Ukraine in der Sackgasse

26.02.2016
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S.R.

Schon knapp zwei Jahre dauern die militärischen Konflikte in der Ostukraine. Ungezählt sind die von dort Geflohenen. Schätzungen nennen zwei bis zweieinhalb Millionen Geflüchtete. Mehr als 9.000 Kriegstote sind zu beklagen. Verheerende Zerstörungen in den Gebieten Donezk und Luhansk sowie fortgesetzte Feindseligkeiten machen das Leben der verbliebenen Einwohner sehr schwer.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko war zur „Münchner Sicherheitskonferenz“ (Februar 2016) gekommen. Er hielt eine Brandrede gegen Russland und den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Man hatte erwarten dürfen, dass Petro Poroschenko sich dazu äußert, welche Schritte die Ukraine unternehmen wird, damit die Realisierung von Minsk II vorankommt. Zur Zeit der „Sicherheitskonferenz“ jährte sich der Abschluss des Abkommens. Ausgehandelt wurde das Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine. Die Unterzeichner sind: die OSZE, der russische Botschafter in Kiew, der ehemalige ukrainische Präsident Kutschma sowie die Präsidenten der beiden ostukrainischen „Volksrepubliken“. Weil die beschlossenen 13 Maßnahmekomplexe zur Umsetzung von Minsk II im Jahr 2015 nur unzureichend oder nicht realisiert worden waren, wurde im Herbst vorigen Jahres die Laufzeit des Abkommens für das Jahr 2016 verlängert. In diesem Jahr hat Deutschland den Vorsitz der OSZE.

Als bisher wichtigste positive Wirkung von Minsk II wird von fast allen Beobachtern anerkannt, dass seit geraumer Zeit keine massiven Kriegshandlungen mit schweren Waffen stattfinden. Doch einen Stillstand aller Waffen gibt es bisher nicht. Kurzbeschreibungen der Lage lauten: „Krieg nicht beendet, aber beruhigt“, „Eingefrorener Krieg“ und „Kein Krieg, aber auch kein Frieden“.

Warum hielt der ukrainische Präsident in München eine Brandrede gegen Russland, statt über nächste Schritte zur Umsetzung der in Minsk II festgelegten Maßnahmen zu sprechen? Er wählte dieses Ausfallmanöver, weil sich die Ukraine in einer umfassenden Gesellschaftskrise befindet. Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging 2015 um über 10 Prozent zurück. Die Lebenshaltungskosten für die verarmte Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sind enorm gestiegen. Die Staatsfinanzen sind zerrüttet. Die Ukraine schrammt seit längerem am Staatsbankrott nur deshalb vorbei, weil sie Geld aus den USA, vom IWF, von Deutschland und jüngst auch von der Türkei erhielt. Im Dezember 2015 hätte die Ukraine an Russland einen Kredit über 3 Milliarden Dollar plus 75 Millionen Dollar zurückzahlen müssen. (Handelsblatt, 21.12.15, S. 13) Die ukrainische Regierung weigerte sich. Auch Kredite der mehrheitlich staatlichen russischen Sberbank will sie nicht zurückzahlen. Russland kündigte an, beim zuständigen Londoner Gericht eine Klage einzureichen. Ginge der Prozess für die Ukraine verloren, so das „Handelsblatt“, hätte die Ukraine „massive Probleme“. Ratingagenturen würden das Land für bankrott erklären, die Kreditbedingungen für Staat und Unternehmen würden sich verschlechtern und Märkte für ukrainische Waren verloren gehen. Der IWF hält seit einiger Zeit eine nächste Tranche von 1,7 Milliarden Dollar zurück, weil die Ukraine Bedingungen nicht erfüllte, die mit der Kreditgewährung verbunden worden waren. Die IWF-Chefin Christine Lagarde wird Mitte Februar mit den Worten zitiert: „Ich bin besorgt über die langsamen Fortschritte bei der Verbesserung der Regierungsführung und im Kampf gegen Korruption.“

Oligarchengruppen beherrschen weiterhin Wirtschaft und Politik. Die Korruption zersetzt den normalen bürgerlichen Alltag. Der ukrainische Ultranationalismus hat innen- wie außenpolitisch ein Klima der Feindschaft gegen andere Ethnien, insbesondere gegen Russen und Russland erzeugt. Die Kommunistische Partei der Ukraine wurde verboten. Ein geschichtsrevisionistischer Gesinnungsterror mit Androhung mehrjähriger Haftstrafen findet statt. Über das Land rollen Wellen der Zerstörung von „Symbolen“ aus der Geschichte der ukrainischen Sowjetrepublik.

