Ça ira Nr. 92: Von Schuld und Würde - Deutschland und Griechenland (6.2.2015)

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Von Schuld und Würde - Deutschland und Griechenland

Die Europäische Union will Griechenland in die Knie zwingen. Vor diesem Hintergrund möchten wir an einige Tatsachen aus der Geschichte erinnern.

Direkt von seiner Vereidigung fuhr Alexis Tsipras, nun Ministerpräsident, zum Mahnmal für die Opfer des deutschen Faschismus in Kaisariani. Nach Jahrzehnten neoliberaler Ausplünderung, nach der grausamen Militärdiktatur 1967-74, nach Einordnung in das „westliche Bündnis“ unter Federführung der NATO stellte Tsipras mit dieser Geste seine Regierung in die demokratisch-antifaschistischen Traditionen von Aufbegehren und Widerstand. Deutlicher hätte der Kulturbruch mit den militant-antikommunistischen und korrupten Eliten der alten Regimes nicht ausfallen können. Doch deutschen Leitmedien fällt nichts Dümmeres ein, als das als Drohgeste gegen Merkel zu deuten. So kleingeistig kann nur denken, wer von Schuld und Würde nichts, aber auch gar nichts begriffen hat!

Das überaus harte Besatzungsregime der deutschen Wehrmacht 1941 bis November 1944 bedeutet für die Griechinnen und Griechen: allgegenwärtiger Terror, grausamste sogenannte Vergeltungsaktionen, ökonomische Ausplünderung, Vernichtung des größten Teils der jüdischen Bevölkerung; Verfolgung, Hunger und Not kosteten 15 Prozent der griechischen Bevölkerung das Leben. Mit einer Zwangsanleihe musste Griechenland seine eigene Besatzung bezahlen.

Diese Verbrechen werden hierzulande totgeschwiegen, rechtlich blieben sie folgenlos, finanziell sollte eine Einmalzahlung von 115 Millionen DM 1961 reichen, um sich eine Entschuldigung sparen zu können.

Zwangsanleihe, Reparationen und Entschädigungen zusammen summieren sich heute auf einen dreistelligen Milliardenbetrag, den Deutschland Griechenland schuldet. Daran zu erinnern, gilt heute als berechnend und tendenziell deutschenfeindlich. Dabei ist es das Vergessen und Verschweigen, was die Opfer andauernd demütigt und sie in die Position von Nörglern und Bittstellern bringt. Das ist menschenfeindlich und damit auch deutschenfeindlich.

Die Bundesregierungen haben sich bislang ihrer Verantwortung entziehen können mit der These: Als Staat genieße Deutschland Immunität gegenüber Forderungen nach Entschädigung aus der NS-Zeit. Diese Kapitulation des Rechts vor der Macht hat Ende letzten Jahres das italienische Verfassungsgericht aufgehoben und zugunsten der Kläger aus dem griechischen Distomo entschieden, einem der Orte grausamster Massaker der deutschen Besatzer. Ihnen, den Opfern und den Widerstehenden gehört unsere Solidarität. Sie werden sie dringend brauchen, denn schon wird die Öffentlichkeit immunisiert gegen jegliche finanziellen Forderung aus südeuropäischen Ländern, gleich, ob es sich um Reparationen, Entschädigungen, das rechtmäßige Eintreiben von Schulden handelt – oder um einen Schuldenschnitt, wie immer er dann genannt wird.

Auch in diesem Fall geht es lediglich darum, Griechenland ähnliche Bedingungen einzuräumen wie Deutschland nach dem II. Weltkrieg, als 1953 auf der Londoner Schuldenkonferenz 21 westliche Staaten der Bundesrepublik 22,4 Milliarden Mark Auslandsschulden erlassen haben. Die restlichen 7,4 Milliarden konnten mit niedrigen Zinsen in langen Fristen gezahlt werden. Die letzte Rate war 1988 fällig, die letzte Zinszahlung am 03. Oktober 1990.

