Ça ira Nr. 186: Vom Vorkrieg zur labilen Waffenruhe? Der Ukraine-Konflikt schwelt weiter (9.2.2022)

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Westeuropäische Politikerinnen, Politiker reisen derzeit lang und viel. Bundeskanzler Scholz nach Washington, fast noch im Jetlag verhandelte er sofort weiter in Berlin, um nach Moskau weiterzureisen. Außenministerin Baerbock eilte in die Ukraine, um in Olivgrün Solidarität zu demonstrieren, der französische Präsident Macron schaffte in kürzester Zeit Visiten in Moskau und Berlin, hierher eilte sein polnischer Amtskollege Duda von Gesprächen mit Chinas Staatspräsident Xi in Peking. Aber vielleicht bringt diese Masse an CO2-Ausstoß etwas, wird doch inzwischen nicht mehr nur über kriegstreibende Russen geredet, sondern auch über Sicherheit in Europa; zaghaft erst, leise und immer voller Zweifel. Zu Recht, vor allem wenn man sich auch einmal die Geschichte der Minsker Vereinbarungen ansieht, die jetzt ja aus Berliner Sicht die Lösung bringen sollen. Deutschland hat als 2014 zwar zwei Milliarden Euro der Regierung in Minsk überwiesen, aber zur Umsetzung der Abkommen außer warnenden Worten nichts getan.

 

Die Geschichte des Ukraine-Konflikts beleuchten Christiane Reymann und ich in dem Artikel Der Ukraine-Konflikt – wie er wirklich entstand. Wir haben ihn für die Zeitung gegen den Krieg Nr.50 geschrieben, mussten ihn dafür aber um ein Drittel kürzen. Hier ist es in seiner vollständigen Fassung.

 

Helsinki 2.0 statt Kriegsgeschrei überschreibt Oliver Hermes seine Gedanken zum Konflikt um die Ukraine. Der ausdrücklich als „persönliche Meinung“ gekennzeichnete Artikel ist bemerkenswert sowohl wegen seines Inhalts als auch wegen seines Autors. Oliver Hermes ist Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft e.V. sowie Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo-Gruppe und Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation. Lesenswert.
https://www.ost-ausschuss.de/de/helsinki-20-statt-kriegsgeschrei

 

Der Ukraine-Konflikt – wie er wirklich entstand

In den letzten Jahrhunderten war das immer multiethnisch besiedelte Territorium der Ukraine unter litauischer, dann polnischer Herrschaft, es wurde mit den polnischen Teilungen zwischen Österreich und Russland hin- und hergeschoben. Erst mit der Gründung der Sowjetunion 1922 erhielt die Ukraine ihre eigene Staatlichkeit – und mit deren Ende wurde sie zum Spielball in einem geopolitischen Kräftemessen.

Seitdem hat jeder fünfte Bewohner das Land verlassen (von 52 auf 42 Millionen ohne Krim), von einer Oligarchen-Clique ausgezehrt, ist die Ukraine mit Moldawien das ärmste Land Europas und im Inneren zerrissen: sozial, politisch, regional, ethnisch, sprachlich, sogar religiös. Als ob das alles nicht genug sei, setzt die Lage der Ukraine zwischen dem nachsozialistischen Ost und West zusätzliches Konfliktpotenzial frei. Sie befindet sich in stetigem Konfrontationsmodus nach innen und außen. Das wurde zuerst 2004 bei der von George Soros orchestrierten „Orangenen Revolution“ sichtbar und bestimmt seit dem Euromaidan von 2013/2014 die Entwicklung der Ukraine und das westlich-russische Verhältnis.

Am 21. November 2013 beschlossen Regierung und ukrainisches Parlament, das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Die EU war vor den Kopf gestoßen. Zum ersten Mal überhaupt wurde ein Vertrag mit ihr zurückgewiesen. Dabei war ihre Strategie der Osterweiterung bislang reibungslos verlaufen. Elf der ehemals von kommunistischen Parteien regierten Länder waren bereits der EU beigetreten, als unausgesprochene Vorstufe und Voraussetzung der darauf bald folgenden NATO-Mitgliedschaft. Vor allem derentwegen waren auch die USA ungehalten; ihre Spitzendiplomatin Victoria Nuland brachte es mit „Fuck the EU“ unnachahmlich auf den Begriff.

