Bundestagsdebatte zur Situation in der Ukraine

31.01.2014
Printer Friendly, PDF & Email

Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was eigentlich die Ursachen dafür sind, dass in der Ukraine Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Zu den Ursachen - das muss man doch begreifen! - gehört die verzweifelte soziale Lage vieler Menschen in der Ukraine, die sich nicht mehr ernähren können, die erfrieren und verhungern in diesem Land. Zu den Ursachen gehört auch, dass viele ihre Zukunft nicht mehr im eigenen Land gesehen haben, sondern darauf gehofft haben, dass sich ihnen in Europa Perspektiven eröffnen. Vielleicht sind sie auch betrogen worden, was die Realität in Europa angeht, was die ehrliche Bereitschaft angeht, der Ukraine einen vernünftigen Zugang zu Europa zu öffnen.

 

* * * * *

12. Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am Freitag, 31. Januar 2014

Vereinbarte Debatte zur Situation in der Ukraine

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es völlig in Ordnung, dass wir diese vereinbarte Debatte hier im Bundestag führen; sie ist notwendig und sie ist richtig.

Ich denke, dass wir uns darauf verständigen sollten - vielleicht lässt sich das nicht mit allen erreichen, aber doch mit einer Mehrheit -, in welchem Gestus wir diese Debatte führen wollen. Ich möchte nicht, dass in der schwierigen Situation, in der sich die Ukraine befindet - mein Kollege Thönnes hat es gesagt -, vom Deutschen Bundestag aus gezündelt wird,

(Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Quatsch! Es zündelt doch niemand!)

dass von hier Funken ausgehen, die die Situation mit zum Explodieren bringen können. Sich zurückhalten und ausgleichen, das ist das Gebot der Stunde; dieses Signal muss vom Bundestag in dieser Stunde ausgehen.

(Beifall bei der LINKEN - Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Botschaft nach Moskau! - Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Klare Worte wären schön!)

Ich halte überhaupt nichts von der Androhung oder Verhängung von Sanktionen. Das wird nichts lösen, sondern die Situation noch zuspitzen.

Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was eigentlich die Ursachen dafür sind, dass in der Ukraine Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Zu den Ursachen - das muss man doch begreifen! - gehört die verzweifelte soziale Lage vieler Menschen in der Ukraine, die sich nicht mehr ernähren können, die erfrieren und verhungern in diesem Land.

(Xaver Jung (CDU/CSU): 80 Jahre Sozialismus!)

Zu den Ursachen gehört auch, dass viele ihre Zukunft nicht mehr im eigenen Land gesehen haben, sondern darauf gehofft haben, dass sich ihnen in Europa Perspektiven eröffnen. Vielleicht sind sie auch betrogen worden,

(Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor allem von Janukowitsch sind sie betrogen worden!)

was die Realität in Europa angeht, was die ehrliche Bereitschaft angeht, der Ukraine einen vernünftigen Zugang zu Europa zu öffnen.

Vizepräsident Peter Hintze: Herr Kollege Gehrcke, der Kollege Sarrazin von den Grünen würde gerne eine Frage stellen.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ja, klar.

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Gehrcke, uns eint, um es einmal so zu sagen, ein Interesse an der Geschichte der Region. Ich habe Freunde in der Ukraine, bin regelmäßig auch privat dort und habe die ukrainisch-polnische Grenze schon mit allen möglichen Verkehrsmitteln überschritten. Ich habe auch Visaeinladungen für Freunde ausgeteilt und Ähnliches.

Daraus speist sich meine Frage: Glauben Sie nicht auch, dass eine Ursache für die jetzige Lage der tiefe Wunsch vieler Menschen in der Ukraine ist, zum europäischen Wertesystem zu gehören, an Europa teilhaben zu können und auch Zugang zu Europa zu erhalten, und dass diese Menschen Angst hatten, dass sie in einer historischen Situation sein könnten, in der sie die Chance, diese Ziele in Zukunft zu erreichen, ein für alle Mal verlieren könnten, wenn sie ihren Präsidenten jetzt nicht stoppen? Glauben Sie nicht auch, dass das ebenfalls eine Ursache ist, die vielleicht sogar tiefer reicht als die ebenfalls wichtige soziale Lage im Land?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Sie haben mir doch zugehört: Ich habe die prekäre soziale Lage genannt und die Verzweiflung, die daraus erwächst. Daraus resultiert der Wunsch gerade vieler junger Menschen, Zugang zu Europa zu erhalten, um das, was sie im eigenen Land nicht realisieren konnten, in anderen Teilen Europas zu realisieren.