Tipps zum Weiterlesen: Website des AK Distomo

Kostenloser Download aus dem Schwarzbuch der Besatzung von Manolis Glezos hier

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Alte Vorwürfe und die neue griechische Regierung

Griechenland hat gewählt und eine Regierung unter der Führung der linken Syriza an die Macht gebracht. Es ist Ministerpräsident Tsipras nach der Amtsübernahme in wenigen Tagen gelungen, die europäische Austeritätspolitik unter Druck zu setzen; er hat die Hoffnungen vieler Menschen in Europa geweckt, die neoliberale Politik zurückzudrängen, die vornehmlich von der Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel im Interesse der großen deutschen Konzerne und der Banken betrieben wird.
Gegen die Hoffnungen, die Tsipras und die neue griechische Regierung verkörpern, hat sich eine unheilige Allianz von Elitenpolitikern, den bürgerlichen Leitmedien sowie der agitatorischen Presse in der Gestalt der Bild-Zeitung gebildet.
Dabei wird munter verleumdet, gelogen und es werden Zitate aus den Zusammenhängen gerissen. Der jüngste Vorwurf an die griechische Seite lautet, sie sei judenfeindlich. So kam die Springerzeitung Die Welt mit der Überschrift raus: „So judenfeindlich sind Tsipras und seine Leute“. Hintergrund sind kritische Aussagen der führenden Politiker von Syriza, Tsipras und des neuen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, über die Politik der rechten israelischen Regierung, die sich weigert, Frieden mit den Palästinensern zu schließen. Tatsächlich sind Tsipras und Varoufakis enge Freunde der israelischen Linken und der israelischen Friedensbewegung. Zur Rede gestellt, sagte Thomas Weber, der Autor des besagten Artikels, er wollte bloß den Antizionismus der Tsipras-Leute herausstellen. So wird angeblicher Antizionismus einfach mal zu Antisemitismus und eigentlich ist das auch egal, Hauptsache es richtet sich gegen Syriza.

Diese Hetze steht allerdings im völligen Kontrast zu dem Empfinden der griechischen Juden gegenüber der neuen griechischen Regierung. In einem Interview der Jüdischen Allgemeine vom 29.01.2015 sagte Moses Constantinis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Griechenland, über Griechenlands neue Regierung unter Führung der Linken: „Wir vertrauen Syriza“. „KIS, der Zentralrat der Juden in Griechenland, unterstützt alles, was zum Fortschritt des Landes beiträgt. Daher haben wir nun auch Vertrauen in die neue Regierung“. Außerdem ist er auch sehr zuversichtlich, dass Syriza in der Lage sein wird, im Friedensprozess im Nahen Osten eine positive Rolle zu spielen.

Und danach gefragt, was die jüdische Gemeinde von Deutschland und von der Europäischen Union erwartet, sagte Moses Constantinis: „Wir hoffen auf einen Kompromiss, damit die Leiden des griechischen Volkes gelindert werden. Wenn wir die Wiederauferstehung des Nazismus verhindern wollen, müssen wir gemeinsam gute Lösungen finden“. 

An anderer Stelle schreiben die Leitmedien voneinander ab, statt zu recherchieren. Es geht um den markanten Satz, der dem Vorsitzenden des Syriza-Koalitionspartners ANEL, Kammenos, in den Mund gelegt wird und der da lauten soll: „Juden müssen keine Steuern zahlen“. Und das bringen dann Die Welt ebenso wie die FAZ, der Tagesspiegel oder der Spiegel. Allein: Es ist so nie gesagt worden. Tatsächlich hat Kammenos in Auseinandersetzung mit dem damaligen griechischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der NEA Dimokratia, der Konservativen Partei, von der sich ANEL abgespalten hat, in einem Interview gesagt: „Samaras beruft sich auf die orthodoxe Kirche, aber seine Regierung hat die schärfsten Entscheidungen gegen die griechische Kirche getroffen: die Feuerbestattung wurde erlaubt, auch die Verpartnerung von Homosexuellen und die Steuerpflicht für die orthodoxe Kirche eingeführt. Während Buddhisten, Juden und Muslime keine Steuern zahlen müssen, muss die orthodoxe Kirche das und wird sich bald ihre Klöster nicht mehr leisten können“. Bei dieser Aussage handelt es sich also nicht um Individuen oder große Menschengruppen, sondern um Religionsgemeinschaften (und bezogen auf diese trifft sie übrigens nicht zu. Jüdische und christliche Religionsgemeinschaften müssen auch in Griechenland Steuern bezahlen). Sicherlich ist Kammenos Aussage zumindest grenzwertig, spielt sie doch mit dem Gegensatz von dem „Eigenen“ und dem „Anderen“, dem „Fremden“, aus dem Rassismus wachsen kann, wenn aus der Entgegensetzung Feindschaft wird. Und trotzdem ist seine Äußerung deutlich von der platten Stereotype unterschieden: Juden müssen keine Steuern zahlen! Warum fällt das niemandem auf? Warum überprüfen die Spitzen des deutschen Journalismus so etwas nicht? Weil sie die Notwendigkeit nicht sehen. Es passt so gut in ihr (Welt-) Bild von den angeblich “Rechts- und linkspopulistischen Parteien“, die sich in Griechenland quer zu allen Fronten verbrüdert hätten, dass alle von allen abschreiben und sich gegenseitig zur wahren Quelle werden.

