Offener Brief: Missbrauch von Leiharbeit beenden!

17.02.2011
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Sehr geehrte Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen,

in den vergangenen Monaten erreichten mich bedrückende Nachrichten von Betriebsräten und Belegschaften aus Hessen über die erhebliche Ausweitung von Leiharbeit in ihren Betrieben. Anlässlich des Aktionstages der Gewerkschaften gegen Leiharbeit und prekäre Beschäftigung am 24. Februar fordere ich Sie auf, dem Missbrauch von Leiharbeit ein Ende zu machen!


42.600 Unternehmen in Deutschland setzen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Leiharbeitskräfte ein. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) waren im August des Jahres 2010 knapp 900.000 Menschen über einen Zeitarbeitsvertrag beschäftigt. Das war ein historischer Höchststand. Inzwischen ist die Millionengrenze längst überschritten.

Über die sozialen Folgen von Leiharbeit findet zurzeit eine intensive öffentliche Debatte statt. Ein Unternehmen, das in jüngerer Zeit hinsichtlich dieses Themas in den Schlagzeilen war, ist die Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH in Frankfurt am Main. Die Frankfurter Societäts-Druckerei ist eine der größten Druckereien in Deutschland, ihr Druckhaus in Mörfelden gilt als das modernste in Europa. Dort werden unter anderem die Frankfurter Allgemeine Zeitung und als bedeutende regionale Zeitung des Rhein-Main-Gebietes die Frankfurter Neue Presse gedruckt.

Nach eigenen Angaben gibt der Societäts-Verlag zusammen mit dem Auswärtigen Amt die Zeitschrift Deutschland heraus und zählt zu seinen Geschäftspartnern auch die Bundesministerien für Verteidigung sowie für Bildung und Forschung. Die Frankfurter Societät ist im Mehrheitsbesitz der Fazit-Stiftung, die auch die Mehrheit an der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH hält.

Die Frankfurter Societät beschäftigt 650 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie rund 150 Leiharbeitskräfte. Der Anteil der Leiharbeit ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. 2008 lag das Jahresstundenvolumen der Leiharbeit bei 45.000 Stunden, 2009 waren es 60.000 und 2010 bereits 80.000 Stunden, mit weiter steigender Tendenz. Mit einem Streik konnte die Belegschaft im Oktober 2010 verhindern, dass durch die Aufspaltung des Unternehmens in drei Gesellschaften ein Teil der Belegschaft aus der Tarifbindung herausfiel. Außerdem erreichte die Belegschaft in diesem erfolgreichen Arbeitskampf, dass die Betriebsräte der neuen Gesellschaften eine personelle Mindestausstattung erhalten und dass bis 2014 keine Leiharbeitskräfte mehr als Redakteure eingesetzt werden.

Ein weiteres Beispiel aus Hessen ist die Firma Seeger-Orbis in Königstein im Taunus. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise wurden dort alle 50 Leiharbeiterinnen und -arbeiter sowie weitere 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stammbelegschaft entlassen. Nach Verbesserung der Auftragslage wurden 75 Arbeitskräfte neue eingestellt, alle in Leiharbeit. Somit wurden also weitere 25 ehemals tariflich bezahlte und unbefristete Arbeitsplätze in Leiharbeit umgewandelt. Dies ist kein Einzelfall.

Eine Befragung der IG Metall von 7.000 Betriebsräten kommt zu alarmierenden Ergebnissen: „85 Prozent der Betriebe haben einen zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften. Davon deckt aber nur eine Minderheit von 15 Prozent diesen Bedarf über die Einstellung in unbefristete Stellen ab. 43 Prozent setzen auf Leiharbeit und 42 Prozent auf befristete Einstellungen. Unbefristete Einstellungen sind die Ausnahme. Die Arbeitgeber setzen auf prekäre Beschäftigung.“ (Betriebsräteumfrage der IG Metall zur Leiharbeit. Frankfurt am Main, 27. September 2010, Seite 6)

Leiharbeit wurde in früheren Zeiten eingesetzt, um kurzzeitig Produktionsspitzen abzufangen. Inzwischen nutzen die Unternehmen sie als strategisches Instrument, um Lohnkosten zu senken und Gewinne zu erhöhen. Die sozialen Folgen für die Leiharbeiterinnen und -arbeiter sind verheerend. Löhne weit unterhalb der Branchentarife sind die Kehrseite der über Leiharbeit erhöhten Unternehmensgewinne: Die Leiharbeitsbranche ist nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit mit knapp 12 Prozent der Wirtschaftszweig mit den meisten Hartz-IV-Aufstockern. Zeitlich befristete Verträge führen zu einer erheblichen psychischen Belastung und machen jede Lebensplanung unmöglich. Nach Angaben des IW sind mehr als die Hälfte der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter unter 35 Jahre alt.

Leiharbeit ist somit zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden, das Millionen – vor allem jungen – Menschen jede Lebensperspektive nimmt. Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist die Aufhebung vieler gesetzlicher Vorschriften, beispielsweise der zeitlichen Befristung von Leiharbeit.

 


Ich fordere Sie auf, eine Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetztes in Angriff zu nehmen, die folgende Punkte berücksichtigt:

  • Gleiche Behandlung von Stammbeschäftigten und Leiarbeitnehmerinnen und ‑arbeitnehmern
  • Ein Zuschlag von zehn Prozent auf den Tariflohn der jeweiligen Branche, um die unsichere Perspektive der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter zumindest teilweise auszugleichen
  • Verbot des dauerhaften, strategischen Einsatzes von Leiharbeit
  • Einführung einer Höchstüberlassungsdauer
  • Wiedereinführung des Synchronisationsverbots
  • Stärkung der Rechte der Entleiher-Betriebsräte

Durch die Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Mai 2011 wird der Druck auf die Lohnhöhe von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern durch die Konkurrenz von Leiharbeitsfirmen aus dem europäischen Ausland weiter zunehmen. Bereits jetzt liegen die Löhne bis zu 50 Prozent unter den jeweiligen Branchentariflöhnen. Dies erfüllt mich mit tiefer Sorge.

Ich bitte Sie, schnell tätig zu werden, damit der steigende Konkurrenzdruck durch ausländische Leiharbeitsfirmen nicht von rechtsradikalen und neofaschistischen Parteien genutzt werden kann, um rassistische und fremdenfeindliche Hetze zu betreiben. Alle demokratischen Parteien sind hier gefordert, den „Anfängen zu wehren“. Dafür sage ich Ihnen meine Unterstützung und die meiner Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag zu.


Mit besten Grüßen
Wolfgang Gehrcke
Mitglied des Deutschen Bundestages