Diskussion um Europawahlprogramm der LINKEN

04.12.2013
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... und die „Linksöffnung“ der SPD

Die „Linksöffnung“ der SPD weckt Hoffnungen; bei Sozialdemokraten, die eine mehr linke Politik auch in ihrer Partei wünschen; bei Mitgliedern der LINKEN, die über eine rot-rot (-grüne) Regierung den Neoliberalismus einfrieden wollen; in Gewerkschaften, die sich über diesen Umweg den Einstieg in eine Abmilderung des Hartz - Regimes erhoffen. Dass ausgerechnet aus SPD- und Gewerkschaftskreisen jetzt nachdrücklich für die Große Koalition geworben wird, zeigt - neben erstaunlichen Illusionen -, dass sie nicht an eine baldige Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses glauben, sondern eher an Veränderungen von oben, so minimal sie auch sein mögen.

Auf ihrem Leipziger Parteitag Mitte November hatte die SPD festgehalten: „Für die Zukunft schließen wir keine Koalition (mit Ausnahme von rechtspopulistischen oder –extremen Parteien) grundsätzlich aus.“ Mag sein, dass dieser Beschluss als Druckmittel in den Koalitionsverhandlungen gedacht war oder als „Entzauberung“, wie es immer heißt, der LINKEN und/oder dass er Differenzen innerhalb der LINKEN zur Frage der Reformfähigkeit des Kapitalismus und der entsprechenden Mittel und Wege vertiefen soll. Aber er erzielt zugleich schon jetzt eine tiefere Wirkung. Denn er kratzt am Tabu der alten Bundesrepublik West, das da hieß: Kommunisten, Marxisten, selbstbewusste LINKE sind Schmuddelkinder, wer sich mit ihnen einlässt wird selbst schmutzig und untauglich für den Politikbetrieb. Noch ganz dieser Linie verhaftet, „verspielt“ die SPD mit ihrem Parteitagsbeschluss laut Springers Welt (14.11.2013) „ihr antitotalitäre Unschuld“. Für DIE LINKE ist wichtig, gegenüber dem SPD-Beschluss keine abwartende Haltung einzunehmen, sondern eine selbstbewusste und aktive.

„Verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik“

Zunächst haben jedwede Hoffnungen auf eine „Linksöffnung“ der SPD einen kolossalen Dämpfer erhalten durch den Kurs auf die Große Koalition. Für alle Koalitionen hat die SPD in jenem Parteitagsbeschluss drei Kriterien formuliert. Voraussetzung sei „eine stabile und verlässliche parlamentarische Mehrheit“, ein verbindlicher und finanzierbarer Koalitionsvertrag „mit sozialdemokratischen Wertvorstellungen“ und: „Es muss eine verantwortungsvolle Europa‐und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen gewährleistet sein.“

Was aus diesen drei Kriterien beim Sprung in die Wirklichkeit wird, zeigt aktuell der Koalitionsvertrag mit CDU und CSU. Nimmt die Basis ihn an, ist das erste Kriterium, das der Mehrheit, erfüllt und aus Sicht der SPD-Führung auch das zweite, die „höchstmögliche Realisierung unserer Leitziele“. Bleibt die „verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik“.

In seinem außenpolitischen Teil orientiert der Koalitionsvertrag auf militärische Stärke, Fortdauer des Truppeneinsatzes in Afghanistan, Rüstungsexporte, Festigung der NATO. O-Ton: „Wir bekennen uns zur NATO und zu ihrem neuen strategischen Konzept,“ heißt: weltweite, auch militärische, Interventionen zur Sicherung von Rohstoffen, Verkehrswegen, Abwehr terroristischer Gefahren, Durchsetzung vermeintlicher deutscher und europäischer Interessen. In der Verteidigungspolitik bleibt eine auf Auslandseinsätze zuzurichtende Bundeswehr vorrangig, wobei sie als eine Armee im Einsatz verstanden wird, inkl. Ausbau der zivil-militärischen Zusammenarbeit, die auch die Entwicklungszusammenarbeit einschließt. Insgesamt ist in diesen Fragen dieser Koalitionsvertrages schlechter, rückständiger und militärorientierter als die Vereinbarungen der schwarz-gelben Koalition. In der Europapolitik herrscht ungebrochene Kontinuität seit der letzten Großen Koalition: Es bleibt bei einer EU als Transmissionsriemen zur Durchsetzung „deutscher“ Interessen in Europa.

