Besuch aus Chile

09.02.2012
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Eine Delegation aus der jungen chilenischen Protestbewegung - Camila, Karol und Jorge

... heute in der Fraktion: eine Delegation aus der jungen chilenischen Protestbewegung - Camila, Karol und Jorge

„Die Menschen begreifen, dass sie nicht nur Konsumenten sind, sondern Rechte haben, die sie in dieser politischen Ordnung nicht wahrnehmen können“, berichtete Camila beim Treffen mit der Linksfraktion, und Karol ergänzte: „Das Bewusstsein der Menschen hat sich gewandelt. Diese Bewusstseinsveränderung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch nicht mit Repression.“
Der chilenische Bildungsprotest, der im vergangenen Jahr hunderttausende SchülerInnen und Studierende mobilisiert hatte, ist zu einer breiten sozialen Bewegung geworden, der sich ArbeiterInnen, indigene AktivistInnen und andere Gruppen angeschlossen haben. Sie alle haben erkannt: Ihre Probleme sind keine Einzelfälle, sondern haben eine gemeinsame Ursache: das neoliberale Wirtschaftssystem. Sie fordern: freien Zugang zu Bildung für alle, eine Reform des Wahlsystems, ein gerechtes Steuersystem und eine neue Verfassung anstelle der jetzigen, die aus der Zeit der Diktatur stammt. „Das ist noch nicht unbedingt revolutionär“, meinte Karol, „aber unsere Forderungen zielen auf die tiefgreifende Transformation des Wirtschaftsmodells“. mehr Bilder hier

Sozialer Protest in Chile

Camila, Karol und Jorge, drei AktivistInnen der chilenischen Protestbewegung, besuchen die Linksfraktion

Ihr Besuch in Deutschland und Europa stieß auf großen Widerhall, sie redeten vor vollen Sälen in Gewerkschaftshäusern und an Universitäten. Die Medien rissen sich um sie: die chilenischen AktivistInnen Camila Vallejo, Karol Cariola und Jorge Murúa. Camila ist die Vize-Präsidentin der Studentenvereinigung der Universität von Chile (FeCh), Karol die Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend Chiles, Jorge gehört der Leitung der Metallarbeitergewerkschaft CONSTRAMET sowie des Gewerkschaftsdachverbandes CUT an. Seit zwei Wochen sind sie auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Europa. An ihrem letzten Besuchstag trafen sie mit der Parteivorsitzenden der LINKEN, Gesine Lötzsch, und weiteren Abgeordneten der Linksfraktion zusammen, um über die erfolgreiche Protestbewegung in ihrem Land zu berichten.

Bis zu 1,5 Millionen Menschen sind im letzten Jahr auf die Straße gegangen, um gegen Privatisierung und für freien Zugang zu Bildung zu demonstrieren. 60 bis 80 Prozent der ChilenInnen unterstützen mittlerweile die Forderungen der Protestbewegung, 2 Millionen beteiligten sich an einer unterstützenden online-Petition. „Die Menschen begreifen, dass sie nicht nur Konsumenten sind, sondern Rechte haben, die sie in dieser politischen Ordnung nicht wahrnehmen können“, berichtete Camila beim Treffen mit der Linksfraktion, und Karol ergänzte: „Das Bewusstsein der Menschen hat sich gewandelt. Diese Bewusstseinsveränderung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch nicht mit Repression.“

Der chilenische Bildungsprotest, der im vergangenen Jahr hunderttausende SchülerInnen und Studierende mobilisiert hatte, ist zu einer breiten sozialen Bewegung geworden, der sich ArbeiterInnen, indigene AktivistInnen und andere Gruppen angeschlossen haben. Sie alle haben erkannt: Ihre Probleme sind keine Einzelfälle, sondern haben eine gemeinsame Ursache: das neoliberale Wirtschaftssystem. Sie fordern: freien Zugang zu Bildung für alle, eine Reform des Wahlsystems, ein gerechtes Steuersystem und eine neue Verfassung anstelle der jetzigen, die aus der Zeit der Diktatur stammt. „Das ist noch nicht unbedingt revolutionär“, meinte Karol, „aber unsere Forderungen zielen auf die tiefgreifende Transformation des Wirtschaftsmodells“.

Chile war das neoliberale Modell-Land schlecht hin. Der Neoliberalismus kam dort nicht schleichend, er wurde gewaltsam und abrupt eingeführt: nach dem Militärputsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973, unter der Diktatur des Generals Pinochet. Die Pinochet-Herrschaft dauerte bis 1988. Damals wurden tausende linke Oppositionelle umgebracht oder verschwanden. Gesine Lötzsch erinnerte in ihrer Begrüßung daran und auch an die Verbindung zwischen Deutschen und ChilenInnen, die in der damaligen Solidaritätsarbeit mit dem chilenischen Widerstand gewachsen ist und bis heute für viele Linke eine prägende Erfahrung darstellt. Das bestätigte auch Heike Hänsel, die entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, die in den 80er Jahren Chile besucht und linke Oppositionelle getroffen hatte. Deren Mut habe sie nachhaltig beeindruckt. Wolfgang Gehrcke, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Fraktion, erinnerte in diesem Zusammenhang an die 2005 verstorbene Generalsekretärin der Kommunistischen Partei, Gladis Marin. Diese Menschen, ihre Ziele, ihr Mut leben heute weiter in den jungen AktivistInnen wie Camila, Karol und Jorge.

Mit ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Jugend gehen die drei offen um, auch wenn sie dafür angegriffen werden. „Wir wollen die Bewegung nicht für eine Partei instrumentalisieren, sondern die Partei in den Dienst der Sache stellen“, sagte Jorge: „Wir streben nach der Einheit aller fortschrittlichen Kräfte und nach einer Mehrheit für die gesellschaftliche Veränderung in Chile.“

Das große Interesse an ihrem Besuch in Europa zeigt, dass auch hier die Sehnsucht nach Veränderung und das Potenzial von Widerstand gegen die neoliberale Politik groß sind. Die hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion, Nicole Gohlke, erinnerte an die großen Studierenden- und Schülerproteste in Deutschland 2009 und den Slogan „Bildung ist keine Ware“. DIE LINKE kann von den chilenischen Erfahrungen lernen, wie es gelingen kann, Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik in Begeisterung für gesellschaftliche Veränderung umzuwandeln und dafür viele Menschen zu gewinnen. Diese Hoffnung drückte die Parteivorsitzende Gesine Lötzsch aus.

Alexander King, Referent für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Fraktion DIE LINKE im Bundestag