Die allgemeine Krise in der Ukraine kulminiert zurzeit im Scheitern der Regierungskoalition. Anfang Februar trat der Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius zurück. Der ehemalige Investment-Banker klagte über den anhaltenden Widerstand gegen seine Privatisierungspläne. Mitte Februar verlor innerhalb weniger Tage die Regierung von Arseni Jazenjuk die parlamentarische Mehrheit. Bereits am Rande der „Münchner Sicherheitskonferenz“ hatte der „Berater“ von Poroschenko und Gouverneur von Odessa, Saakaschwili – eine ganz besondere Figur des „tiefen amerikanischen Staates“ in der Ukraine – in einem Reuters-Interview die Ablösung des Regierungschefs Jazenjuk gefordert. Doch der erste parlamentarische Paukenschlag, der den geschwundenen Rückhalt Jazenjuks verkündete, ertönte zu den ukrainischen Regional- und Kommunalwahlen im Oktober 2015. Die Partei von Jazenjuk trat nicht an. Es war vorher klar, dass eine Teilnahme für ihn und seine Partei ein niederschmetterndes Ergebnis gebracht hätte.

Ein kurzer Blick auf die Regional- und Kommunalwahlen zeigt weitere politische Umgruppierungen. Es sollten etwa 170.000 Abgeordnete der über 10.000 Gemeinderäte und 358 Bürgermeister gewählt werden. Außer Jazenjuks „Volksfront“ waren die anderen Kiewer Parlamentsparteien an den Wahlen beteiligt. Nicht mehr beteiligt waren die verbotene KP und die „Partei der Regionen“ (ehemalige Janukowitsch-Partei), deren Anhänger teilweise nun im „Oppositionsblock“, teilweise beim „Block Petro Poroschenko“ oder in regionalen Kleinstparteien wirkten. Insgesamt waren 142 Parteien zu den Wahlen zugelassen. Aus „Sicherheitsgründen“ fanden auf ukrainischer Regierungsseite in 91 Gemeinden des Gebiets Donezk und 31 Gemeinden des Gebiets Luhansk keine Wahlen statt. Die etwa 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge, also wahlberechtigte ukrainische Bürger, konnten nicht wählen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 46,6 Prozent und damit um 2,2 Prozentpunkte niedriger als bei den Wahlen 2010. In den westlichen Regionen Ternopil und Lwiw betrug die Wahlbeteiligung über 56 Prozent, in Wolhynien über 55 Prozent. Im Süden lag die Wahlbeteiligung um 20 Prozentpunkte niedriger: Cherson 37,41 Prozent, Mylolajiw 38,48 Prozent. Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung in den Gebieten Donezk mit 31,56 Prozent und Luhansk mit 35,27 Prozent.

Zusammengefasst einige politische Ergebnisse: Die Regierungskoalition in Kiew hat auf kommunaler Ebene keine stabile Mehrheit. Die Poroschenko-Partei erzielte in allen Landesteilen zweistellige Ergebnisse und konnte ihr Gewicht erhöhen. Zur besseren Übersichtlichkeit seien nur die Wahlen zu den Regionalparlamenten genommen: „Block Petro Poroschenko-Solidarität“ 381 Mandate (22,4 Prozent der Mandate); „Vaterland“ 258 (15,2%); „Oppositionsblock“ 201 (11,8%); „UKROP“ 140 (8,2%); „Radikale Partei von Oleh Ljaschko“ 126 (7,4%); „Freiheit“ 111 (6,5%); „Wiedergeburt“ 105 (6,2%); „Selbsthilfe“ 104 (6,1%); „Unsere Region“ 76 (4,5%); Andere 204 (12,0%). Ukraine Analysen Nr. 159, 12.11.2015)

Von den genannten Parteien gehörten der Block Poroschenko, Vaterland und Selbsthilfe zur Kiewer Koalition. Sie vereinigten auf sich 43,7 Prozent der Mandate in den Regionalparlamenten.