Wir müssen nicht erst noch auf den Jugoslawien-Krieg verweisen, das Afghanistan-Desaster weiter ausmalen oder die Spur der Zerstörung nachzeichnen, die die Troika durch Europa zieht, um uns mit Grausen von dieser höchst verantwortungslosen Europa- und Außenpolitik abzuwenden. Ihr Maßstab sind die als „deutsche“ getarnten globalen Interessen der Banken, Großkonzerne, des militärisch-industriellen und des agro-chemischen Komplexes. Sind nicht andere Maßstäbe nötig?

DIE LINKE richtet ihre Außen- und Europapolitik, wie generell ihre Politik, an Frieden, Demokratie, Ökologie, sozialer Gerechtigkeit aus. Vielleicht machen wir das nicht immer gut genug, sicher müssen wir unsere Alternativen qualifizieren, aber nach unseren eigenen und weder nach den Maßstäben der SPD noch denen der Mainstream-Medien. Die machen gerade mal wieder nach bekanntem Drehbuch einen „Kampf zwischen „Fundis und Realos um die Regierungsfähigkeit“ aus. „Erster Testfall wird das Programm für die Europawahl“ (Spiegel v. 25.11.2013). Von Stereotypen dieser Art sollte sich DIE LINKE frei machen und in der Debatte um das Europa-Wahlprogramm Rosa Luxemburgs Ratschlag von der Freiheit in der Diskussion, Einheit in der Aktion beherzigen.

Drei Differenzen und eine Anmerkung

Dem Parteivorstand lagen am 24. November zwei Entwürfe für ein Europawahlprogramm vor. 16 Parteivorstandsmitglieder sprachen sich für den Entwurf der Vorsitzenden als Arbeitsgrundlage aus, 13 stimmten dagegen oder enthielten sich der Stimme. Eine Mehrheit und eine beachtliche Minderheit. Ich teile und unterstütze den Alternativentwurf von Diether Dehm unter dem Titel „Mut für ein anderes Europa“. An einigen Stellen halte ich ihn für verbesserungswürdig. Ich setze mich dafür ein, dass er als Antrag an den Hamburger Parteitag in der Europadebatte eine Rolle spielt. DIE LINKE tritt immer und überall dafür ein, dass es in der Politik Alternativen gibt. Ohne sie herrscht Stillstand. Im argumentativen und sachlichen Meinungsstreit können die vorliegenden Alternativen der Klärung und Präzisierung der eigenen Positionen nützen.

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die beiden alternativen Entwürfe zum Europawahlprogramm ganz erheblich durch die Länge: Der Leitantrag des Parteivorstands hat 35, der Alternativentwurf neun Seite. Nun ist ein kurzer Programmentwurf nicht per se gut und ein langer allein seiner Länge wegen nicht schlecht. Aber wenn es schwer fällt, die wesentlichen Einschätzungen, Ziele, Etappen auf dem Weg dorthin, Mittel und Methoden knapp auf den Begriff zu bringen und das in populärer Form, dann deutet das meist auf einen Mangel an Präzision der eigenen Definition, des eigenen Verständnisses der wesentlichen Einschätzungen, Zielen, Etappen, Mitteln und Methoden hin. Wegen dieser Dialektik von Form und Inhalt beziehen sich meine kritischen Auseinandersetzungen mit den Inhalten des Leitantrags auch auf seine Form. Wir wollen doch Menschen für unsere Politik begeistern, sie zur Einmischung ermuntern und sie nicht mit dem Gefühl entlassen: Das ist alles so kompliziert, da steige ich ohnehin nicht durch.

Aus meiner Sicht unterscheiden sich die beiden Entwürfe zum Europawahlprogramm in drei wesentlichen Fragen und auf eine weitere möchte ich hinweisen:

1. Länge, Sprache und Ansprache: Welches sind unsere Kernaussagen zu Europa?
2. Wie scharf darf oder muss unsere Kritik an der real existierenden EU sein?
3. Welchen Charakter hat die EU?

