Ça ira Nr. 159: Syrien (09.03.2018)

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Syrien: Frieden schaffen oder eine Revolution adoptieren?


Dieser Ça ira befasst sich allein mit Syrien. Die bewegende Veranstaltung zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee in Stalingrad, für die wir auch in diesem Verteiler geworben haben, dokumentieren wir bald in den Roten Blättern Nr.5. Auch weltnetz-tv wird eine zusammenfassende Dokumentation veröffentlichen.

Wenn es um Syrien geht, dominiert seit Wochen Ost-Ghouta die Nachrichten. Dahinter verschwinden Leid und Bedrohung für Afrim. Militärisch hat die syrische Regierung mit Unterstützung von Russland, Iran und der Hisbollah im Wortsinn Land gewonnen. Der IS ist nahezu geschlagen. Dass in dieser Situation die Türkei ihre Invasion gestartet, Washington seine  militärische Präsenz auf syrischem Boden ausgebaut hat und den Euphrat als neue Grenze, jenseits derer die syrischen Öl- und Gasvorkommen und seine Euphrat-Staudämme liegen, festzurren will, dass Israel ebenfalls mit militärischen Mitteln faktisch seine Grenze um eine Schutzzone von 40 km Tiefe auf syrisches Territorium verschieben will und die Golfstaaten widerrechtlich weiter reichlich Söldner, Waffen und Geld nach Syrien exportieren, macht die Lösung des Konflikts nicht leichter. Im Folgenden Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann zu Hintergründen, Geschichte, linken Kontroversen und Lösungsmöglichkeiten des Syrien-Konflikts.

Was sucht die AfD in Syrien?

„Abstoßend“, „widerlich“, „klare Beihilfe zum Mord“, so die Kommentare aus – in dieser Reihenfolge – SPD, CDU und Grünen zur Reise einiger AfD-Abgeordneter nach Syrien, genauer: nach Damaskus. Dort hatten sie regierungsnahe Kräfte getroffen. Für die CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer eine klare Unterstützung derjenigen, „die durch den Krieg in Syrien dafür verantwortlich sind, dass sich überhaupt so viele Menschen auf der Flucht befinden...“ Die Kommentare sind verlogen bis auf die Knochen. Denn dieselben Kräfte, ausgenommen ein Teil der Grünen, finden Treffen inkl. (Rüstungs-) Geschäfte mit Salman ibn Abd al-Aziz, dem königlichen Staatsoberhaupt Saudia-Arabiens, völlig in Ordnung. Wobei die Frage steht, wer von den beiden: er oder Assad (oder Dritte?) die größere Verantwortung für den Krieg in Syrien trägt.

Das wirklich Abstoßende der Reise der AfD-Abgeordneten ist nicht, dass sie stattgefunden hat. Schändlich ist der Zweck der Reise, nämlich den Nachweis zu erbringen, dass syrische Flüchtlinge ganz rasch wieder aus Deutschland ausgelagert werden können. Es mag sogar sein, dass sich dieses mit dem Interesse der syrischen Regierung treffen könnte, die dem Ausland gegenüber ihren Erfolg im Kampf gegen die Dschihadisten belegen will.

Eine völlige Verdrehung von Ursache und Wirkung legt auch die Bundesregierung an den Tag. In ihrer Regierungserklärung vom 22. Februar d.J. sprach Angela Merkel mit Blick auf Syrien von einem „Massaker, das es zu verurteilen gilt“. Damit wir uns nicht missverstehen: Sie meinte damit nicht die Militärangriffe der Türkei auf syrisch-kurdisches Gebiet, nicht die Bombardements von israelischen wie US-amerikanischen Fliegern in Syrien, nicht den Mord- und Folterterror der dschihadistischen Kampfverbände von Ahrar al-Scham über die Al Nusra Front bis zum IS resp. Daesch. Nein, Merkel verurteilt Russland und den syrischen Präsidenten Assad wegen „Massaker“ und „Krieg gegen das eigene Volk“.

