Ça ira Nr. 176: Geschichtlich vergessen oder versessen? Der 9. Mai, Deutschland und die NATO (7.5.2019)

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Zwei Themen behandeln wir in diesem Ca Ira: Weiter unten Russlandhasser versus Putinversteher. Zur deutschen Russlandpolitik in den EU-Wahlprogrammen der Bundestagsparteien. Zuerst aber zum 9. Mai, in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion als „Tag des Sieges“ begangen, den die USA und die NATO zum Tag der Provokationen machen.

Geschichtlich vergessen oder versessen? Der 9. Mai, Deutschland und die NATO


von Christiane Reymann und Wolfgang Gehrcke

Der 9. Mai ist in Russland und in fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion der wichtigste staatliche Feiertag. Am „Tag des Sieges“ über den Hitlerfaschismus gedenken die Menschen ihrer Kriegstoten und sie feiern den Frieden, der unter so vielen Opfern errungen wurde. Anders die USA und die NATO. Für sie wird der 9. Mai tendenziell zum Tag der Provokation und Eskalation im ohnehin fragilen Vorkriegs-Frieden. Schon im Jahr 2002 bezeichnete am 9. Mai Nicolas Burns, US-Botschafter bei der NATO, Russland als potenzielles Ziel von Atomwaffen. Am 9. Mai 2015 nahm weder die Bundeskanzlerin noch ein anderes deutsches Regierungsmitglied an den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieges in Moskau teil, dafür eröffnete Kriegsministerin von der Leyen am Tag zuvor ganz offiziell und feierlich den „Ball des Heeres“ in Berlin. „Am 9. Mai dieses Jahres startet die NATO-Großübung zur Bündnisverteidigung“, titelte Spiegel online dieser Tage. Im Drehbuch der Kriegsstrategen wird Russland umschrieben als „aggressive Macht, die Kerneuropa attackiert und über Kernwaffen verfügt“. Diese greift, beginnend mit Cyberattacken, dann mit materiellem Kriegsgerät ein NATO-Land in Europa an. Sechs Tage lang werden die Regierungen der NATO-Staaten, der NATO-Rat und der militärische Apparat, so der Spiegel weiter, im Geheimen „alle Schritte eines Kriegsszenarios vollziehen... von der Erklärung des Bündnisfalls nach Artikel 5 bis zur Planung der militärischen Reaktion der Nato auf die Attacke.“

Diese ganze Übung ist eine einzige Provokation. Dazu gesellen sich seitens der Bundesregierung Geschichtsvergessenheit, Geschmacklosigkeit und eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieg, die einem den Atem verschlägt. Der Sieg über die faschistischen Angreifer hat den Völkern der Sowjetunion 27 Millionen Kriegstote und unzählbare an Leib und Seele Verwundete gekostet. Die große Mehrheit von ihnen waren Zivilisten, Alte, Frauen, Kinder. Auf der Seite des Angreifers starben 6,3 Millionen Deutsche, davon 5,2 Millionen Soldaten. Jeder einzelne Kriegstote ist einer zu viel. Die Zahlen zeigen aber, wie monströs und maßlos die regierungsoffizielle deutsche Politik die Geschichte umschreibt, wenn sie jetzt Russland zum Aggressor macht.

Die US-amerikanische Politik treibt aber noch weiter. Als ihr Sprachrohr fordert in einem auf Zeit online am 30. April 2019 erschienenen Gastbeitrag Elbridge Colby, Direktor des Verteidigungsprogramms am Center for a New American Security in Washington: „Deutschland muss mehr in die Verteidigung stecken... Nicht trotz seiner Vergangenheit, sondern gerade deswegen.“ In den letzten Jahren scheint es sich einzubürgern, jede neue Etappe deutscher Militarisierung als Sühne für Verbrechen des deutschen Faschismus darzustellen.

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Zum Weiterlesen auch die Ostermarschrede von Christiane Reymann in Düsseldorf zur Entspannungspolitik mit Russland

 

Russlandhasser contra Putinversteher


Deutsche Russlandpolitik in den EU-Wahlprogrammen

Die deutsche Russlandpolitik nimmt in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien zum EU-Parlament einen eigenen Platz ein. Das verwundert etwas, denn in allen Wahlprogrammen, das der LINKEN streckenweise eingeschlossen, wird der gleiche grundlegende Fehler gemacht, die EU mit Europa gleichzusetzen. Die nüchterne Feststellung, dass die EU nicht identisch mit Europa ist, hat sich offensichtlich noch nicht überall herumgesprochen. Auf diese Art und Weise werden Russlands, Belarus und weiterer Staaten aus einem politischen Nachdenken über Europa ausgegrenzt und das setzt sich Stück für Stück ins Alltagsbewusstsein fort als eine Art länderübergreifender Westeuropa-Nationalismus.

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