 

Vom Euromaidan zum Staatsstreich

Gegen die als anti-europäisch interpretierte Entscheidung der Regierung kam es in der Ukraine selbst Protesten, namentlich auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum Kiews. Aus Demonstrationen wurden Camps, aus Camps Unruhen, sie mündeten in Schießereien, Morden und Ende Februar 2014 in einen Staatsstreich.

In diesen Wintermonaten hatte sich das Kräfteverhältnis unter den Protestierenden verändert. Die Oberhand gewannen die hoch organisierten, trainierten und bewaffneten Kräfte des Rechten Sektors, aggressive Nationalisten bis reine Faschisten. Und der Konflikt wurde internationalisiert resp. gekapert. Um die Gunst der auf dem Maidan Versammelten balzten Politiker aus aller (West-)Welt, unter ihnen der damalige Vize- und heutige US-Präsident Joe Biden oder der ausgemachte Falke, John McCain. Er rief: „Ukrainer! Jetzt ist Eure Stunde gekommen! ... Die freie Welt ist mit Euch! Amerika ist mit Euch!“ Dieser Beistand hat Washington fünf Milliarden Dollar gekostet, der Ukraine den Ausverkauf ihres Landes und 50 000 Tote. (Interview mit dem früheren ukrainischen Premierminister Nikolai Janowitsch Asarow, Telepolis, 21.11.2016, https://www.heise.de/tp/features/Ohne-Hilfe-der-USA-haette-es-keinen-Staatsstreich-gegeben-3492309.html?seite=all)

Am 21. Februar 2014 erhielt der Noch-Präsident Janukowitsch Besuch von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens, Steinmeier, Fabius und Sikorski. Sie nötigten ihm und der Opposition einen Vertrag über die Bildung einer Übergangsregierung und vorgezogene Neuwahlen bis Ende des Jahres ab. Die Tinte unter dem Vertrag war noch nicht trocken, als die Führung des Maidan im Bruch der ukrainischen Verfassung die politische Macht übernahm. Eine ihrer ersten Dekrete war das Verbot der russischen Sprache als zweiter Amtssprache. Alles komplett gegen den gerade erreichten Kompromiss. Doch Frank-Walter Steinmeier hielt still und billigte damit den Staatsstreich. Das ist von der Unterschrift eines deutschen Diplomaten zu halten, der nach Washingtons Pfeife tanzt.

 

Eskalationsspirale

Die Eskalationsspirale war in Gang gesetzt: Die Krim wurde (wieder) Teil der Russischen Föderation. Die Rayons Donezk und Lugansk erklärten sich zu unabhängigen Republiken; zwischen ihnen und der Kiewer Führung begann ein zehrender (Bürger-)Krieg. Er dauert noch an.

Die Autoren waren mehrmals in humanitärer Mission im Donbass. Die meisten Menschen dort wären mit ihren Republiken am liebsten Teil der Russischen Föderation, wohl wissend, dass ihr Wunsch dort nicht auf Gegenliebe stößt.  Doch zu tiefe Wunden hatte das zeitweilige Verbot der russischen Sprache, hat der von den Machthaben in Kiew geduldete Krieg der Freiwilligenbataillone des Rechten Sektors und der Krieg der Armee geschlagen. Anders die politische Führung im Donbass. Sie setzt auf einen Autonomiestatus innerhalb des ukrainischen Staates nach Art der deutschen Bundesländer oder der Schweizer Kantone. Das versicherte uns Natalja Nikonorowa, Außenministerin der Volksrepublik Donezk, die sie auch bei den Minsker Verhandlungen vertritt. Die Bundesregierung erklärt, aktuell den „Minsker Prozess“ wiederbeleben zu wollen. Das entsprechende Abkommen schreibt die Autonomie der beiden Regionen ausdrücklich vor.

Das Minsker Abkommen (Minsk II) wurde im sog. Normandie-Format bzw. der Trilateralen Kontaktgruppe aus Frankreich, Russland, Deutschland vorbereitet, sie plus Belarus sind auch die Signatarmächte, die das fertige Abkommen unterzeichnet haben. Es wurde vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig bestätigt. Direkte Verhandlungspartner hingegen waren der Präsident der Ukraine, der russische Botschafter in der Ukraine und die OSZE-Beauftragte für die Ukraine. Donezk und Lugansk durften nicht dabei sein, aber das Abkommen unterschreiben. Es legt in seinen zwölf Punkten, neben der Autonomie, u.a. fest,

Abzug der Waffen, Pufferzone; bis Ende 2015 Ausarbeitung einer neuen Verfassung mit Dezentralisierung des Landes, abgestimmt mit Donezk und Lugansk; danach Wahlen unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE); am Ende dieses Prozesses vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland durch die Ukraine.