Und im Hintergrund gibt es eine Differenz zum Verhältnis Nationalstaat (Grundgesetz) – Europäische Union. Ist der Nationalstaat zu eng?

Welches sind unsere Kernaussagen zu Europa?

Auf den 35 Seiten des Parteivorstands-Entwurfs für ein Europawahlprogramm geht unsere leitende Europa-Idee, wenn es denn eine gibt, unter. Der rote Faden verliert sich in einer Fülle von Forderungen zu einzelnen, jeweils wichtigen Politikbereichen, die aber eher aneinander geheftet als miteinander zu einem ausstrahlenden Ganzen verflochten wurden. Sie sollen wohl den Eindruck von Sachkompetenz vermitteln, zu oft aber sind sie unverständlich, auch belanglos. Dafür nur ein Beispiel, das an mehreren Stellen ähnlich wiederkehrt. Die einzige konkrete Forderung im Abschnitt 2.6 Dem Rassismus entgegentreten: gegen Rechtspopulismus und Neofaschismus in Europa lautet: „DIE LINKE tritt dafür ein, dass die Empfehlungen der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) in den Mitgliedsstaaten der Union auch tatsächlich umgesetzt werden“. Ein Satz von zeitloser Schönheit, aber etwas unpolitisch und oberflächlich: Was besagen denn die Empfehlungen der Kommission? Warum sind sie bislang nicht umgesetzt? Ändert sich das, wenn DIE LINKE für die Empfehlungen eintritt?

Befürworter dieses Programmentwurfs argumentieren: Wir brauchen möglichst detaillierte Aussagen als Leitlinien für die künftige Gruppe der LINKEN im Europaparlament. Dafür spricht einiges. Andererseits taugt ein Wahlprogramm nicht als Kompendium für alle Eventualitäten. Dann käme ein dicker Wälzer heraus und selbst der wäre im Zweifelsfall unvollständig. Sinnvoller ist, die gemeinsame linke, inspirierende Idee für Europa zu überprüfen und als festes Fundament in der Partei zu verankern. Auf dieser Grundlage kann sehr flexibel europapolitisch gearbeitet werden, auf allen Ebenen, allein und in Bündnissen, parlamentarisch wie außerparlamentarisch. Das ist der Ansatz des Programmentwurfs „Mut für ein anderes Europa“.

Wie scharf darf oder muss unsere Kritik an der real existierenden EU sein?

Das hängt davon ab, wie wir die Ergebnisse des bisherigen Integrationsprozesses einschätzen. Wenn die Bewertung aus dem Entwurf von Diether Dehm stimmt, die jetzt dem Entwurf des Parteivorstands als erster Absatz vorangestellt wurde, dass aus der EU „eine Freihandelszone...ohne sozialen Sinn und ohne nachhaltigen Verstand“ geworden sei, „ein autoritäres Regime“, das „eine der größten Krisen der letzten 100 Jahre herauf beschworen“ hat, dann muss dieser Zustand unzweideutig benannt werden, unsere Alternativen auch; in klaren Worten, nicht wortradikal, das ist abstoßend.

Unsere Kritik an der EU muss scharf und klar sein, weil wir als Linke aus der Perspektive von unten auf die EU gucken, aus der Perspektive von Frauen, Arbeiterinnen, Arbeitern, Angestellten, jungen Leuten, Aktiven in Bewegungen, Gewerkschaftern etc. Aus diesem Blickwinkel sprechen wir auch alle, die wir mit unserem Wahlprogramm erreichen wollen, als Agierende, als Subjekte an, zeigen Handlungsperspektiven auf und machen „mehr Lust auf Europa, mehr Lust auf Eure Einmischung in Eure eigenen Angelegenheiten“, wie es in „Mut für ein anderes Europa“ heißt. Hinzu kommt: Dieser Antrag bezieht sich durchgängig auf die EU wie sie ist, er ist quasi ein fortdauernder kritischer Dialog von Bürgerinnen/Bürgern, Linken und Europa. Das macht ihn konkret.

Welchen Charakter hat die EU?

