Und sie bewegt sich doch. Ein neuer Internationalismus ist nötig!

06.12.2012
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Wolfgang Gehrcke
Mitglied des Deutschen Bundestages
Mitglied des Parteivorstandes DIE LINKE.


(Thesen zum Klassenkampf im 21. Jahrhundert – Internationales Seminar anlässlich des 100. Gründungsjubiläums der Kommunistischen Partei Chiles)

Herzlichen Dank – mit aller Leidenschaft und Begeisterung – an die Kommunistinnen und Kommunisten Chiles! Dank für die politische und kulturelle Bereicherung, die von der chilenischen Arbeiterklasse in die Welt gegangen ist. Dank für den Opfermut und die Verteidigung der Menschlichkeit. Dank für die großen historischen Persönlichkeiten Pablo Neruda, Salvador Allende, Luis Corvalán, Gladys Marin und viele andere.


1.

Angesichts der Tiefe der Krise des Kapitalismus – ökonomisch, politisch und moralisch – gibt es weltweit eine Renaissance des marxistischen Denkens. Linke Parteien und Bewegungen brauchen Instrumente zur Analyse gesellschaftlicher Realität. Der Marxismus ist nicht erstarrt, seine Denkform ist kreativ und beweglich. Das Ende der Geschichte, von dem die „Marx-Töter“ träumten, ist nicht eingetreten. Die Widersprüche des Kapitalismus treiben die Welt in eine neue Entwicklungsrichtung. Eine andere Welt ist möglich – notwendig ist sie allemal.


2.

Notwendig ist eine gründliche Analyse des heutigen Kapitalismus. Einer unserer Irrtümer war, dass wir glaubten, der Kapitalismus wäre weltweit bereits vollständig herausgebildet. Das war und ist er nicht. Die kapitalistische Entwicklung ist räumlich und zeitlich immer mehr entgrenzt, immer weitere Bereiche haben Warencharakter erhalten (menschliche, tierische und pflanzliche Gene, Mutterschaften, Pflege und Gesundheit, Wasser und Abwasser). Gefragt ist ein zeitlich jederzeit und unbeschränkt verfügbarer Produzent. Ein Produzent ohne feste Bindungen und in diesem Sinne ein tatsächlich „doppelt-freier“ Lohnabhängiger. Der Kapitalismus ist in seine umfassende internationale Entwicklungsstufe eingetreten.


3.

Der Grundwiderspruch des Kapitalismus – gesellschaftliche Produktion und private Aneignung – drückt sich heute in neuen Erscheinungsformen aus. Die Zirkulationssphäre hat gegenüber der Produktionssphäre, die Realisierung des Mehrwertes gegenüber der Produktion des Mehrwertes an Bedeutung gewonnen. Extreme Ausbeutungsverhältnisse in verschiedensten Teilen der Welt schaffen die Bedingungen, mit dem niedrigen Preis von Waren siegreich aus der Konkurrenz hervorzugehen.


4.

Der Umschlag von Produktiv- in Destruktivkräfte von globaler Zerstörungsgewalt geht immer schneller vonstatten. Die globale Vernichtungsfähigkeit durch die Forcierung des Klimawandels, durch weltweite Rüstung und Kriege hat zugenommen. Der Kampf um Märkte und Naturressourcen birgt das Risiko der Vernichtung des Planeten in sich. „Sozialismus oder Barbarei“, diese Alternative, die einst Rosa Luxemburg formuliert hat, ist erschreckend lebendig.


5.

Wir erleben heute Kräfteverschiebungen auf der Ebene der industriellen und politischen Metropolen. Mit dem Zusammenbruch, der Implosion des europäischen Sozialismus brach gleichzeitig die Blockgespaltenheit der Welt zusammen. An die Stelle einer bipolaren Welt trat eine unipolare, die Weltherrschaft der USA. Eine neue Weltordnung deutet sich heute an. An die Stelle der unipolaren Welt tritt eine Welt verschiedenster Kräftekonstellationen: Volksmassen treten als Gestaltungsmächte in Erscheinung.


6.

Schlussfolgerungen

  • Klassenkämpfe gehen heute in eine neue Qualität internationaler Kooperation über. Jedoch: die Organisations- und Kooperationsformen der Linken, von Sozialisten und Kommunisten entsprechen nicht der heutigen Stufe der Kapitalentwicklung.
  • Die Produzenten von Waren und Werten sind heute in allen Teilen der Welt neuen, unterschiedlichen Ausbeutungsformen unterworfen. Die neue „Ungebundenheit“ ist eine Ungebundenheit der Angst. Die Propaganda des Individualismus und die Realität des Individuums haben – zumindest in Europa – organisierten Formen der Kollektivität, der kollektiven Gegenwehr schweren Schaden zugefügt.
  • Die Informationsaneignung und-verarbeitung haben sich weltweit grundlegend geändert. Kulturelle Veränderungen gehen politischen Veränderungen voraus. Es gibt eine neue Dialektik von Klassen- und Schichtenverhältnissen, von Bewegungsformen der Kämpfe, von Bündnissen zwischen Klassen und Schichten.
  • Für Alternativen zur uneingeschränkten Herrschaft des Kapitals muss der Grundsatz „Anders produzieren, konsumieren und verteilen“ in reale Politik umgesetzt werden. Marxistisches Denken sollte sich von der Einteilung in die Kategorien von Haupt- und Nebenwidersprüchen lösen, das heißt, Freiheit und soziale Sicherheit, ökologische Verantwortung und Gleichheit, Geschlechterverhältnisse und Demokratie müssen zusammengedacht werden. Ohne die Veränderung der Eigentumsverhältnisse ist weltweit keine Umgestaltung möglich.
  • Große und dominante Bereiche sind aus der privaten Sphäre herauszunehmen und in andere, vielfältige kollektive Eigentumsformen umzuwandeln: Grund und Boden, Wasser, Gesundheit, Bildung und Energie. Dezentralisierung statt Zentralisierung ist günstig für Demokratisierung. Spekulationen auf Lebensmittel sind zu verbieten. Banken sind auf ihre ursprünglichen Aufgaben zurückzuführen. Der Markt hat als Regulationsmittel versagt, über den Preis wird Demokratie nicht Raum greifen. Neue demokratische Formen der Regulation müssen weltweit zu völkerrechtlichen Normen werden.