Kritik ist nicht populistisch; sie basiert auf einer sehr gründlichen Analyse, die uns beispielsweise zeigt, wie eng die europäischen Institutionen in der Klammer der Lobbyisten der großen Konzerne und Finanzinstitute stecken. Der „Roundtable of European Industrialists“ ist mächtiger als alle kleinen EU-Staaten zusammen genommen. Er diktiert der Kommission die Politik in die Feder, bis dahin, dass die Gesetzesinitiativen formuliert werden von „befreundeten“ Beratungsagenturen.

Die herrschende europäische Politik ist gegenwärtig nicht in der Lage, die wesentlichen Herausforderungen zu meistern: weder die ökologische Krise mit ihren katastrophalen Klimafolgen noch die Armutskrise und die Hungerkrise im globalen Süden, für die wir auch wegen der EU-Außenhandelspolitik mit verantwortlich sind; nicht die Krise der Erwerbsarbeit und nicht die soziale und demografische Krise und auch nicht die globale Wirtschafts- und Finanzkrise.

Europa braucht keine Abnicker und Ja-Sager, Europa braucht kritische Menschen, die sich einmischen. Diese Menschen wollen wir unterstützen.