Zum Konkreten gehört der Charakter der EU. Im Leitantrag des Parteivorstands steht einiges, wie sie aus Sicht der LINKEN werden soll: sozial, demokratisch, ökologisch, solidarisch, friedlich etc. Und die EU wird beschrieben z.B. als bürokratisch, unsozial, wirtschaftlich verwüstend mit der Freiheit der Märkte an erster Stelle etc. Doch zu ihrem Wesen steht auf 35 Seiten – nichts. Es sei denn, man ist der Ansicht, die Bezeichnung „neoliberal“ erfasse den Charakter der EU hinreichend. Doch neoliberal sind die Wirtschaftsordnungen der Nationalstaaten, ihre Bildungs- und Gesundheitspolitik, neoliberal ist nahezu alles in EU-Europa. Dieses Adjektiv ist ungeeignet, die Eigenheit, des Pudels Kern der Europäischen Union zu benennen.

War die EU anfangs friedfertig?

Vielleicht kann die Entstehungsgeschichte der EU Hinweise auf ihr Wesen geben. Im Entwurf des Parteivorstands heißt es dazu: „Historisch zielte die Einigung in Europa darauf, Kriege zu verhindern und ... zu einer friedlichen Entwicklung in- und außerhalb Europas beizutragen.“ Sofern mit der „Einigung in Europa“ unter Ausblendung Osteuropas die spätere EU gemeint ist, ist diese Verallgemeinerung nicht richtig. Historisch begann die EU-Vorgeschichte im engeren Sinn als der II. Weltkrieg fast ohne Atempause in den Kalten Krieg überging. Die ersten Schritte der Integration heißen ab 1948 Brüsseler Vertrag, die – gescheiterte – Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, OEEC, aus der später die weltweite Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, werden wird, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt, Europarat, Atomenergiebehörde Euratom und ab 1957 EWG, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Gemeinschaft der Sechs, Keimzelle der heutigen EU. Diese Namen stehen für die drei Komponenten der westeuropäischen Integration, die bereits in ihrer Entstehungsgeschichte unauflöslich miteinander verwoben waren: die militärische, die wirtschaftliche und die politische. Ein treibendes Motiv für alle drei war die westdeutsche Wiederbewaffnung – freilich europäisch und atlantisch eingebunden.

Die ganze westeuropäische Einigung ist kriegs-geprägt, Kalter-Krieg-geprägt. Der Einigungsprozess war auch als Bollwerk gegen den Realsozialismus in Osteuropa konzipiert. Es setzen sich in Westeuropa gerade nicht die Pläne der Antifaschisten durch, die nach dem großen Morden im II. Weltkrieg auf Waffen und Rüstung verzichten und ein friedliches, kooperatives Europa aufbauen wollen, sondern es setzen sich die Militaristen durch. Politisch werden in diesem Zusammenhang in Deutschland alte Nazis und Militärs hoffähig und regierungstauglich. Die Interpretation der EU- Geschichte als Friedenskraft ist ein Mythos der EU-Eliten

Imperialer Block

Im Gründungsprozess der Europäischen Linkspartei, zu der DIE LINKE gehört, ist die EU als „imperialer Block“ und als „Raum des Klassenkampfes“ bezeichnet worden. International bewegt sich die EU im (Konkurrenz-) Verhältnis zu anderen Blöcken, namentlich USA, Russland, China, auch die BRIC-Staaten und Südostasien können zu global agierenden Blöcken werden. Spätestens mit der großen Zäsur 1989-91 wird die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kapitalismus in der globalen Standortkonkurrenz um die besten Verwertungsbedingungen für das transnationale und Finanzkapital zum kategorischen Imperativ der europäischen Integration. Die Sozialstaatsmodelle der einzelnen Mitgliedsstaaten werden zu überkommenen Hindernissen auf diesem Weg erklärt. Imperial ist die EU, weil sie nach innen – zwischen den EU-Ländern und den großen, auf dem europäischen Markt agierenden Banken und Kapitalgesellschaften ist die Konkurrenz ja nicht überwunden – und außen geprägt ist von der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, der staatliches Handeln Vorschub leistet; dadurch, dass die großen Banken und Kapitalgesellschaft kleinere Geldinstitute und Betriebe und – noch – nicht kapitalisierte Bereiche aussaugen können, dazu gehören Handwerk und Mittelstand, bäuerliche Betriebe, Startups, auch die Dienste und Erträge etwa aus Bildung, Pflege, Kultur. Imperial ist die EU endlich, weil sie auf Dominanz, Ausbeutung, Machtpolitik bis hin zu Krieg ausgerichtet ist. Wobei Krieg zwischen EU-Mitgliedern eher ausgeschlossen ist, Dominanz, Ausbeutung und Machtpolitik aber nicht. Die Abwesenheit kriegerischer Auseinandersetzungen nach Innen paart sich mit zunehmendem Einsatz militärischer Mittel nach Außen.