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Der Stein zieht den Jahrhundertweg

 

Zum 100. Geburtstag der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger von Christiane Reymann

Heute wäre die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger 100 Jahre alt geworden. Sie ist seit fünf Jahren tot, doch ihre Werke, ihre Plastiken, ihre großen Ensembles aus Ton, Bronze oder Stein, sie sind geblieben. Sie erzählen nicht zuletzt die Geschichte ihrer Schöpferin als einer Frau, die ungeheuer vital, hellwach, mit großer Leidenschaft den Jahrhundertweg nach allen Seiten hin ausgeschritten ist. Geboren im Kaiserreich mitten im Krieg, aufgewachsen in der Weimarer Republik, ausgestoßen von Hitlerdeutschland, überlebt in Italien und im Hochschwarzwald, aus der Bundesrepublik in die DDR gegangen, mit der Wende wieder in den Westen zurückversetzt, spiegelt ihr Leben die jüngere deutsche Geschichte wie auch die andere, die allgemeine Geschichte von Aufbegehren und Widerstand.

Aufgewachsen in einer aufgeklärten intellektuellen, künstlerischen Berliner Familie, machen erst die Nazis eine „Halbjüdin“ aus ihr. Kommunistin wird sie aus eigenem Erleben und Antrieb. Sechzehnjährig wird sie „aus der Bahn der im Wohlstand Lebenden geworfen“, als sie hinab steigt in Kellerlöcher mit nur einem Bett für zwölf Menschen, die müssen abwechselnd schlafen. Und dann das Baby! Es liegt in einem Kinderwagen ohne Matratzen, ohne Kissen, ohne alles. „Seitdem“ schrieb sie 1991, „fand ich mich zugehörig zu den Vielen, die mit Theorien und Vorstellungen für die Zukunft auf eine konkrete, ökonomische, menschliche Gerechtigkeit hinlebten, daran arbeiteten und dafür zu Tausenden starben.“

Ingeborg, mit Mädchennamen: Franck, muss ihr Kunststudium abbrechen und erhält Berufsverbot. Sie flieht nach Italien, verbirgt sich später im Südschwarzwald. Die Zeit, in der andere Künstlerinnen, Künstler lernen und ihre Fähigkeiten erproben, verwendet Ingeborg Hunzinger auf ihr eigenes und das Überleben ihrer Kinder. Als der Krieg endlich vorbei ist, geht sie nach Berlin, Ostberlin, wird Meisterschülerin von Fritz Cremer und Gustav Seitz. Sie ist fast vierzig Jahre alt, als sie freischaffende Bildhauerin wird.

1959 wird die SED-Führung den Bitterfelder Weg beschließen und Künstlerinnen, Künstler mit Nachdruck in Betriebe und zu Arbeits- und Laienkollektiven schicken, um die „vorhandene Trennung von Kunst und Leben“ aufzuheben. Ingeborg Hunzinger geht diesen Weg früher und selbstbestimmt.

Eingezwängt in bürokratische Formen jedoch, geht der großen geistigen Idee ihrer Zeit der Atem aus; in ihrer staatlichen Form verliert sie ihre inspirierende und Menschen verbindende Kraft.

hier zum vollständigen Artikel aus der Jungen Welt

und ein Hinweis zu einer Ausstellung über Ingeborg Hunzinger
 

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Hilfe für die Kinder im Donezk

 

Besser ein eingefrorener Konflikt als ein heißer Krieg

Kurzintervention von Wolfgang Gehrcke zu Äußerungen des Abgeordneten Wilfried Lorenz (CDU/CSU) am 5.2.2015 in der Debatte zu den Anträgen der Grünen und der LINKEN im Kontext mit der Errichtung einer neuen Schnellen Eingreiftruppe der NATO

"Ich möchte dem Kollegen Lorenz eine Antwort nicht schuldig bleiben. Wenn Sie meine Erfahrungen zur Grundlage nehmen: Ich habe immer auf die Stärke der Menschen gebaut, auch dann, wenn sie eine andere Position hatten als ich. Ich war immer ein Freund von Wandel durch Annäherung. Ich habe ihn mir anders vorgestellt, aber man muss doch zugeben, dass ausschließlich Entspannungspolitik, die Bereitschaft, selbst abzurüsten - rhetorisch, politisch -, in Europa Veränderungen gebracht hat.

