Wie im Namen der Verfassung Demokratie zerstört wird

08.02.2012
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Vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, gebar die Runde der Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den "Radikalen-Erlass", die Berufsverbote. "Mehr Demokratie wagen" wollte Willy Brandt, aber der Kalte Krieg steuerte die Politik in eine andere Richtung. Antikommunisten, vor allem die CDU/CSU, forderten ein Verbot der DKP oder wollten wenigstens den Ausschluss von Kommunisten aus dem Öffentlichen Dienst im Grundgesetz verankert wissen. Das aber wäre ein arge Behinderung der Ostpolitik geworden und so einigte man sich auf den Radikalenerlass. Willy Brandt bezeichnete diesen Demokratiezerstörungserlass später als schweren Fehler.

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08.02.2012 - von Wolfgang Gehrcke, Mitglied des Fraktionsvorstands und Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik

Vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, gebar die Runde der Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den "Radikalen-Erlass", die Berufsverbote. "Mehr Demokratie wagen" wollte Willy Brandt, aber der Kalte Krieg steuerte die Politik in eine andere Richtung. Antikommunisten, vor allem die CDU/CSU, forderten ein Verbot der DKP oder wollten wenigstens den Ausschluss von Kommunisten aus dem Öffentlichen Dienst im Grundgesetz verankert wissen. Das aber wäre ein arge Behinderung der Ostpolitik geworden und so einigte man sich auf den Radikalenerlass. Willy Brandt bezeichnete diesen Demokratiezerstörungserlass später als schweren Fehler.

In den folgenden Jahren kam es zu mehr als 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen sowie 265 Entlassungen. 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den Öffentlichen Dienst wurden vom Verfassungsschutz auf ihre "politische Zuverlässigkeit" überprüft und noch mehr Menschen wurden bespitzelt. Millionen Jugendliche, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende wurden eingeschüchtert. Für die Betroffenen hieß Berufsverbot, den erlernten Beruf nicht ausüben zu können, das Ende einer wissenschaftlichen Karriere, Zukunftsangst und finanzielle Nöte. In erster Linie betroffen waren Lehrerinnen und Lehrer an Schulen und Hochschulen, Juristinnen und Juristen, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern, aber auch ein Lokführer, Postboten, Techniker. Es galt nicht nur KommunistInnen, sondern auch Parteilosen, linken SozialdemokratInnen, besonders aktiven GewerkschafterInnen, FriedenskämpferInnen, AntifaschistInnen.

Der Umfang der Bespitzelung war immens und die Berichte oft bizzar. Parkte ein Auto in der Nähe eines linken Versammlungslokals? Wurde ein Film von Eisenstein besucht? War ein SPD-Mitglied gemeinsam im Vorstand mit DKP-Mitgliedern? Erschien die Hochzeitsanzeige in der UZ? Hatte sich die überprüfte Person gegen die Atomrüstung der NATO ausgesprochen und nicht genug von Kommunisten distanziert? Denunziert wurden Personen wegen der Teilnahme an Demonstrationen, die durch die Verfassung ausdrücklich geschützt sind. Aber auch das Anmelden eines Info-Standes von terres des hommes oder der Chile-Solidarität war verdächtig. Besonders bitter war es, dass zu den ersten Berufsverbotsopfern Kinder von Widerstandskämpfern gegen den Faschismus gehörten: Ilse Jacob, die Tochter von Katharina und Franz Jacob, der von den Nazis ermordet wurde, und Silvia Gingold, Tochter der jüdischen Widerstandskämpfer Etti und Peter Gingold.

Verfassungsbruch und Verletzung von Menschenrechten

Mit den Berufsverboten wurde etwas Unerhörtes praktiziert: Verfassungsrechte wurden durch einen Verwaltungsakt, durch eine einfache Absprache von Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler außer Kraft gesetzt, Behörden und Verwaltungen konnten verfassungsmäßige Rechte aushebeln. Nota bene: Das waren Rechte, die als unveräußerliche Menschenrechte gelten, die der sogenannten Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes unterworfen sind und zu deren Änderung nicht einmal eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags befugt wäre.

Das 3. Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland beschuldigte den westdeutschen Staat der Menschenrechtsverletzungen. Viermal rügte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Praxis der Berufsverbote in der BRD. Nach der Entsendung einer internationalen "facts-finding-commission", die in der BRD zehn Tage lang Ministerien, Gewerkschaften und Betroffene interviewte, stellte sie fest, dass die Berufsverbote gegen zahlreiche internationale Konventionen verstießen.

Nach über 40 Jahren ist keine staatliche Entschuldigung an die Opfer der Berufsverbote erfolgt, an die Bespitzelten, an die Eingeschüchterten und Erschrockenen, an die, deren berufliche Entwicklungswege verbaut wurden und an die, die ob der Angst um ihre beruflichen Möglichkeiten auf ihre freie Meinungsäußerung verzichtet haben. Berufsverbote haben das politische Klima über Jahrzehnte vergiftet, die Demokratie beschädigt. Sie waren Unrecht, für sie musste das Recht gebeugt werden. Das Prinzip des Rechtsstaates fordert, sich bei denjenigen, deren Grundrechte verletzt wurden, zu entschuldigen. Das wäre eine dringliche Aufgabe des Bundestages und des Bundespräsidenten.