Einem derartigen Block zu einem “Neustart“ (Leitantrag Parteivorstand) in Richtung Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Frieden zu verhelfen ist, gelinde gesagt, schwer und schwerlich aussichtsreich, ohne ihn als Gegenstand und Raum großer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen oder: Klassenkampf zu erschließen.

Ist der Nationalstaat zu eng für den Klassenkampf?

Seit der Entstehung des Kapitalismus ist die Bourgeoisie in ihrer Organisation und räumlichen Präsenz der Selbstorganisation der Arbeiterklasse mehr als eine Nasenlänge voraus. 1848 schrieben Marx und Engels im Kommunistische Manifest, dass „die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel“ jagt und „alle Länder kosmopolitisch gestaltet“. Der Bund der Kommunisten, dessen Programm das Manifest wurde, umfasste damals aber gerade insgesamt etwa 500 Mitglieder aus 30 Gruppen im Deutschen Bund, in Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Großbritannien, den USA und der Schweiz. Heute sind viel mehr systemkritische Kräfte überall auf der Welt organisiert, sie arbeiten auf verschiedenen Ebenen international zusammen in Sozialforen oder in Friedensbewegungen oder auch Parteien wie der Europäischen Linkspartei mit ihren 38 Mitglieds- und Beobachterparteien aus 23 europäischen Ländern , aber ihre gemeinsamen Interessen können sie – noch – nicht so klar formulieren und vor allem durchsetzen, wie es die herrschende Klasse, trotz Widerspruch und Konkurrenz, vermag.

Eine weitere Differenz durchzieht nach meinem Dafürhalten den Entwurf des Parteivorstands, sie ist freilich nicht unmissverständlich und eindeutig formuliert: Das ist das Verhältnis Nationalstaat – EU bzw. Bedeutung von Rechtsstaat und Grundgesetz für die Kämpfe um gesellschaftliche Veränderungen. Einzelne Sätze aus dem Leitantrag wie „Vielen Menschen ist das Nationale zu eng. Auch für uns“ mögen die Empfindungen „vieler Menschen“ und das Selbstverständnis von „uns“ nicht angemessen wiedergeben, sie allein dienen aber nicht als Beleg für diese Meinungsverschiedenheit. Die erscheint eher als Subtext, als generelles Verständnis von der Rolle des National-, des Rechtsstaates im Verhältnis zur Supranationalität. Im Leitantrag des Parteivorstands ist das jetzt meist so gelöst, dass sich für die LINKE nicht die Entscheidung stellt, ob sie auf EU-Ebene oder im nationalen Rahmen kämpft, „wir führen die Kämpfe dort, wo sie stattfinden, in der EU, in Deutschland, weltweit. Nicht, indem wir uns zurückziehen auf den Nationalstaat...Nicht, indem wir uns Illusionen machen über die neoliberale Europäische Union...“ Ein sowohl als auch, gegen das man kaum polemisieren kann. Es weicht nur den Thesen aus, mit denen die politische Konkurrenz den Europawahlkampf bestreiten wird und über die sich DIE LINKE klar werden sollte.

Im Wahlkampf werden deutsche Interessen und Interessen der Menschen in Deutschland direkt (etwa: „Starkes Europa – Gute Zukunft für Deutschland“, CDU) oder indirekt thematisiert, Beispiel: Zukunft des Euro (AfD). Die Fragen nach deutschen und den Interessen der Menschen in Deutschland können das Einfallstor von Rechtspopulisten sein. Doch nicht die Frage nach Interessen, es sind die Antworten, die rechts von links trennen. Deshalb wäre DIE LINKE gut beraten, diesen Fragen nicht auszuweichen und Antworten zu geben.