Ich möchte nicht, dass wir in den Kalten Krieg zurückfallen. Das würde ich unerträglich finden. Dazu gehört auch, gegenüber Russland in einer anderen Sprache zu sprechen, sich in einem anderen Verständnis zu nähern und zu argumentieren. Wenn man die Interessen auch der anderen Seite nicht in Rechnung stellt, wird man immer gegen die Wand laufen.

(hier zur vollständigen Kurzintervention)

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... was daraus folgte ...

zum Vorschlag von Wolfgang Gehrcke den russischen Präsidenten Putin zum Tag der Befreiung am 8. Mai 2015 in den Deutschen Bundestag einzuladen:

Das Internetportal der Telekom, t-online, hat den Vorschlag von Wolfgang Gehrcke aufgegriffen und eine online-Umfrage zu dem Thema gestartet. Bis heute haben an der Abstimmung 10475 User teilgenommen, die sich mit einer überwältigenden Mehrheit von 72,6 % oder 7600 Stimmen für den Vorschlag des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der LINKEN ausgesprochen haben. Es kann unter diesem Link weiter abgestimmt werden und hier auch noch eine kleine Auswahl an Kommentaren:

"Ich zähle mich zu den politischen Gegnern der Linken, deren Vorschlag aber, Putin in den Bundestag einzuladen, halte ich für eine sehr gute Idee." 

"Es ist gut, wenn man sich erinnert, dass tausende sowjetische Soldaten ihr Leben gelassen haben, um Deutschland vom Hitlerfaschismus zu befreien, es ist gut endlich einmal wieder würdig ihrer zu gedenken, denn ihre Mütter und Väter tragen heute noch das Leid in ihren Herzen und werden mit den Sanktionen von Deutschland bestraft......darüber sollte man einmal ernsthaft nachdenken." 

"Sicherlich hat das, was Herr Putin mit zuverantworten hat, nichts mit unseren Begriffen von Demokratie, Menschenrechten und -würde sowie Meinungsfreiheit zu tun. Aber das ist bei anderen Mächten und Ländern auch nicht der Fall. Also einladen zu Gesprächen, es muß ja nicht gleich der Bundestag sein, aber ohne irgendwelche Zeichen des Willens zur Annäherung geht es nicht."

 "Das ist eine gute Idee von den Linken, die versuchen wenigstens zu vereinigen...!!!! Und bei der Regierungskoalition ist die Ukraine so hoch im Kurs, das ihr jegliche Mobilmachung und Kriegstreiben verziehen wird...!! Komisch, vor Jahren stand in Deutschland die Ukraine auf keinen Programm...."

"Einladen sollte man ihn schon. Man kann sich dann gegenseitig für all die nicht eingehaltenen Versprechen entschuldigen. Zum Beispiel die Nato-Osterweiterung, die es nicht geben sollte. Inzwischen ist es von Moskau bis zur Nato so weit, wie von Berlin nach München. Putin kann sich entschuldigen, daß er den vom Westen angezettelten Putsch in der Ukraine noch nicht im Sinne der Kiewer Machthaber befriedet hat. Eben reden, nicht schießen."

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Kommentar zur Münchner Sicherheitskonferenz

Wie bekomme ich eine aus den Fugen geratene Welt wieder unter die hegemoniale Kontrolle der „Ersten Welt“ oder der NATO-Staaten. Dieses könnte die Elitenfrage für die sogenannte Sicherheitskonferenz sein. Die Antworten sind einfallslos und brutal: Fortsetzung und Intensivierung der militärischen Machtstrukturen, Ausbau der NATO besonders ihrer Truppen im Osten sowie ihrer Militärstützpunkte, Intensivierung der vorhandene Kriegen, hier besonders gegen IS. Dabei geht es um die hegemoniale Kontrolle einer der wichtigsten Ressourcenregionen.
NAT0-Einfluß bis an die Grenze zu Russland ausbauen unter Fortsetzung der ökonomischen Kontakte zu Russland. Hier versucht der Westen zwei Interessen zu kombinieren. Ob dieses gelingt, ist offen. Gefährlich ist es allemal. Keiner verzichtet auf Nuklearwaffen und konventionelle Kriege. Der Krieg in der Ukraine wird als Mittel zum Zweck verstetigt.

Eine Eskalationsdynamik dieser Konflikte und Kriege ist nicht auszuschließen, deshalb ist die Warnung vor einem auch großen Krieg (siehe Wimmer oder Gorbatschow) auch kein Alarmismus oder eine Verschwörungstheorie sondern die Analyse von Taten und Fakten basierend auch auf historischen Erfahrungen.
Die Friedensbewegung muss noch viel lauter warnen.

Reiner Braun (Co-Sprecher der Kooperation für den Frieden)