Wenn wir etwas tun wollen - das sage ich hier ganz ernsthaft; das ist in etwa eine Nagelprobe -, dann lassen Sie uns sofort für die Visafreiheit für Menschen aus der Ukraine eintreten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen nicht drumherum reden und dürfen diese Menschen nicht wieder vertrösten. Ähnlich wie Sie, Herr Sarrazin, habe ich viele Freunde in der Ukraine. Ich war in verschiedenen Teilen der Ukraine unterwegs und habe sehr unterschiedliche Bilder vor Augen. Der Wunsch, ungehindert in andere, auch westeuropäische Länder reisen zu können, ist überall manifest. Warum fangen wir nicht damit an, ihnen das zu ermöglichen?

(Beifall bei der LINKEN)

Wäre es nicht eine große Geste des Deutschen Bundestages, die Beschränkungen zurückzunehmen, so dass die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine visafrei nach Deutschland kommen könnten? Das verstehe ich unter einer Politik des Nichtzündelns: auf die Menschen eingehen und über Werte diskutieren.

Bevor ich auf die Werte zu sprechen komme, komme ich auf die unterschiedlichen Motive der Demonstranten zurück. Die Menschen müssen das Recht haben, zu demonstrieren. Sie haben ein Recht auf Gewaltfreiheit und darauf, nicht eingesperrt zu werden. Ich will mir nicht den Spaß erlauben, darüber zu debattieren, was in Deutschland passieren würde, wenn hier Ministerien besetzt würden - ich träume manchmal davon, dass es passiert - und wie man hier reagieren würde.

Es muss mit gleichem Maß gemessen werden.

Ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen: Ich benutze nicht für alle Demonstranten den Begriff Freiheitskämpfer. Ein Teil der Demonstranten ist rechtsradikales, nationalistisches Pack, mit dem ich mich nicht verbünde, sondern gegen das ich dagegenhalte.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pack sagt man nicht, Herr Gehrcke!)

Das muss auch einmal zur Kenntnis genommen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass die jüdischen Gemeinden in Kiew einen empörenden und ängstlichen Brief geschrieben haben, dass sie sich am Holocaust-Gedenktag nicht mehr getraut haben, Veranstaltungen durchzuführen, weil sie unter Druck und Angst standen, das muss uns doch erschrecken.

(Beifall bei der LINKEN)

Uns müssen die Nazi-Feiern, die auch stattfinden, erschrecken. Wir müssen uns klar davon distanzieren und sagen, der Begriff „Demonstrant“ alleine sagt noch nicht aus, für was demonstriert wird. Wir wollen mit allen zusammenarbeiten, die gewaltfrei eine andere, eine bessere Ukraine wollen, die ein anderes Europa wollen. Ich will aber nicht mit Rechtsradikalen zusammenarbeiten. Das ist der Preis nicht wert. Das möchte ich hier ganz deutlich machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Peter Hintze: Herr Kollege Gehrcke, es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage von der Kollegin Beck.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Gerne.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Gehrcke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in westlichen Medien massive Propagandaaktivitäten des FSB gibt, durch die zum einen das Argument, der Majdan sei schon rechtsradikal unterwandert, immer stärker verbreitet wird, und durch die andererseits die Einsatzkräfte von Berkut mit der Information, dass der Majdan jüdisch unterwandert sei, derzeit heiß gemacht werden?

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Hören Sie mir bitte noch einen Moment zu. Mein Argument war, dass ich nicht möchte, dass wir alle, die mit einem Schild auftreten, Freiheitskämpfer nennen. Ich nenne Rechtsradikale, Rechtsextreme, Nazis und Faschisten nicht Freiheitskämpfer, sondern Gegner der Freiheit. Das muss doch gesagt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Man kann sich ein eigenes Bild machen von dem, was dort passiert, wie dort agiert wird. Das ist doch Realität. Wenn die jüdischen Gemeinden ihre Angst ausdrücken, müssen wir doch ihre Angst aufnehmen. Wir müssen zwischen den Demonstranten differenzieren. Wir müssen ganz klar sagen, mit wem wir zusammenarbeiten wollen und mit wem nicht. Das ist mein Anliegen. Das sollte der Bundestag berücksichtigen, wenn er klug ist.

(Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist ein Missbrauch der jüdischen Sache, der hier passiert!)

Eine letzte Bemerkung. Wir müssen auch einen anderen Umgang mit Russland finden. Ich möchte eine neue Ostpolitik der Bundesregierung, in der nicht mit Russland über die Ukraine verhandelt wird, sondern in der die Kooperation gesucht wird und gemeinsame Interessen vertreten werden. Wir werden nie gute, stabile europäische Lösungen erreichen, wenn sie immer gegen Russland gerichtet sind und wir die Ukrainer als Bollwerk gegen Russland einsetzen. Nur mit Russland zusammen wird eine Verbesserung der Situation möglich werden. Das ist mein Anliegen.

Herzlichen Dank für die Fragen, für die Kritik und dafür, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der LINKEN)