„Obwohl nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler“, schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. In den 165 Jahren seitdem haben sich Kämpfe um gesellschaftliche Veränderungen deutlich internationalisiert; es gibt die weltumspannenden Friedensbewegungen, Sozialforen, Internationale und Europäische Aktionstage, von denen viele Hunderttausend Menschen bewegen; durch europaweit abgestimmte und gemeinsame Aktionen konnte die Bolkestein-Richtlinie zurückgewiesen oder die Europäische Bürgerinitiative Right 2 Water erfolgreich sein. Doch für die überwiegende Mehrzahl der Kämpfe um soziale, demokratische, ökologische Rechte in den Ländern der EU gilt noch das im Manifest dialektisch formulierte Verhältnis: Nicht dem Inhalt, der Form nach sind sie zunächst nationale. Die letzten Generalstreiks fanden nicht in Europa, sondern in Griechenland, Spanien, Portugal statt. Nicht, weil die Aufbegehrenden national borniert sind, sondern weil die Lage der Mehrheit der Bevölkerung – noch - sehr unterschiedlich ist: Ihre Lebenslage, ihre Organisationsformen, Gegenstand und Grad der Empörung. Wobei sich alle Kämpfe in den südeuropäischen Ländern zugleich gegen die nationalen Regierungen und gegen die EU-Politik und die Troika wenden.

Nun sagen einige Linke: Weil diese Kämpfe, auch Generalstreiks, national begrenzt blieben, blieben sie erfolglos, deshalb müssen wir künftig auf europäischer Ebene mobilisieren. Europäische Mobilisierung ist richtig und notwendig. Doch können auch große Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene erfolgreich sein und die EU-Entwicklung beeinflussen, siehe Volksabstimmungen zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Zum zweiten liegt die ungleichzeitige Bereitschaft und Fähigkeit zur Gegenwehr in den Ländern Europas an der ungleichzeitigen Entwicklung nicht nur der Kämpfe (subjektiv), sondern auch der Ausprägung des Neoliberalismus in den einzelnen Ländern (objektiv). Die Bevölkerungen, die am bewusstesten unter ihrer Misere leiden, etwa die Menschen in Griechenland, können nicht warten, bis es allen so geht,, etwa auch den Menschen in Deutschland. In Deutschland aber müssen Linke Solidarität mit der griechischen Bevölkerung organisieren und damit zugleich aufklären über die Ausbeuter und Ausbeutung im eigenen Land, wiederum: Der Form nach national, dem Inhalt international.

Endlich machen Kämpfe im nationalen Rahmen Sinn, weil die meisten EU-Mitgliedsstaaten eine demokratische Verfassung haben, die EU selbst aber kein Rechtsstaat ist. In Deutschland wurden mit der verfassungsrechtlichen Verankerung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde entscheidende Prinzipien aus dem Kampf gegen den Faschismus durchgesetzt, die gilt es heute zu bewahren resp. wieder herzustellen und zu verteidigen – gerade gegen die „Grundfreiheiten des Kapitals“, die die EU-Verträge prägen. Insofern kann die Verteidigung oder Herstellung der (Verfassungs-) Souveränität eines Landes ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung in Europa sein. Das hat nichts Einengendes, sondern Rechte Erweiterndes, ganz im Sinn von Gregor Gysis Rede am 18. November im Deutschen Bundestag, als er sagte: „Deutschland ist erst dann souverän, wenn es Herrn Snowden schützt, ihm Asyl gewährt und seinen sicheren Aufenthalt organisiert – dann ist Deutschland souverän, vorher nicht.“

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich engagiere mich nachdrücklich dafür, Europa (und die Welt) als gemeinsamen Raum des Klassenkampfes, des Kampfes um gesellschaftliche Veränderungen auszufüllen – und sie von der nationalstaatlichen Ebene aus zu stärken.

Diskussionen, die Freude bereiten

Ich habe Differenzen in den bislang vorliegenden Vorschlägen zu einer Wahlplattform der LINKEN aus meiner Sicht beleuchtet. Es sind Differenzen auf einem breiten Fundus von Gemeinsamkeiten. Deshalb sehe ich einer lebhaften und streitbaren Diskussion in der Partei und mit Partnerinnen, Partnern um unser Europawahlprogramm gespannt entgegen. Mit etwas gegenseitigem Interesse und Respekt werden wir Diskussionen führen, die uns Freude bereiten und klüger machen.