Sieben Jahre dauert er nun schon, der verheerende Stellvertreterkrieg auf syrischem Boden, an dem auch Deutschland beteiligt ist. Seit sieben Jahren verfolgen die NATO-Staaten, die USA, die um Hegemonie kämpfenden regionalen Mächte Türkei, Saudi-Arabien, Israel, auch Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate mischen mit, ein gleichgerichtetes Ziel: Die Zerschlagung des Syrischen Staates, seine Balkanisierung, und den politischen Regime-Change von außen. Erreicht haben sie in den biblischen sieben Jahren unendliches Leid und Zerstörungen, die fassungslos machen. Fast eine Million Kriegstote, mehr als drei Millionen Kriegsverletzte, laut UNO-Angaben elf Millionen Kriegsvertriebene: das ist fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung. Von der einst entwickelten Infrastruktur des Landes ist kaum etwas übrig, die Industrie nahezu zerstört, viele Städte und Dörfer verwüstet, großartiges kulturelles Erbe der Menschheit geplündert und tief verwundet.

Wer hat in Syrien das Völkerrecht außer Kraft gesetzt? 

„Regeln des Völkerrechts gelten in Syrien längst nichts mehr“, schrieb am 22.02.2018 der Welt-Leitartikler Richard Herzinger. Schuld an diesem Zustand seien Syrien, Russland und Iran. „Während Russland dem Assad-Regime für seine Vernichtungsfeldzüge gegen die eigene Bevölkerung die Lufthoheit sichert, wird Syrien am Boden vom Iran militärisch und politisch-kulturell kolonisiert.“ Belegen muss man offensichtlich derart abenteuerliche Thesen von Vernichtungskrieg oder der Kolonisierung durch den Iran nicht. Deshalb erwähnen wir es wenigstens: Auf das Gebiet Syriens scheint derzeit jeder beliebige Staat, sofern er die Mittel dazu hat, Söldnertruppen schicken oder mit eigenen Panzern, Raketen und Soldaten eindringen zu können, Syriens Luftraum schein vogelfrei zu sein für die Aufklärungsflugzeuge und Kampfjets der USA, Türkei, Israels oder von NATO-Staaten, darunter deutsche Tornados mit AWACS. Der Krieg in Syrien ist fürchterlich, davon legen die Opferzahlen Zeugnis ab. Auch russische Bomben können Menschen töten, genauso wie Geschosse aus syrischen Panzern oder aus Raketen, abgefeuert von iranischen Soldaten oder der Hisbollah. Völkerrechtlich aber ist es ein bemerkenswerter Unterschied, ob ein gewählter Präsident oder das Parlament eines souveränen Staates andere Staaten um militärischen Beistand bittet – oder ob ungefragt Truppen und die Luftwaffe anderer Staaten oder von ihnen finanzierte und organisierte Söldnerbanden in sein Gebiet oder seinen Luftraum einfallen. Beistand zu erbitten und zu erhalten, ist völkerrechtskonform, Einfallen hingegen verstößt gegen das Völkerrecht.

Regimechange von rechts und links? 

Unter dem Schirm von Assad muss weg versammeln sich höchst unterschiedliche Kräfte. Neben ausgewiesenen Imperialisten, Kriminellen und Reaktionären sind dort auch Linkskräfte mit dabei. Diese werben für Adopt a Revolution. Doch geht es in Syrien um Revolution? Wenn ja, um welche? Und mit welchen Kräften? Vielleicht mit den USA an der Seite, wie es die kurdische Selbstverwaltung und die YPG versucht haben? Dieser Versuch ist spätestens in Afrin gescheitert. Von den USA verlassen, hat sich die kurdische Selbstverwaltung an den syrischen Staat mit Bitte um militärischen Beistand gegen die türkischen Truppen gewandt. Der ist der Bitte nachgekommen, verteidigt er doch mit den Kurdinnen und Kurden den eigenen, den gemeinsamen Staat. Ob diese Kehrtwende in letzter Minute die Sache noch retten kann, ist ungewiss. Sicher aber werden erst einmal die 13 Militärstützpunkte der US-Army bleiben, die sie auf den von der kurdischen Selbstverwaltung beanspruchten Gebieten im Nordosten Syriens errichtet hat.

Wer mitten in dem fürchterlichen Gemetzel auf syrischem Boden auf eine Revolution ungeklärten Charakters zum Hinwegfegen des Assad-Regimes setzt, sieht in ihm zugleich den verantwortlichen Verursacher des Schreckens der letzten sieben Jahre. Das wiederum entlässt die USA, NATO und die reaktionären Regionalmächte aus ihrer Verantwortung.

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Lesetipp


Syrien. Wie man einen säkularen Staat zerstört und die Gesellschaft islamisiert

Einige Restexemplare des Buches sind noch da.
Es kann gegen Portokosten bestellt werden:

Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann (Hrsg.)
post@wolfgang.gehrcke.de oder
telefonisch 0170 861 3474

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