"Gedenkt unser mit Nachsicht"

02.10.2014
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In diesem Jahr bewegt mich vor allen Dingen nicht nur, dass wir in Kriegszeiten leben – Krieg herrscht in der Ukraine, Krieg herrscht im Nahen Osten und in Afghanistan – und leider ist Deutschland an diesen Kriegen beteiligt. Und erneut gibt es eine Debatte über den Charakter der untergegangenen DDR. War die DDR nun ein Unrechtsstaat, wie es ein Teil meiner Partei glaubt und schreibt? Oder ist dieser Begriff falsch, wie ich überzeugt bin. Meine Genossinnen und Genossen, die den Begriff „Unrechtsstaat“ für die DDR benutzen, bitte ich, das Gedicht von Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“ zu lesen:

„Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unser mit Nachsicht.“

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„…die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein. (…) Gedenkt unser mit Nachsicht.“ (Bert Brecht)

 

Wolfgang Gehrcke zur alternativen Einheitsfeier des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden am 3. Oktober 2014

(es gilt das gesprochene Wort)

Ich gestehe, ich habe noch nie an einer der offiziellen Einheitsfeiern teilgenommen und tue es, wie Sie sehen, auch in diesem Jahr nicht. Mir war stets der deutsche Triumphalismus, der Gestus „Wir haben gesiegt“ zuwider. Aus diesem Grunde ist es mir auch leichter gefallen, Ihnen eine Zusage für Ihre alternative Veranstaltung zum 3. Oktober zu geben. Politik ist stets die Kunst der Alternative, ohne Alternativen keine Politik!

In diesem Jahr bewegt mich vor allen Dingen nicht nur, dass wir in Kriegszeiten leben – Krieg herrscht in der Ukraine, Krieg herrscht im Nahen Osten und in Afghanistan – und leider ist Deutschland an diesen Kriegen beteiligt. Und erneut gibt es eine Debatte über den Charakter der untergegangenen DDR. War die DDR nun ein Unrechtsstaat, wie es ein Teil meiner Partei glaubt und schreibt? Oder ist dieser Begriff falsch, wie ich überzeugt bin. Meine Genossinnen und Genossen, die den Begriff „Unrechtsstaat“ für die DDR benutzen, bitte ich, das Gedicht von Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“ zu lesen:

„Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unser mit Nachsicht.“

Völkerrechtlich gibt es den Begriff „Unrechtsstaat“ nicht. Es gibt die Charta der Vereinten Nationen, die für den Umgang von Staaten miteinander vorschreibt, auf Gewalt, selbst auf die Androhung von Gewalt zu verzichten. Und das unabhängig davon, wie man den jeweiligen Staat beurteilt. Die DDR war eine Antwort auf den Faschismus und eine Konsequenz daraus, dass die Rote Armee Europa und damit auch Deutschland vom Faschismus befreit hat. Befreiung oder Niederlage, das war zumindest in Deutschland West bis 1985 ein Streitpunkt. Dann hatte sich mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker durchgesetzt, dass die Antihitlerkoalition auch Deutschland befreit hat. 1945 war die Mehrheit der Menschen in Deutschland Ost und West davon überzeugt, dass jetzt die Zeit einer gemeinsamen, antifaschistischen Gesellschaft kommen würde. Sie haben sich leider geirrt. Statt einer antifaschistischen Gemeinsamkeit kamen die Spaltung Deutschlands, die Zuordnung zu sich feindlich gegenüber stehenden Militärbündnissen und der Kalte Krieg. Letztmalig gab es 1952 das Angebot der sowjetischen Führung, genauer gesagt von Josef Stalin, Wiedervereinigung für militärische Neutralität. Das hätte für den Osten den Verzicht auf den forcierten Aufbau des Sozialismus bedeutet und für den Westen den Verzicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO. Das österreichische Modell war auch für Deutschland denkbar. Das Stalin-Angebot wurde vom Westen, von Adenauer abgelehnt und beide Deutschlands gingen ihren von den Besatzungsmächten geprägten Weg. Der Weg der DDR entsprach im Großen und Ganzen dem Potsdamer Abkommen, während der DGB davon sprach, dass in Deutschland West die alten Besitz- und Machtverhältnisse wiederhergestellt wurden.

Über Unrecht soll nicht geschwiegen werden, sondern Unrecht muss man benennen, um es bekämpfen zu können. Es gab in der DDR Unrecht, Fehler und Verbrechen – keine Frage. Das Unrecht hat leider vielen Menschen den Glauben an den Sozialismus aus dem Herzen gerissen. Darüber nachzudenken, lohnt allemal. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen:

Mit großer Leidenschaft habe ich immer wieder Majakowski gelesen. Majakowski, der vor Stalin in den Freitod flüchtete. In einem seiner Gedichte schreibt er „Jetzt hast Du die Macht Prolet, Deine Faust schreibt das Gesetz …“. Ich habe diese Textzeilen immer mit Begeisterung zitiert, sage aber heute: ich will nicht, dass irgendeine Faust das Gesetz schreibt. Mein Engagement gilt einem rechtsstaatlichen Sozialismus, zu dem auch gehört, dass Gesetze zu Gunsten der großen Mehrheit der Bevölkerung gemacht werden. Ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kein Sozialismus. Die DDR war kein bürgerlich-demokratischer Rechtsstaat, sie wollte es auch nicht sein, ebenso wie ihre Besatzungsmacht nicht bürgerlich-demokratischer Rechtsstaatlichkeit entsprach. Aber war sie deshalb ein Unrechtsstaat? Nein.