Nach den Parlamentswahlen im Oktober 2014 kam eine Regierungskoalition aus 5 Parteien zustande. Bereits im Herbst 2015 schied die „Radikale Partei Oleh Ljaschko“ aus der Regierung aus. Der Präsident Poroschenko hatte in Umsetzung von Punkt 11 des Minsk-II-Abkommens („Dezentralisierung“) den Entwurf für eine Verfassungsänderung ins Parlament eingebracht. Durch die Verfassungsänderung sollte ein besonderer Status für die Gebiete Donezk und Luhansk ermöglicht werden. Die „Radikale Partei“ lehnte das grundsätzlich ab. Es gab nicht nur heftige Tumulte im Parlament. Vor dem Parlament wurde geschossen, Faschisten töteten mehrere Polizisten. Der ersten Lesung folgte keine weitere, denn die Regierung hätte für die Verfassungsänderung nicht die notwendige parlamentarische Stimmenzahl bekommen.

Und nun, im Februar 2016, haben auch die Parteien „Vaterland“ von Julia Timoschenko und „Selbsthilfe“ die Regierungskoalition verlassen. Es verblieben nur noch die „Volksfront“ von Jazenjuk und der „Block Petro Poroschenko“. Die ukrainische Regierung ist ohne parlamentarische Mehrheit. Präsident Poroschenko hat Jazenjuk zum Rücktritt aufgefordert. Doch Jazenjuk, in seiner bekannten Verbissenheit, weigert sich zu gehen.

Ganz gleich welch neue Regierung installiert wird, zu einem Ausweg aus der gesamtgesellschaftlichen Krise gehören zwingend erstens die Realisierung des Minsk-II-Abkommens und zweitens die Beendigung des Wirtschaftskrieges gegen Russland. Sollte Minsk II nicht erfüllt werden, so bliebe Europa ein höchst gefährlicher Kriegsbrandherd. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland, der durch die Ukraine mittels Luftraumsperrung und Blockaden des LKW-Transport jüngst verschärft wurde – und prompt reagierte Russland seinerseits mit Blockaden – der Wirtschaftskrieg gegen Russland belastet die Wirtschaft vieler europäischer Länder sehr, darunter die der Ukraine und Russlands besonders stark. Unter diesen Bedingungen wird die Verelendung unter der ukrainischen Bevölkerung sich weiter ausbreiten. 

Als im November 2014 die Bundestagsabgeordneten der Partei „Die Linke“, Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko, von der katastrophalen Lage im Kinderkrankenhaus (mit Gynäkologie und Poliklinik) von Gorlowka erfuhren, starteten sie eine Spendenaktion für Medikamente, die in diese ostukrainische Stadt im Gebiet der „Volksrepublik Donezk“ gebracht werden sollten. Bis zum November 2015 kamen durch Einzel- und Sammelspenden insgesamt 130.000 Euro zusammen. Im November erfolgte durch beide Bundestagsabgeordnete die Übergabe der Medikamente an das Kinderkrankenhaus in Gorlowka (siehe Bericht von Christiane Reymann).

Für diese humanitäre Aktion wurde seitens der ukrainischen Regierung den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko die Durchreise nach Gorlowka verweigert. Das ist ein krasser Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Dieses Einreiseverbot verstößt auch gegen den EU-Ukraine-Assoziationsvertrag. Und unter Punkt 7 des Minsk-II-Abkommens heißt es: „Es ist auf Grundlage internationaler Mechanismen für sicheren Zugang, Lieferung, Lagerung und Verteilung humanitärer Hilfsgüter für Bedürftige zu sorgen.“ Es dürfte wohl die Pflicht der Bundesregierung sein, derartige Einreiseverbote für Bundestagsabgeordnete und humanitäre Zwecke nicht stillschweigend hinzunehmen.

Das Zündeln am militärischen Konflikt in der Ostukraine muss aufhören. Das Minsk-II-Abkommen zeigt den Ausweg aus der kriegerischen Konfrontation.