Umgesetzt ist davon exakt...nichts! Deutschland hat als Signatarmacht in den sieben Jahren seit 2015 exakt getan ... nichts! Der ukrainische Präsident Selenskij will ohnehin möglichst rasch dieses Abkommen loswerden. Sein Vorschlag: Es soll „umgeschrieben“ und die USA und Kanada oder Großbritannien zusätzliche Verhandlungspartner werden. (Interview mit der Financial Times, zit.n.: RT DE, 27.04.2021) 

 

Krim: Annexion oder Sezession?

Bleibt noch die Krim. Ihre Annexion, heißt es im Westen, sei völkerrechtswidrig und müsse mit fortdauernden wirtschaftlichen und politischen Sanktionen bestraft werden. Doch ist das alles so eindeutig? In langer Geschichte gehörte die Krim zu Russland, bis Staatspräsident Nikita Chruschtschow sie 1954 der Sowjetrepublik Ukraine schenkte; ein eher symbolischer Akt innerhalb des gemeinsamen Staates UdSSR, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Nach deren Zerfall pachtete die Russische Föderation das Gebiet um Sewastopol, den Hafen ihrer Schwarzmeerflotte, vom Staat Ukraine. 2013/14 standen diese Regelungen ebenso auf dem Spiel wie die Rechte der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung.

Nach dem Völkerrecht bedeutet Annexion die gewaltsame Aneignung eines Gebietes ohne Einverständnis des Staates, zu dem es gehört. Neben der Unverrückbarkeit der Grenzen kennt das Völkerrecht auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Verteidigung autonomer Minderheitenrechte. Sie können zu seiner Loslösung aus einem Staat, einer Sezession, führen. Die Reihenfolge auf der Krim war: Zuerst erklären die gewählten Organe der dort lebenden Bevölkerung ihre staatliche Unabhängigkeit, die wird in einer Volksabstimmung gebilligt, danach erfolgte der Aufnahmeantrag in die Russische Föderation.

Unabhängig davon, ob es sich bei dem jetzigen Status der Krim um eine Annexion oder Sezession handelt, muss dieser Dissens nicht ewig ein vernünftiges, friedliches Verhältnis zu Russland blockieren. Egon Bahr, Konstrukteur der Entspannungspolitik, erinnerte seinerzeit an die Erfahrungen der bundesdeutschen Ostpolitik, als er sagte: „Wir haben die DDR nie völkerrechtlich anerkannt, aber wir haben sie akzeptiert. Die Krim kann man natürlich genauso behandeln.“ (Egon Bahr plädiert für Respektierung der Krim-Annexion, in: Zeit Online, 26. November 2014)

 

Von Egon Bahr lernen

Egon Bahr war in den siebziger Jahren entscheidend am Zustandekommen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) beteiligt. Mit diesen Erfahrungen könnte die Bundesregierung Motor sein für eine nachhaltig friedliche Lösung der aktuellen Vorkriegssituation werden. Ist sie aber nicht. Der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Oliver Hermes, muss daran erinnern, dass in den Verhandlungen zur Schlussakte von Helsinki „nicht nur über militärische Sicherheit geredet wurde, sondern dass es außerdem um die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt sowie im humanitären Bereich ging. Sicherheit wurde damals viel breiter gedacht als nur in militärisch-politischen Dimensionen“ (https://www.ost-ausschuss.de/de/helsinki-20-statt-kriegsgeschrei). Und eben das – ein Helsinki 2.0 – sei heute die Alternative zum „Kriegsgeschrei“.

Wenn die Bundesregierung dem Rat der deutschen Wirtschaft nicht folgt, müssen mächtige andere Interessen am Werk sein. Sie sind in Washington zu finden. Brzezinski, strategischer Berater von US-Präsidenten, erkannte in der Ukraine den Schlüssel zur Einhegung Russlands. Mit einer westgebundenen Ukraine höre Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein und würde nach Zentralasien abgedrängt. Das mag US-Amerikaner passen, Europa und Deutschland allemal brauchen Russland als Partner für Frieden und Entwicklung. Wer nicht transatlantisch verblendet ist, sieht das glasklar.

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Die Zeitung gegen den Krieg (Nr.50), für die wir zunächst diesen Artikel geschrieben haben, erscheint in Kürze. Hier können Exemplare bestellt werden:
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