Die DDR hat eines mit Konsequenz durchgesetzt, sie hat die Macht im Staate den Faschisten und ihren Nachfolgern entrissen. Sie hat die Mörder von Auschwitz verfolgt. Sie hat der IG Farben und der Deutschen Bank, die das Geschäft des Todes mit Auschwitz betrieben haben, keine neue Chance gegeben.

Die DDR hat sich an keinem Krieg und keiner Kriegsvorbereitung beteiligt, wenngleich ich nie ein Freund des „Preußischen“ in der Nationalen Volksarmee, des Glanz und Gloria des Militärs war und sein werde. Ich glaube, dass die Entscheidung Moskaus und der Warschauer-Pakt-Staaten 1968, in der CSSR militärisch zu intervenieren, falsch war, aber ein Krieg war es nicht. Warum muss man auch nach so vielen Jahren immer noch DDR-Geschichte auf „Stasi“ und „Unrechtsstaat“ reduzieren?

Ich gebe zu: Mein DDR-Bild, das auch mit einer Außenbetrachtung entstanden ist, war eben Bertolt Brecht, Elfriede Brühning, Walter Janka, Anna Seghers, waren die Dresdener Kunstausstellungen, war die antifaschistische Künstlerin Lea Grundig, war Ernst Busch und die Berliner Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Mein DDR-Bild waren auch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die nicht nur die Herrschaft der preußischen Junker gebrochen haben, sondern auch eine moderne Landwirtschaft des gemeinsamen Besitzes aufbauten. Das Recht auf Boden und Bodenreform ist heute eines der großen, globalen Probleme. Gewiss, nicht jede Enteignung ging ohne Gewalt von statten, aber historisch waren sie kein Unrecht. Leider ist es weder der DDR noch uns gelungen, ein ähnliches Besitzerverständnis bei kollektivem Eigentum an Produktionsmitteln zu entwickeln.

Für mich ist einer der großen Rückschritte nach der deutschen Vereinigung die Tatsache, dass von deutschem Boden wieder Krieg ausgegangen ist und dass die Bundeswehr an den Kriegen der Welt beteiligt ist. „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ war für mich die prägende Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Wir haben jetzt einen Präsidenten – ich schäme mich als Bürger dieses Landes dafür -, der mit den geschichtlichen Erfahrungen Schluss machen will. Für Joachim Gauck ebenso wie für die Kriegsministerin von der Leyen und den Außenminister Steinmeier ist es an der Zeit, dass Deutschland die militärische Zurückhaltung aufgibt und Weltpolitik macht. Das ist immer schief gegangen – für die Deutschen und für die Welt. Mit dieser, den Krieg als Mittel der Politik einplanenden Strategie muss endlich Schluss gemacht werden. Das werden Sie auf der offiziellen Einheitsfeier in Hannover nicht hören. Ich bin aber froh, dass dies eine der Botschaften Ihrer alternativen Einheitsfeier ist.

Sehen Sie, meine Generation ist davon ausgegangen, dass ihre Kinder und Enkel nicht unter der Gefahr eines Krieges aufwachsen werden. Wir wollten eine Friedensdividende einbringen und hofften mit der Vereinigung, dass nicht nur der Warschauer Vertrag sich auflöst, sondern auch die NATO verschwindet. Ich will Freundschaft mit Russland. Ich glaube, zusammen mit dem russischen Dichter Jewtuschenko, nicht, dass ‚die Russen Krieg wollen‘, auch nicht in der Ukraine, sondern dass Russland gute Beziehungen zu Deutschland und eine europäische Friedensordnung will. Deshalb muss Schluss gemacht werden mit Sanktionen und Beschimpfungen Russlands. Auch dafür bitte ich Sie, sich einzusetzen. Ist es nun Unrecht, sich für den Frieden und für Völkerfreundschaft einzusetzen? Ich denke Nein.

Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich nie ein Freund von Geheimdiensten war und das auch heute nicht bin. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat eine Akte von 10.000 Blatt über mich gesammelt. Ich darf sie nicht lesen, da dies angeblich die Sicherheit des Staates gefährden würde. Die Wichtigkeit schmeichelt meiner Eitelkeit, aber ist einfach Unsinn. Vieles, was ich über die Staatssicherheit gelesen habe und von Freundinnen und Freunden kenne, hat mich sehr bedrückt und traurig gemacht. Kann es sein, dass die Staatsmacht Sozialismus viele Menschen in die Arme derer getrieben hat, vor denen sie die Menschen bewahren wollte? Aber eines ist mir auch klar: Es muss Schluss gemacht werden mit der Stasi-Jagd und den Stasi-Jägern muss die Macht aus den Händen genommen werden. Ich hatte gehofft, dass das neue Deutschland Negatives aus den beiden deutschen Staaten überwindet und Positives zusammenfügt. Ich habe mich geirrt, leider. Für mich war und ist der Kapitalismus keine sinnvolle Alternative zum untergegangenen „Realsozialismus“. Kapitalismus ist tagtägliches Unrecht. Der Bezeichnung, dass der Kapitalismus ein gesellschaftliches Unrechtssystem sei, würde ich zurufen: Richtig! Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Unrechtssystem und er muss überwunden werden.