Spaltungen überwinden - das war und bleibt die wichtigste Aufgabe

09.05.2014
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Auch ich denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen will, wo die Defizite liegen. Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entscheidende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland und mit dem europäischen Faschismus gebrochen worden ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war: Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der eigenen Geschichte ins Gericht geht.

Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus einige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu dem gehören müsste, was der Außenminister hier für unser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich: Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das möchte ich in der europäischen Entwicklung durchgesetzt sehen.

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34. Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am Freitag, 9. Mai 2014 - Rede in der Vereinbarten Debatte zu „10 Jahre Osterweiterung der EU“

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen will, wo die Defizite liegen.

Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entscheidende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland und mit dem europäischen Faschismus gebrochen worden ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war: Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der eigenen Geschichte ins Gericht geht.

Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus einige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu dem gehören müsste, was der Außenminister hier für unser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich: Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das möchte ich in der europäischen Entwicklung durchgesetzt sehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Europa überwinden, dann muss man eine andere Art und Weise der Zusammenarbeit erreichen.

Ich bitte sehr darum - das sage ich mit Blick auf die Kollegen der CDU-Fraktion -: Lassen Sie uns auch dem Ehrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigen Russland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiung erinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Sie sehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht es auch um die Symbolik.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmal gehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deutsche Volk vom Faschismus befreit haben. Das anzuerkennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millionen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen - auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnen und Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn man sich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einer Beurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, was heute so oft gesagt wird.
Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustiger vorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch ein großes Werk -, in dem er Stalin kritisiert, am Ende geschrieben:

... unerlässlich, der Millionen sowjetischer Soldaten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallen sind oder in der Gefangenschaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des mörderischen Nazismus gerettet.

Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole für diese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte, dass wir sie uns selber aneignen.

Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss man auch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zu überwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nach wie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je: in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespalten.

Im Verbund mit der Europäischen Union darüber sprachen Sie nicht, Herr Außenminister kam leider die NATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesen wäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO steht heute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spaltung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck von Spaltung.

Spaltungen müssen überwunden werden, in Europa und weltweit. Ich sage das sehr bewusst - auch das fehlte mir in Ihrer Rede -: Wenn man Spaltungen überwinden will, dann darf Europa keine Festung werden wollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegenüber öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträglich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile der Welt geriert.

Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einen solchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europa abbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ich möchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Europa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeerüberquerung auf sich nehmen zu müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umverteilung überwunden werden, und zwar von oben nach unten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischen den Regionen, und ich möchte, dass militärische Spaltungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu gehört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbündnisse zu überwinden.

(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie doch einmal einen positiven Satz!)

Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa. Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von Michael Gorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamen Haus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschow zu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zum gemeinsamen Haus Europa gesagt:

Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem West und Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten, sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenen Nutzen aus dem Austausch von Waren und Werten, Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, die es gelernt haben, trotz aller Unterschiede einander nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten.

Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Europa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russland und anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrachten?

(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie doch einmal noch etwas zur EU-Erweiterung, Herr Gehrcke! Sie reden die ganze Zeit über Russland!)

All das hat die Osterweiterung der Europäischen Union aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zu arbeiten.

Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hat die soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslos gemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen, dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten, wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Europa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäischen Verfassung wieder aufzunehmen,

(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegen die Sie gestimmt haben!)

die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifaschismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt und sich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert.

Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessen ist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge von Lissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwierigkeiten geändert werden können.
Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Europäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Kapitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Soziale Marktwirtschaft!)

Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vorbildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um das zur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sagen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetz statt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz eine grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls für Europa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Europa umgestaltet werden kann?

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wir haben doch eine Verfassung!)

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nicht den Eindruck, dass Deutschland europäischer, sondern dass Europa deutscher geworden ist.

(Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Polen findet sich in Ihrer Rede wieder, Herr Gehrcke! Polen wäre stolz auf diese Rede! Halten Sie diese Rede mal in Polen, im Baltikum! Meine Güte! Peinlich!)

- Regen Sie sich doch nicht so auf! Ich wünsche mir ein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt, die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrichtung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausforderung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)