Fragen, Widerspruch, Protest - Gedenken im Deutschen Bundestag

10.09.2014
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Ich sitze im Plenum und höre den Reden zu. Bei mir ballen sich Fragen, Widersprüche und Protest gegen die Ausführungen. Einiges will ich artikulieren.

Keiner der beiden Redner äußert sich zu den Ursachen des Sieges des Faschismus in Deutschland. Dass Deutschland unter der faschistischen Herrschaft die Verantwortung für diesen Krieg trägt, ist unbestritten. Ich denke daran, dass sich der deutsche Militarismus und die deutsche Großindustrie in der Harzburger Front zusammenschlossen und Hitler an die Macht brachten. Warum sagt das keiner?

Ich denke daran, dass der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Freikorps, der Ungeist deutscher Großmachtpolitik den Weg geebnet haben, der mit Hitler und dem Nazi-Regime seine furchtbarste Ausprägung fand. Warum sagt das keiner?

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- Gedenkstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des 75. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieges am 10. September 2014 - gesprochen haben der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert, und der Staatspräsident der Republik Polen, Bronislaw Komorowski

Ich sitze im Plenum und höre den Reden zu. Bei mir ballen sich Fragen, Widersprüche und Protest gegen die Ausführungen. Einiges will ich artikulieren.

Keiner der beiden Redner äußert sich zu den Ursachen des Sieges des Faschismus in Deutschland. Dass Deutschland unter der faschistischen Herrschaft die Verantwortung für diesen Krieg trägt, ist unbestritten. Ich denke daran, dass sich der deutsche Militarismus und die deutsche Großindustrie in der Harzburger Front zusammenschlossen und Hitler an die Macht brachten. Warum sagt das keiner?

Ich denke daran, dass der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Freikorps, der Ungeist deutscher Großmachtpolitik den Weg geebnet haben, der mit Hitler und dem Nazi-Regime seine furchtbarste Ausprägung fand. Warum sagt das keiner?

Warum sagt keiner, dass der deutsche Faschismus von Anfang an auch auf einen Krieg mit der Sowjetunion orientierte? Der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, 6 Millionen wurden umgebracht. Und 27 Millionen ermordete Sowjetbürger? Warum spricht keiner darüber, dass dies ein besonderes Verhältnis zu Israel, zu Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit sich bringt?

Ich warte, ob das Stichwort Auschwitz fällt und vor allem, ob die Verantwortung der Deutschen Bank am Mord von KZ-Häftlingen, an der ‚Vernichtung durch Arbeit‘, die von der deutschen Industrie betrieben wurde, und der Lieferung von Giftgas aus der IG Farben angesprochen wird. Das ist nicht der Fall. Wer die Deutsche Bank nicht immer wieder für ihre Verantwortung am und im Faschismus benennt, muss sich fragen lassen, warum dies nicht geschieht.

Der von Deutschland ausgegangene faschistische Krieg hat weite Teile Europas in seinen Strudel gerissen. Wieso ist heute plötzlich die Sowjetunion der Haupttäter? Damit wir uns richtig verstehen: Der Hitler-Stalin-Pakt über die Teilung Polens war und ist schändlich. Das habe ich immer vertreten. Aber warum spricht man nicht auch davon, dass sowjetische und polnische Partisanen gegen den deutschen Faschismus zusammengearbeitet haben? Warum spielen deutsche und polnische Opfer in den KZ‘s und deren Kooperation keine Rolle? Ich denke an den Schwur von Buchenwald und ich denke an den großen Roman „Nackt unter Wölfen“ über die Rettung des jüdischen Kindes Stefan Jerzy Zweig.

In der Nachkriegspolitik denke ich an Willy Brandt und seinen Kniefall vor dem Ghettomahnmal in Warschau und ich denke an die Verträge von Moskau und Warschau und den Kampf um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als die auf Dauer gezogene deutsche Ostgrenze. Waren nicht weite Teile der CDU lange Jahre gegen diese Grenze? Haben nicht Vertriebenenverbände Front gemacht und immer wieder Polen bedroht? Gab und gibt es nicht einen deutschen Revanchismus, über den reden ist? Wäre nicht ein wenig mehr Demut vor den Opfern und vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte notwendig gewesen?

Über 60 Jahre hat es gedauert, dass die deutsche Industrie begann, Zwangsarbeiter zu entschädigen. Über 70 Jahre hat es gedauert, ehe im Auswärtigen Amt die Kommunistin Ilse Stöbe, die den deutschen Angriffstermin nach Moskau gemeldet hatte, auf die Ehrentafel für die Widerstandskämpfer im Auswärtigen Amt gesetzt wurde. 40 Jahre hatte es gedauert, ehe ein Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Niederlage bezeichnete, sondern als einen Tag der Befreiung würdigte. Ich sehne mich nach Demut, nach Einsicht und nicht nach Großmachtpolitik a la Gauck. Auch die Rede des ansonsten von mir sehr geschätzten Parlamentspräsidenten, Dr. Norbert Lammert, war weit unter seinem sonstigen Niveau. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Kauder griff die Reden von Lammert und Komorowski später im Plenum auf und bezeichnete sie als „historisch“. Auf welchem Niveau ist die deutsche Politik angekommen.

Der polnische Präsident warnt vor der „russischen Gefahr“. Sehr kurz spricht er über Zusammenarbeit und sehr lange über die Stärkung der NATO. Deutschland und Polen sollten, wenn es nach ihm geht, das ganze Drohinstrumentarium aktiv vorantreiben – schnelle Eingreiftruppen, spezielle Kooperationen im östlichen Bereich, Truppenstationierungen und vieles mehr. Sagt nicht aber gerade die deutsche Geschichte: Wir wollen keine Großmacht sein und werden. Frieden schafft man nicht mit Waffen, sondern Schwerter zu Pflugscharen gilt noch heute. Schwerter zu Pflugscharen galt übrigens auch für die Solidarnosz in Polen. Sollten nicht gerade Deutschland und Polen Russland die Hand reichen? Der polnische Präsident will eine Autobahn der Freiheit weit nach Osten bauen. Mein Magen krampft sich zusammen. Es war doch gerade die nationalistische und faschistische Propaganda, die mit dem Bau von Autobahnen Politik machte. Ich bin mir sicher, das will der polnische Präsident nicht, aber mir würden viele Bilder einfallen, um den Begriff Freiheit in Europa sinnlich zu machen. Ich denke an Picassos Friedenstaube, an Mahnwachen, die Internationale Friedensfahrt, an die Arbeit und die Treffen von Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern, an Treffen in den ehemaligen KZ’s. Ich denke an Buchenwald, Auschwitz, Treblinka. Dort begründete sich für mich das Nein zu Krieg und Faschismus. Und ich denke daran, dass im kommenden Jahr am 8. Mai der 70. Jahrestag der Befreiung ist. Mit keinem Satz wurde darauf aufmerksam gemacht.

Diese Gedenkstunde des Bundestages wühlt mich auf, eben zu fragen, Widerspruch und Protest anzumelden. Ich rede mit meinen Kollegen und Genossen darüber und stelle fest: Vielen geht es ähnlich. Sie ermuntern mich, meine Gedanken aufzuschreiben. Das habe ich jetzt getan.